7. Mai 1991

Rede anlässlich des 42. Überseetags in Hamburg

 

In den vergangenen beiden Jahren hat der Freiheitswille der Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa die Teilung unseres Kontinents und damit auch Deutschlands friedlich überwunden. Was in diesen beiden Jahren geschehen ist und was nicht zuletzt die Menschen auf den Straßen und Plätzen der ehemaligen DDR erkämpft haben, ist die Erfüllung eines Traums. Gewiss hat daran auch die Anziehungskraft der Europäischen Gemeinschaft maßgeblichen Anteil.

[...] Damit wurde eine Vision Wirklichkeit, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes in der Präambel unserer Verfassung niedergeschrieben hatten. Als Auftrag des Grundgesetzes bleibt jetzt die Einigung Europas. Sie in den kommenden Jahren voranzutreiben, ist unser fester Wille.

I.

Im eigenen Land stehen wir heute vor beispiellosen Herausforderungen. Es sind Herausforderungen aus der deutschen Einheit. Ich habe die Einheit unseres Vaterlandes immer gewollt und habe leidenschaftlich dafür gearbeitet. Jetzt ist dieses große Ziel der staatlichen Einheit unseres Landes erreicht. Es ist völlig klar, dass dabei nun auch Probleme - zum Teil große Probleme - auftreten. Aber es sind Probleme in unserem vereinigten Land - Probleme, die ich immer wollte. [...]

In den neuen Bundesländern geht es jetzt um den zügigen Übergang auf unsere freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Dafür sind viele kleine Schritte in der Praxis erforderlich. An dieser in der Geschichte nie dagewesenen Gemeinschaftsaufgabe muss jeder mitwirken. Alle unsere Kräfte - Unternehmergeist und Leistungsbereitschaft, Bürgersinn und auch Opferbereitschaft sind gefordert. Die Bilanz von vierzig Jahren SED-Diktatur ist verheerend:

  • Jeder weiß inzwischen um den hemmungslosen Raubbau an Natur und Umwelt. Und trotzdem müssen wir beim Anblick von Details, etwa in den Chemiebetrieben oder an den Standorten der sowjetischen Streitkräfte erkennen, dass sich vieles in noch schlimmerem Zustand befindet, als wir vermutet hatten.
  • Jeder kennt den schlechten Zustand von Straßen und Telefonverbindungen, Häusern und Gebäuden.
  • Und viele mussten erfahren, wie Betriebe am Gängelband sozialistischer Bevormundung buchstäblich verkamen.

Was viele Menschen in der früheren DDR unter diesen beschwerlichen Umständen in ihrem persönlichen Umfeld geleistet haben, verlangt um so mehr Anerkennung und Respekt. Manches vorschnelle Urteil oder herablassende Wort aus den alten Bundesländern ist deshalb ganz und gar fehl am Platze. Sensibilität zu beweisen und praktische Solidarität zu üben, gehört gerade bei uns, die wir bereits während der vergangenen Jahrzehnte auf der Sonnenseite deutscher Geschichte gelebt haben, zu den wichtigsten Voraussetzungen, jetzt auch die innere Einheit unseres Landes zu erreichen.

Es wird uns gelingen, die ökonomischen Probleme in den neuen Bundesländern je nach Landschaft und Wirtschaftsstruktur innerhalb von drei, vier oder fünf Jahren zu lösen. Ob wir auch die innere Einheit unseres Volkes erreichen, ob wir im alltäglichen Miteinander zusammenfinden, hängt entscheidend davon ab, ob wir zur Menschlichkeit und zur Offenheit im gegenseitigen Umgang und Verständnis fähig sind. Staat und Politik können dies gewiss nicht allein leisten. Vielmehr kommt es auf die ebenso enge wie wirksame Zusammenarbeit von vielen an: von Treuhandanstalt, privaten Unternehmen und Arbeitnehmern, von Städten und Gemeinden, von Verbänden und Tarifpartnern.

Ich bin mir ganz sicher: Wenn jeder seinen Beitrag leistet, werden wir es gemeinsam schaffen! Wichtig ist, dass wir nicht nur Kosten und Lasten bedenken, sondern dass wir mit optimistischem Realismus immer auch die Chancen und Erträge vor Augen haben. Schon im vergangenen Jahr hatte die deutsche Einheit einen erheblichen Anteil an dem kräftigen Wachstum der Wirtschaft in den alten Bundesländern. Und in der gesamten Europäischen Gemeinschaft werden in diesem Jahr von der hohen Nachfrage aus Deutschland kräftige Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung erwartet. Das alles sind Erträge aus der deutschen Einheit.

