7. September 1987

Ansprache des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Erich Honecker, bei einem Abendessen in der Redoute in Bonn-Bad Godesberg

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, werte Freunde und Genossen!

Ich danke Ihnen, Herr Bundeskanzler, für die Einladung in die Bundesrepublik Deutschland und für den freundschaftlichen Empfang. Die Gespräche, die wir begonnen haben, bestätigen den positiven Einfluß unserer unmittelbaren Kontakte auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, die nicht zufällig große internationale Beachtung findet. Angesichts der Lage der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland im Zentrum Europas und der Lehren der Geschichte reicht die Bedeutung ihres Verhältnisses weit über ihre Grenzen hinaus. Die Entwicklung unserer Beziehungen, der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, dessen sind wir uns bewußt, ist von den Realitäten dieser Welt gekennzeichnet, und sie bedeuten, daß Sozialismus und Kapitalismus sich ebensowenig vereinigen lassen wie Feuer und Wasser.

Bei alledem gehen wir davon aus, daß beiden deutschen Staaten, fest eingefügt in die mächtigsten Militärkoalitionen dieser Zeit, die Verpflichtung zukommt, besonders aktiv zu Frieden, Abrüstung und Entspannung beizutragen. Wir stimmen, trotz der Unterschiede in der Bewertung aktueller politischer Fragen, darin überein, daß es in einem nuklearen Krieg weder Sieger noch Besiegte geben würde. In unserer Gemeinsamen Erklärung vom 12. März 1985 haben wir festgestellt und jetzt erneut bekräftigt, daß alles getan werden muß, damit von deutschem Boden nie wieder Krieg, sondern stets nur Frieden ausgeht.

Die Deutsche Demokratische Republik wünscht nichts dringlicher als den Frieden. Frieden ist das höchste Gut der Menschheit. Im Zeitalter schrecklicher nuklearer Massenvernichtungswaffen darf niemand mit dem Gedanken spielen, die Weltprobleme, auch die der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus, mit militärischen Mitteln lösen zu wollen. Heute gibt es nichts Wichtigeres, als über alle Gegensätze von Weltanschauungen, Ideologien und politischen Zielen hinweg den Frieden zu bewahren. Weithin in der Welt hat die Erkenntnis an Boden gewonnen, daß zur friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher sozialer Ordnung keine vertretbare Alternative besteht. Die Lösung strittiger Fragen in den internationalen Beziehungen mit friedlichen Mitteln bleibt die Grundlage menschlichen Überlebens. Die Welt steht an einem Wendepunkt, was von allen, die politische Verantwortung tragen, neues Denken und Handeln verlangt. Ideologische und soziale Gegensätze dürfen nicht auf die zwischenstaatlichen Beziehungen übertragen und schon gar nicht mit militärischen Mitteln ausgetragen werden. Wir tun am meisten für die Menschen, wenn wir den Frieden sicherer machen und ihnen die Angst vor einem Krieg nehmen.

Angesichts der unverändert komplizierten internationalen Lage ist die Deutsche Demokratische Republik bestrebt, dazu beizutragen, daß Vernunft und guter Wille zu bestimmenden Faktoren der Weltpolitik werden, Kooperation an die Stelle von Konfrontation tritt und mehr Vertrauen in den internationalen Beziehungen geschaffen wird. Es geht um die Rückkehr auf den Weg der Entspannung, der in den siebziger Jahren zu guten Ergebnissen für die Staaten, für die Menschen geführt hat, nicht zuletzt für die beiden deutschen Staaten und ihre Bürger.

Alle, die den Frieden aufrichtig wollen, sind aufgerufen, entsprechend zu handeln. In diesem Sinne erstrebt die Deutsche Demokratische Republik eine breite Koalition der Vernunft und des Realismus und mißt dem politischen Dialog großen Wert bei. Er ist durch nichts zu ersetzen. Auch davon ließen wir uns leiten, als wir Ihrer Einladung, Herr Bundeskanzler, zum Besuch der Bundesrepublik Deutschland folgten.

Die Bewahrung des militärischen Gleichgewichts hat selbstverständlich weiterhin entscheidende Bedeutung für die Erhaltung des Friedens. Dabei sind wir keine Verfechter eines Gleichgewichtes des Schreckens und damit der Anhäufung immer neuer Vernichtungswaffen, im Gegenteil, wir wollen, daß das militärische Gleichgewicht auf immer niedrigerer Stufe gewahrt wird. Wir sind dafür, die These "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" zu verwirklichen. Deswegen setzen wir uns für die radikalste Abrüstung entsprechend dem Grundsatz der Gleichheit und der gleichen Sicherheit auf nuklearem wie auf konventionellem Gebiet ein, eine effektive Kontrolle selbstverständlich inbegriffen. Der Menschheit kann es nur zum Wohle gereichen, wenn das Wettrüsten auf der Erde beendet und nicht in den Weltraum ausgedehnt wird. Die Welt braucht Frieden auf Erden und keinen Krieg der Sterne, sondern Frieden der Sterne.