Gerade auch in der Küstenregion liegen die Vorteile der wieder gewonnenen Einheit Deutschlands auf der Hand: Mit der Wiedervereinigung bieten sich Hamburg, Schleswig-Holstein und den übrigen Küstenländern neue Perspektiven. Sie rücken aus einer Randlage wieder in eine zentrale Position in Europa. Nicht zuletzt die lebendige Tradition der mittelalterlichen Hanse schafft ein Band zwischen den alten Hafen- und Handelsstädten an Nord- und Ostsee. Zusammengehörigkeitsgefühl und Verbundenheit haben ihre Basis im unmittelbaren Kontakt der Menschen.

Deshalb freut es mich besonders, dass hier im Saal auch der Oberbürgermeister von Rostock, die Bürgermeisterin von Wismar und der Bürgermeister von Stralsund sind. In einer besonders schwierigen aber auch chancenreichen Zeit tragen Sie als frei gewählte Oberhäupter Ihrer Städte politische Verantwortung. Jetzt kann wieder angeknüpft werden an traditionelle Handelsbeziehungen nach Westen wie auch nach Norden und nach Osten. Viele über Jahrhunderte gewachsene Verbindungen etwa nach Skandinavien können nun wieder selbstverständlich genutzt und zu einer ganz neuen Dimension ausgebaut werden.

Zugleich geht es darum, innerhalb der Küstenregion zu einer neuen und zukunftsträchtigen Arbeitsteilung zu finden. Das gilt besonders im Blick auf die Seehäfen Mecklenburg-Vorpommerns. Sie müssen sich gegenüber leistungsfähigen Wettbewerbern an Nord- und Ostsee behaupten. Mehr noch als die Häfen Mecklenburg-Vorpommerns befinden sich die dortigen Werften in einer schwierigen Phase des strukturellen Wandels. Sie haben mit den massiven Einbrüchen des Osthandels - insbesondere mit der Sowjetunion - zu kämpfen. Dies fuhrt dazu, dass selbst die Abwicklung bestehender Aufträge große Schwierigkeiten bereitet. Wir werden aber weiter darauf drängen, dass gegebene Auftragszusagen - so gut es irgend geht - auch eingehalten werden.

Als überzeugter Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft sehe ich jetzt, wie Vertreter der reinen Lehre durchs Land gehen und sagen: „Da könnt Ihr gar nichts machen." Ich will klar aussprechen: Es geht nicht darum, etwas zu erhalten, was nicht zu erhalten ist. Da muss viel Mut mitgebracht werden. Aber es geht darum, dass wir Situationen schaffen, die die Dinge erträglicher machen. Es ist kein Verrat an den Prinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung, wenn wir um der Menschen willen Übergangslösungen suchen.

In den Küstenstädten wie an vielen anderen Orten in den neuen Bundesländern sorgen sich nicht wenige Menschen um Arbeitsplatz und Einkommen. Mancher Lebenslauf wird von der Entwicklung durchkreuzt. Wenn jetzt Menschen mit 53 oder 54 Jahren vor einer völlig neuen Situation stehen und sich die Frage stellen, ob sie noch mal einen neuen Anfang schaffen, muss man versuchen, sich in ihre Situation hineinzuversetzen. Dann wird manche Sorge besser nachvollziehbar.

Aber ebenso ist auch manches Wort in den neuen Bundesländern unüberlegt und vorschnell. Mancher dort vergisst allzu leicht, dass der Wohlstand der „alten" Bundesrepublik auch erst in vierzig Jahren hart erarbeitet werden musste und nicht über Nacht erreicht wurde. Gleichwohl wissen aber viele Menschen in den neuen Bundesländern: Der wirtschaftliche Neubeginn ist unvermeidlich. Sie wissen genauso: Freiheit und Eigenverantwortung führen letztlich in eine bessere Zukunft, in eine Zukunft mit neuen Lebens- und Berufschancen.

Und jeder kann darauf vertrauen: Auf der jetzigen Durststrecke wird niemand allein gelassen. Soziale Sicherheit und die Solidarität der Gemeinschaft bieten jenen Schutz und Halt, die unverschuldet in Not geraten.

Es würde letztlich niemandem helfen, Arbeitsplätze in überbesetzten Betrieben künstlich zu erhalten. Jetzt geht es auch um eine Zukunft ohne den Selbstbetrug hoher verdeckter Arbeitslosigkeit. Um so wichtiger ist, dass jeder seinen Teil dazu beiträgt, die schwierige Übergangsphase so kurz wie möglich zu halten. Zu den vordringlichen Aufgaben für uns alle zählt in diesen Monaten, dafür Sorge zu tragen, dass jene jungen Leute, die jetzt eine Lehrstelle brauchen, unterkommen. Das ist in der gegenwärtigen Situation eine große Herausforderung. Aber ich bin sicher, dass wir mit einer gemeinsamen Anstrengung hier für die allermeisten jungen Menschen eine gute Lösung finden werden.

Besondere Verantwortung fällt den Tarifpartnern zu. Das haben sowohl Wirtschaftssachverständige als auch Institute in ihren neuen Gutachten mehr als deutlich unterstrichen. Die Aufgabe der Tarifpartner ist jetzt gewiss nicht einfach. Auf der einen Seite stehen die verständlichen Wünsche der Menschen, rasch die hohen Einkommen in den westlichen Bundesländern zu erreichen. Auf der anderen Seite gilt es, den ohnehin schon schwierigen Gesundungsprozess vieler Betriebe nicht durch immer rascher vorauseilende Lohnkosten zu verschärfen. Denn was nützen hohe Lohnsteigerungen, wenn sie am Ende zu mehr Arbeitslosigkeit und erneuter Abwanderung fuhren?

Erforderlich sind auch hier Geduld, Entschlossenheit zum gemeinsamen Handeln ebenso wie Eigeninitiative, die eigenen Möglichkeiten voll zu nutzen. Mit einer historisch einmaligen Leistung und nach vielen Diskussionen mit Betroffenen, mit Wirtschaft und Gewerkschaften, mit den Bundesländern und mit allen, die Verantwortung tragen, hat die Bundesregierung hierfür eine günstige Grundlage geschaffen: Seit Einführung der D-Mark bis Ende diesen Jahres stehen für den Neubeginn zwischen Elbe und Oder, Rügen und der Sächsischen Schweiz über 100 Mrd. DM zur Verfügung. Damit sind die finanziellen Voraussetzungen gegeben, dass vernünftige und aussichtsreiche Initiativen oder Investitionen in die Tat umgesetzt werden können. [...]

Förderprogramme und Unterstützung beim Aufbau neuer Strukturen kommen auch und gerade jenen zugute, die ihren Arbeitsplatz verloren haben und vor der beruflichen Neuorientierung stehen. Die Bundesregierung hat im Rahmen des „Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost" die Möglichkeiten zur Arbeitsbeschaffung noch einmal kräftig erweitert. Hinzu kommen umfangreiche Qualifizierungs- und Umschulungsprogramme. Jetzt liegt es bei den Trägern vor Ort, aber eben auch bei den Arbeitnehmern, Kurzarbeitern und Arbeitslosen selbst, die vielfältigen Angebote rasch zu nutzen. Es ist meine dringende Bitte, dass hier jeder - ob als Betroffener oder als Verantwortlicher in Wirtschaft und Politik - selbst die Initiative ergreift und seine Handlungsmöglichkeiten voll ausschöpft.

Zum einen geht es um Programme und Maßnahmen, die den Übergang zu neuen Strukturen, Arbeitsplätzen und Einkommensquellen fordern und die Menschen sozial absichern. Zum anderen geht es um gegenseitiges Verständnis, um Austausch und Hilfe, um Rat und Tat auf allen Seiten. Dafür werden jetzt überall in den neuen Bundesländern sogenannte Aufbaustäbe gebildet, die den Strukturwandel vor Ort durch Beratung und Koordinierung begleiten, anregen und beschleunigen.

Wenn jetzt alle verfügbaren Möglichkeiten entschlossen genutzt werden, können die neuen Bundesländer in einigen Jahren zu den modernsten und attraktivsten Standorten Europas zählen. Schon jetzt gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass der Strukturwandel in Unternehmen und Wirtschaft in Gang kommt. Seit Anfang 1990 sind rund 350 000 Betriebe neu entstanden. Diese hohe Zahl von Betriebsgründungen schafft ein solides mittelständisches Fundament. Gerade der Mittelstand ist ja von besonderer Bedeutung für die Dynamik und für Arbeitsplätze und Investitionen in einer modernen Volkswirtschaft.