Gegenwärtig erweist sich das Abkommen über die Beseitigung aller Mittelstreckenraketen als die Schlüsselfrage, um einen ersten tatsächlichen Schritt zur Abrüstung, zur Reduzierung der Kernwaffen zu tun. Wir haben erneut mit Befriedigung Übereinstimmung hierin bei unseren heutigen Gesprächen festgestellt. In der Tat bietet ein solches Abkommen eine große Chance, die genutzt werden muß. Beide deutsche Staaten stehen in der Verantwortung, seinen Abschluß zu beschleunigen, ihn nicht zu verzögern. Die Sprengköpfe der Pershing I a dürfen unseres Erachtens kein Hindernis sein, zu einer Vereinbarung zu gelangen.

Überdies ist die Deutsche Demokratische Republik der Auffassung, daß regionale Lösungen, wie die Schaffung eines atomwaffenfreien Korridors oder einer chemiewaffenfreien Zone, weitergehende Regelungen erleichtern und begünstigen. Sie hält es für wichtig, daß in der Suche nach Übereinkünften zu einer substantiellen Verringerung und schließlichen Beseitigung der strategischen Rüstungen nicht nachgelassen wird und jegliche Waffenstationierung im Weltraum unterbleibt. Dafür ist auch die strikte Einhaltung des ABM-Vertrages sehr wesentlich.

In diesem Zusammenhang sehen wir auch das Gewicht der Wiener KSZE-Konferenz, die zugleich ein geeignetes Forum bietet, um mehr Vertrauen zu schaffen. Politische Vernunft und Erfahrungen führen zu dem Schluß, daß es keinen anderen Weg gibt als die Entwicklung friedlicher, stabiler politischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Staaten.

Dabei messen wir den humanitären Fragen und den Menschenrechten, die in ihrer Gesamtheit von politischen, zivilen, ökonomischen und sozialen Rechten in der Deutschen Demokratischen Republik im praktischen Leben ihre tägliche Verwirklichung finden, keine geringe Bedeutung bei.

Damit die internationale Lage gesundet, muß auch friedensgefährdenden Entwicklungen im Nahen Osten, im Süden Afrikas und in Mittelamerika Einhalt geboten werden. Dazu gehört, daß Einmischungen von außen unterbleiben, alle internationalen Streitfragen mit friedlichen Mitteln gelöst und Konfliktherde beseitigt werden.

Herr Bundeskanzler, meine sehr verehrten Damen und Herren, bilaterale Fragen haben in unseren Gesprächen natürlich keinen geringen Raum eingenommen. Wir hoffen und erwarten, daß sie die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland voranbringen werden. Die Deutsche Demokratische Republik hält an den bekannten Grundlagen einschließlich der Vertragspolitik mit der Bundesrepublik Deutschland fest. In diesem Sinne begrüße ich mit Genugtuung, daß im Verlauf meines Besuches eine Reihe von Vereinbarungen unterzeichnet und damit die vertraglichen Grundlagen der Beziehungen erweitert werden. Ohne Zweifel ist dies zugleich ein Beitrag, den beide Staaten zur Belebung des Entspannungsprozesses und zur Gesundung der internationalen Lage leisten können.

Entsprechend unserer Gemeinsamen Erklärung vom 12. März 1985 geht die Deutsche Demokratische Republik unverändert davon aus, daß die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen eine grundlegende Bedingung für den Frieden sind. Ausgangspunkt für eine konstruktive, nicht nur beiden Staaten nützliche Politik können nur die Realitäten sein, die Existenz von zwei voneinander unabhängigen souveränen deutschen Staaten mit unterschiedlicher sozialer Ordnung und Bündniszugehörigkeit. Ausgehend vom abgeschlossenen Vertragswerk wollen wir nichts unversucht lassen, um weitere Schritte in den Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zu tun, die den Interessen des Friedens, der Entspannung, einer gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit und damit der Menschheit dienen.

Meine verehrten Damen und Herren, werte Freunde und Genossen, ich bitte Sie, mit mir das Glas zu erheben und zu trinken auf eine gedeihliche Entwicklung der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, auf eine Zukunft in gesichertem Frieden, auf das Wohl und die Gesundheit des Herrn Bundeskanzlers, auf das Wohl aller hier Anwesenden.

 

Quelle: Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III, Band 5 (1987). Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Bonn 1988. S. 199-202.