Es gehört zu den schlimmen Vergehen der sozialistischen Machthaber, dass sie den Mittelstand nicht nur nicht gefördert, sondern dass sie ihn systematisch vernichtet haben. Um so erfreulicher sind die positiven Berichte, die jetzt aus den neuen Betrieben kommen. Eine neue Befragung von Existenzgründern zeigt: Sie schaffen bereits heute mehr Arbeitsplätze, als sie ursprünglich geplant hatten. Der Ifo-Konjunkturtest hat in diesen Tagen in den Betrieben der neuen Bundesländer erstmals eine Verbesserung der Erwartungen für die weitere Entwicklung ergeben. Dies gilt auch und gerade für die Bauwirtschaft.

Das sind deutliche Signale einer bevorstehenden Belebung, die wir gemeinsam verstärken müssen. Gerade hier in Hamburg am Sitz zahlreicher Handelshäuser und in der Heimat vieler Kaufleute will ich ein Beispiel nennen, wo mehr getan werden sollte.

In den neuen Bundesländern geht es nicht nur um Arbeitsmärkte. Es geht genauso darum, die dort hergestellten Waren und Produkte in die Sortimente des Handels und Großhandels aufzunehmen und sie hier wie im Ausland zu verkaufen. Ich darf Sie herzlich bitten, dafür die Möglichkeiten zu schaffen und dies auch als Chance für zusätzliche, dauerhaft lohnende Geschäfte zu sehen. Und ebenso fordere ich die Industrie auf, Bezüge aus den neuen Bundesländern als Vorprodukte bei ihren eigenen Einkäufen zu berücksichtigen.

Was wir jetzt dringend in den neuen Bundesländern brauchen, ist ein kräftiger Investitionsschub: Die Bundesregierung hat dafür wichtige Weichen gestellt. Die Förderbedingungen für jene, die sich selbständig machen, die investieren und modernisieren wollen, sind hervorragend. So gibt es für private Investitionen mit der Investitionszulage und mit Sonderabschreibungen besonders günstige Bedingungen. Insgesamt kommen unsere Maßnahmen einer Sofort-Abschreibung der privaten Investitionen gleich. Jeder inländische und ausländische Investor ist deshalb eingeladen, diese einmaligen Chancen rasch auszuschöpfen.

Mit großen Anstrengungen sind wir dabei, die öffentliche Infrastruktur zu verbessern. Allein für dieses Jahr sind öffentliche Investitionen von 50 Mrd. DM vorgesehen. Ein wesentlicher Teil davon steht für den Ausbau des Telefonnetzes bereit. Hier gibt es inzwischen für jedermann spürbare Fortschritte. So verlegt die Deutsche Bundespost allein 1991 über eine halbe Million Anschlüsse in den neuen Ländern. Die Zahl der Telefonleitungen zwischen West und Ost steigt von 1500 im Herbst 1989 auf 30000 bis Ende diesen Jahres. Nach eineinhalb Jahren werden wir eine Bilanz vorlegen, wie sie über Jahrzehnte hinweg beim Ausbau des Telefonnetzes in der damaligen DDR nicht erreicht wurde.

Hohe Priorität hat der Ausbau des Verkehrsnetzes. Niemand weiß so gut wie Sie hier in Hamburg um dessen zentrale Bedeutung. Als „Tor zur Welt" zeigt Hamburg in überzeugender Weise: Leistungsfähige Verkehrswege haben einen hohen Stellenwert für Binnenwirtschaft und Außenhandel. Wir wissen, in welch beklagenswertem Zustand viele Verkehrswege in den neuen Bundesländern noch sind. Dies wiegt um so schwerer, als Deutschland gerade in Ost-West-Richtung künftig das zentrale Transitland Europas sein wird.

Damit wir noch schneller zu Verbesserungen kommen, werden wir besonders dringliche Verkehrsprojekte mit speziellen Maßnahmegesetzen auf den Weg bringen. Das spart kostbare Zeit bei den sonst so langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren, Hamburg ist durch den Ausbau der Eisenbahnstrecke über Buchen nach Berlin in die „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" einbezogen, Die gesamte Küstenregion wird durch die Eisenbahnstrecke Lübeck-Stralsund und die Küstenautobahn bis zur polnischen Grenze entlastet. Damit schaffen wir leistungsfähige Verbindungen nach Ost- und Nordosteuropa.

Manche wollen uns in dieser schwierigen Zeit des Übergangs zu immer neuen Hilfen für private Investitionen drängen. Ich halte erneut dagegen: Die Förderbedingungen sind mehr als günstig. Wer rechtzeitig dabei sein will, darf nicht abwarten - er muss jetzt investieren! Karl Schiller hat hierzu treffend gesagt: "Wer sofort kommt, der hat die größten Vorteile. Das entspricht der Marktwirtschaft, die ja häufig Prämien für die rasch Entschlossenen bereithält."

„Prämien für rasche Entschlossenheit" - das ist eine gute Überschrift für unsere gesamten Fördermaßnahmen. Denn auf zügiges Handeln kommt es jetzt an. Damit Investitionen schnell durchgeführt werden können, ist vor allem der rasche Aufbau leistungsfähiger Verwaltungen und Gerichte wichtig. Dabei kommt gerade Städten und Gemeinden eine Schlüsselrolle zu. Ihre Arbeit ist entscheidend dafür, dass die beschlossenen Maßnahmen unverzüglich umgesetzt werden und breite Wirkung auf dem Arbeitsmarkt entfalten können. Die Bundesregierung hilft hier personell und finanziell. Doch ebenso gefordert sind Länder, Städte und Gemeinden in der bisherigen Bundesrepublik. Sie müssen mehr noch als bisher eigene Mitarbeiter zur Aufbauhilfe in den neuen Bundesländern ermuntern.

Hamburg hat bisher rund 150 Mitarbeiter für den Einsatz in den neuen Bundesländern freigestellt. Dies ist eine respektable, aber bei rund 110 000 Mitarbeitern hier im Stadtstaat sicher auch verkraftbare Zahl, die auch noch weiter gesteigert werden kann. Vor allem im kommunalen Bereich - etwa in den Grundbuchämtern - sind die Behörden in den neuen Bundesländern dringend auf weitere Fachkräfte aus den bisherigen Bundesländern angewiesen.

Nicht weniger groß ist die Verantwortung der Kommunen in den neuen Ländern als öffentliche Auftraggeber für die örtliche Wirtschaft. Städte und Gemeinden verfügen jetzt über zusätzliche Mittel von insgesamt 5 Mrd. DM aus dem „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost". Sie sollten insbesondere für die Modernisierung von Schulen, Krankenhäusern und Altenheimen genutzt werden. Ich appelliere nochmals an Städte und Gemeinden in den neuen Ländern, diese Möglichkeiten unverzüglich zu nutzen und kurzfristig Beschäftigung zu sichern.

II.

Heute sind wir mit einer gewaltigen Kraftanstrengung in der Lage, den Aufbau in den neuen Bundesländern zu leisten. Entscheidend bleibt, dass wir es auch gemeinsam wollen. Es ist ohne Zweifel ein Glücksfall für unser Land, dass wir die Herausforderung der deutschen Einheit jetzt und eben nicht in einer Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten wie Anfang der achtziger Jahre zu meistern haben.

Der Aufschwung in der bisherigen Bundesrepublik setzt sich im neunten Jahr fort. Viele sehen diese ungewöhnlich günstige Entwicklung inzwischen fast schon als selbstverständlich an. Das ist sie keineswegs. Vielmehr spiegeln sich in neun Jahren stabiler Aufwärtsentwicklung Fleiß der Arbeitnehmer, Wagemut von Unternehmen - und auch eine vernünftige Politik wider. [...]

Die Bundesrepublik gilt mehr denn je als eine der besten Adressen in der Welt. Die D-Mark genießt international hohes Ansehen. Und mit einem Lieferumfang von über 640 Mrd. DM waren wir im vergangenen Jahr erneut Exportland Nummer eins. Investitionen, Einkommen und Beschäftigung erreichen Rekordwerte. Am Arbeitsmarkt erleben wir in der bisherigen Bundesrepublik eine Dynamik wie zuvor nur in den fünfziger Jahren. Diese gute wirtschaftliche Verfassung erleichtert die notwendigen Strukturanpassungen in den neuen Ländern ganz außerordentlich.

Zugleich profitieren auch unsere Partner in Europa und darüber hinaus von der Auftragsflut aus der Bundesrepublik. Sie stützt deren Konjunktur und somit auch dort Beschäftigung und Einkommen. Hiermit verbunden ist ein deutlicher Abbau unserer bislang hohen außenwirtschaftlichen Überschüsse. Damit erfüllt sich eine im Ausland immer wieder erhobene Forderung. Dass diese Überschüsse jetzt kräftig sinken, ist gewiss kein Zeichen für nachlassende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Es ist vielmehr unvermeidliche Begleiterscheinung des wirtschaftlichen Aufholprozesses in den neuen Bundesländern. Im übrigen gehört es zu den bemerkenswerten Ungereimtheiten wirtschaftspolitischer Diskussion auf der internationalen Bühne, dass jetzt auch der Rückgang unserer hohen Überschüsse kritisiert wird. Nun wird das Fehlen der mit diesen Überschüssen verbundenen Kapitalexporte beklagt.

Kritiker sollten jedoch sehen: Selbst unsere durch die außergewöhnlichen Belastungen dieses Jahres vorübergehend erhöhte Staatsverschuldung wird weiterhin voll durch die hohe laufende Ersparnis in der Bundesrepublik gedeckt. Die deutsche Einheit ist ein Aktivposten für die Weltwirtschaft. Die deutsche Wirtschaft hat „die Rolle einer Lokomotive für die Weltkonjunktur übernommen", wie die fünf Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem jüngsten Gutachten feststellen.

Mein Wunsch ist und bleibt, dass unsere Partner und Freunde in der Welt verstärkt teilhaben an den Chancen, die der Aufbau in den neuen Bundesländern bietet. Solche Möglichkeiten gehen weit über die Lieferung von Gütern und Dienstleistungen hinaus. Die dynamische Entwicklung im Westen Europas und der enorme Nachholbedarf in der Mitte, im Südosten und im Osten eröffnen erhebliche neue Potentiale. Wer jetzt mit Weitblick und mit Wagemut in seinem Unternehmen die Weichen richtig stellt, verfügt über alle Chancen, daran selbst aktiv teilzuhaben.

III.

In der binnendeutschen Diskussion beschäftigen wir uns mitunter zu sehr mit den Fragen, Problemen und Herausforderungen im eigenen Land. Damit allein werden wir der geschichtlichen Situation aber nicht gerecht. Wir würden das Ziel der deutschen Einheit verfehlen, wenn wir nicht gleichzeitig fähig wären zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einigung Europas. Die fünf Jahre von der Öffnung der Berliner Mauer 1989 bis zur nächsten Wahl des Europäischen Parlaments 1994 sind nach meiner festen Überzeugung die entscheidende Phase für den weiteren Fortgang der europäischen Einigung.

In den vor uns liegenden Jahren müssen wir die notwendigen Verträge für die politische und wirtschaftliche Zukunft der Europäischen Gemeinschaft abschließen. Ihre Umsetzung benötigt - das fuge ich hinzu - dann sicher noch einige Jahre mehr. Manches von dem, was wir jetzt mit der Einigung Europas anstreben, war zu Anfang des Jahrhunderts schon einmal erreicht. Nach allem, was sich gerade auch von Deutschland aus an Unheil in Europa vollzogen und auseinanderentwickelt hat, haben wir jetzt die Möglichkeit und geschichtliche Chance, entscheidende Schritte zur Einheit Europas zu tun.

Auf diesem Weg zur Einheit Europas fällt der Europäischen Gemeinschaft eine zentrale Rolle zu. Sie muss sich auch weiterhin als Kern und Fundament der europäischen Einigung bewähren. Wir wollen gemeinsam mit Frankreich Motor Europas sein und bleiben. Mit dem europäischen Binnenmarkt und den Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Politische Union ist der weitere Weg der Gemeinschaft vorgezeichnet. [...]

Eine europäische Währung muss ebenso stabil sein wie unsere D-Mark. Wirkliche Fortschritte im Europa der Zwölf erfordern parallel zur Übertragung von Kompetenzen in Bereichen von Währung und Wirtschaft auf Gemeinschaftsorgane auch einen Ausbau der Politischen Union. Diese darf nicht hinter der Wirtschafts- und Währungsunion zurückbleiben. Das heißt insbesondere:

  • Die Rechte und Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments müssen gestärkt werden.
  • Und die Europäische Gemeinschaft muss eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln. Gerade die zurückliegenden Monate - die Unfähigkeit der Europäer, angesichts von Krise und Krieg am Golf mit einer Stimme zu sprechen - haben deutlich gemacht, wie wichtig Fortschritte auf diesem Gebiet sind.

Dabei werden auch künftig das transatlantische Bündnis und, was viel weiter geht, die transatlantische Bindung Europa-USA-Kanada tragende Säulen unserer Politik bleiben.

Bei alldem bleiben wir uns bewusst, dass die EG nicht das ganze Europa ist. Zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der EFTA besteht bereits eine bewährte Zusammenarbeit. In einigen Mitgliedstaaten der EFTA sind Überlegungen zum Beitritt in die Europäische Gemeinschaft weit vorangeschritten. Österreich hat bereits einen Beitrittsantrag gestellt. Weitere Länder werden - dessen bin ich sicher -demnächst folgen. [...] Mit den Ländern der EFTA wollen wir parallel zum Binnenmarkt der Gemeinschaft einen gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum bilden.

Eine intensivere Zusammenarbeit mit den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas wird sich in den kommenden Jahren ebenfalls entwickeln. Wir wollen die Reformen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa unterstützen. Denn wir verdanken nicht zuletzt manchem dieser Länder, dass wir die deutsche Einheit im vergangenen Jahr erreichen konnten. So schwierig die Probleme in unserem eigenen Land sind, wir dürfen auf gar keinen Fall die Solidarität verweigern, die gerade diese Länder uns bewiesen haben.

Ich will ein Land konkret nennen, Ungarn: Ohne die Haltung der ungarischen Regierung im Sommer 1989 bei der Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze wäre die deutsche Einheit so schnell nicht gekommen. Und wir haben das nicht vergessen. Mit Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei führt die Europäische Gemeinschaft Verhandlungen mit dem Ziel baldiger Assoziierungsabkommen.

Ich setze mich dafür ein, dass die EG diesen Staaten die Tür nicht verschließt, wenn und sobald diese die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllen. Auf Dauer kann unsere Perspektive nur heißen: Vereinigte Staaten von Europa. Dieses Ziel ist nicht in wenigen Jahren zu erreichen. Aber es ist Orientierungsmarke für unser Handeln.

Der Reformweg der Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas ist nicht einfach. Ihr Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft erfordert Mut, Geduld und eine hohe Bereitschaft zum Wandel in der Bevölkerung. Wer wüsste dies besser als wir Deutschen vor dem Hintergrund der Situation in den neuen Bundesländern. Keines der Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas findet auch nur annähernd so günstige Bedingungen für den Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft vor wie die Menschen in der ehemaligen DDR.

Unsere Hilfe für die Reformstaaten des Ostens - und ich betone, es geht um die Hilfe aller Länder des Westens - ist unerlässlich. Es geht hier um Investitionen in die Zukunft einer friedlicheren und stabileren Welt. Die wesentlichen Anstrengungen auf dem Weg zu Sozialer Marktwirtschaft und Demokratie müssen allerdings in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas selbst unternommen werden. Hilfe von außen kann den notwendigen Wandel im Inneren unterstützen, aber niemals ersetzen.

Das gilt auch und gerade für die Sowjetunion. Ihr wünschen wir auf dem schwierigen Weg aus der derzeitigen Situation Erfolg im Sinne der Politik der Perestroika von Präsident Gorbatschow. Ich setze darauf, dass er, ungeachtet aller Schwierigkeiten, wirklich auf diesem Weg bleibt, vielleicht mit Umwegen, um die Perestroika und die Öffnung seines Landes voranzubringen. Ich weiß nicht, ob es ihm gelingen wird. Ich weiß aber, dass diejenigen mit Sicherheit einen falschen Rat geben, die angesichts des gigantischen Veränderungsprozesses in der Sowjetunion raten, ungerührt zuzuschauen, was dort passiert.

Deswegen sind wir gut beraten - wir, die Europäer, und auch unsere amerikanischen Freunde -, wenn wir im Rahmen unserer Möglichkeiten Hilfe zur Selbsthilfe geben; so formuliere ich es bewusst. Es hat wenig Sinn, Dinge zu unterstützen, die offensichtlich ohne jede Aussicht auf Erfolg sind. Aber im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen wir diesen Weg. Auf dem Wirtschaftsgipfel in London wird dieses Thema einen zentralen Platz in den Gesprächen der dort versammelten Staats- und Regierungschefs einnehmen.

IV.

Unsere Verantwortung in der Welt reicht über Europa hinaus. Als eine der großen Welthandelsnationen und als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft treten wir nachhaltig für offenen und freien Welthandel ein. Der erfolgreiche Abschluss der GATT-Runde bleibt daher unser zentrales Ziel. Wir streben einen angemessenen Ausgleich der noch offenen Positionen in den laufenden GATT-Verhandlungen an, der auch beim Agrarhandel eine Perspektive für unsere Bauern bietet. Es gilt, den berechtigten Anliegen aller Beteiligten zu entsprechen und niemanden vor unzumutbare Entscheidungen zu stellen.

Offene Märkte und freier Welthandel liegen nicht nur im wohlverstandenen Eigeninteresse der großen Regionen des Welthandels -Europa, Südost-Asien und Nordamerika. Offene Grenzen bieten zugleich den Entwicklungsländern Gewähr für den Zugang zu den Märkten des Westens. Nur so können sie dringend benötigte Devisen für Investitionen erwirtschaften und den Aufbau von Wirtschafts- und Versorgungsunternehmen aus eigener Kraft leisten.

Dem Ausgleich zwischen Ost und West muss nun auch die Verständigung zwischen Nord und Süd folgen. Die Ereignisse im Osten Europas und die eigenen Erfahrungen der Dritten Welt fuhren jedem eindringlich vor Augen: Innerer und äußerer Frieden, Wachstum und Wohlstand sind nur zu erreichen, wenn die Regierungen eine sozial und ökologisch verantwortliche Politik verfolgen. Diese Politik muss den Aufbau demokratischer Strukturen und rechtsstaatlicher Strukturen fordern, die Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen am Entwicklungsprozess zulassen und die Menschenrechte achten.

Im gemeinsamen Interesse der Industrieländer liegt es, den Entwicklungsländern zu helfen, ohne sie zu bevormunden. Darum habe ich in meiner Regierungserklärung vom 30. Januar gesagt, dass wir „als vereintes Deutschland unsere Entwicklungshilfe auch in Zukunft steigern" werden.

Wir haben jetzt die Chance, inneren und äußeren Frieden zu sichern, Wachstum und Wohlstand zu vermehren, wenn wir gleichzeitig auch in der neuen Dimension Sozialer Marktwirtschaft - in der ökologischen Herausforderung - die richtigen Entscheidungen treffen, und wenn wir vor allem begreifen, dass diese ökologischen Herausforderungen längst nicht mehr Herausforderungen sind, die allein national gelöst werden können.

Hierzu gehört die drängende Frage nach der Zukunft und dem Schutz der Regenwälder. Ich werde jetzt wieder in London auf dem Weltwirtschaftsgipfel versuchen, dieses Thema der Zusammenarbeit mit Brasilien ein gutes Stück voranzubringen. Würden wirklich die Prognosen eintreten, dass in diesem Jahrzehnt die Regenwälder in Brasilien weitgehend vernichtet werden, würden wir bitter dafür zahlen, auch in unserer Klimazone. Deswegen muss es unser aller Interesse sein, dass jetzt etwas Entscheidendes auf diesem Gebiet geschieht. Solidarität heißt heute mehr denn je nicht nur Solidarität im nationalen Bereich, sondern es heißt auch immer Solidarität weltweit.

V.

Wir stehen im eigenen Land und auf unserem Kontinent vor Herausforderungen wie selten zuvor. Weltweit tragen wir gewachsene Verantwortung. Unsere Leistung und unser Einsatz sind in besonderer Weise gefordert. Es geht um eine Kraftanstrengung für eine bessere Zukunft. Selten waren die Perspektiven für dauerhaften Frieden, für Freiheit und Einheit in Europa besser als heute. Dafür lohnt es zu arbeiten. Wir leisten damit einen Beitrag, der über unser Land und über Europa hinausreicht, einen Beitrag für eine freie Welt und eine friedliche Zukunft für uns und unsere Kinder.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr.51 (14.Mai 1991).