7. September 1991

Rede anlässlich des Festakts zum 100-jährigen Bestehen des Bundesverbands der Selbständigen - Deutscher Gewerbeverband (BDS)

 

I.

Die Gründung des ersten Spitzenverbands der Gewerbevereine vor 100 Jahren hier in Köln fand in einer Zeit des raschen wirtschaftlichen und sozialen Wandels statt. Wenn man diese 100 Jahre einmal geistig durchmisst, kann man sehen, wie sehr sich Industrie, Handel und Wirtschaft in diesen Jahren verändert und entwickelt haben. [...] Als wichtiges Sprachrohr des Mittelstands haben sich die Gewerbevereine neben den Großorganisationen zu behaupten gewusst. Sie haben die Stimme erhoben, um die Gewerbefreiheit gegen alle Versuche zu verteidigen, Märkte abzuschotten und Wettbewerb auszuschalten. Wenn wir in diesen Tagen um den Erfolg einer GATT-Runde weltweit ringen, ist das im internationalen Maßstab das, was Sie vor 100 Jahren im nationalen Maßstab begonnen haben.

Eine soziale marktwirtschaftliche Ordnung in einer freiheitlichen Gesellschaft ist ohne den Mittelstand und ohne die Mittelschichten einer Gesellschaft nicht denkbar. Eine freiheitliche Gesellschaft braucht als Rückgrat des Ganzen den Mittelstand.

Wer das bisher nicht geglaubt hat, kann jetzt die entsetzliche Bilanz in den ehemals kommunistischen Ländern sehen - in der Sowjetunion, in den früheren Staaten des Warschauer Pakts, in der früheren DDR. Im Kommunismus wurde der Mittelstand als allererstes zerschlagen, weil Mittelstand, Eigentum und Freiheit unlösbar miteinander verbunden sind. Da ist dann nicht so wichtig, was zuerst beseitigt wird - erst die Freiheit und dann das Eigentum oder umgekehrt. Das Ergebnis ist gleichermaßen katastrophal, nämlich letztlich eine Art von Versklavung der Menschen.

Um die Reformstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa möglichst rasch in eine gute Zukunft zu fuhren, ist es daher wichtig, so schnell wie möglich neben dem Prinzip Freiheit auch das Prinzip Eigentum einzuführen.

Ich habe schon bei vielen Gelegenheiten gesagt, dass für mich der Mittelstand das Herz der Sozialen Marktwirtschaft ist. Wirtschaftlich ist dies unübersehbar: Zum Mittelstand gehören 99 Prozent der umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen. Zwei von drei Arbeitnehmern sind in kleinen und mittleren Betrieben beschäftigt. Vier von fünf Lehrlingen werden in mittelständischen Unternehmen ausgebildet.

Als wir Mitte der achtziger Jahre vor dem Problem standen, den geburtenstarken Jahrgängen im Berufsleben eine Chance zu geben, war es nicht zuletzt der Mittelstand, der geholfen hat. Wenn damals nicht mittelständische Unternehmungen und das Handwerk Ja zu meinem Ausbildungs-Appell gesagt hätten, hätten wir das Lehrstellen-Problem nicht lösen können. Ich war damals wie heute dagegen, mit dem Knüppel des Gesetzgebers zu drohen - etwa mit einer Ausbildungsabgabe. Jetzt zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die jungen Menschen in den neuen Bundesländern, die mit ihrer Schulausbildung fertig sind und den ersten Schritt in die Berufswelt tun, eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen finden werden. Dies ist wiederum eine große Leistung derer, die gerade jetzt anfangen, mittelständische Strukturen aufzubauen.

Ich messe die Bedeutung des Mittelstandes jedoch nicht nur an seinem großen Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlergehen unseres Landes. Mindestens genauso wichtig ist er für die Stabilität unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Freiheitliche Demokratie und die ihr gemäße Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung - die Soziale Marktwirtschaft - sind angewiesen auf Menschen,

  • die für sich und andere Verantwortung übernehmen,
  • die unabhängig und eigenständig entscheiden und handeln,
  • die sich persönlich einsetzen und neue Ideen entwickeln
  • und die nicht nur auf Rechte pochen, sondern ebenso sagen: Ich habe Pflichten.

Diese Eigenschaften kennzeichnen in ganz besonderer Weise den selbständigen Mittelstand. Die „Kultur der Selbständigkeit", wie sie gelegentlich treffend genannt wird, ist ein unverzichtbarer Grundstein unserer politischen und wirtschaftlichen Ordnung. Nicht zuletzt die systematische Unterdrückung dieser Kultur in den ehemals kommunistischen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas, wie auch der ehemaligen DDR, hat diese Regime zum Scheitern verurteilt.

Wir erleben, dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion, die KPdSU, verboten wird - nicht irgendwo, sondern in der Sowjetunion, in Moskau. Wir erleben dramatische Entwicklungen auf dem Weg zu Abrüstung und Entspannung. Wir wissen, dass die jetzt Lebenden nach menschlichem Ermessen in unseren Regionen keinen Krieg mehr erleben werden. Und das nach zwei entsetzlichen Kriegen in diesem Jahrhundert.

Nach der Entscheidung der Volksdeputierten vom 5. September, mit der das Ende der alten Sowjetunion besiegelt wurde, zeichnet sich eine neue Union gleichberechtigter Republiken ab - mit einem einheitlichen Wirtschafts- und Währungsgebiet. Wir hoffen auf eine freiheitliche Ordnung, auf eine föderale Ordnung. Wir hoffen auf Rechtsstaat und Demokratie. Davon haben nicht nur die Menschen dort, sondern wir alle den großen Nutzen.

Künftig können wir vieles von dem, was wir in den Jahrzehnten des Kalten Krieges für Rüstungsinvestitionen aufbringen mussten - zur Verteidigung war dies notwendig -, als friedliche Mittel im eigenen Land einsetzen und - dringend geboten - in der Hilfe für die Dritte Welt. Denn in dem Maße, in dem der Ost-West-Konflikt immer mehr verschwindet, rückt der Nord-Süd-Konflikt stärker in den Vordergrund - der Konflikt zwischen den reichen Industrienationen und den armen Ländern.

Deswegen sage ich auch bei all diesen Diskussionen hierzulande: Wir müssen unsere Probleme hier zu Hause lösen. Aber wir müssen gleichzeitig auch daran denken, dass unsere Probleme unlösbar werden, wenn wir nicht fähig sind zu internationaler Solidarität. Die Probleme anderer kommen dann zwangsweise und zwangsläufig auf uns. Deswegen ist es jetzt auch notwendig, dass wir die Völker der Sowjetunion, dass wir unsere Nachbarn in der CSFR, in Polen, in Ungarn, in den baltischen Ländern und all den Ländern, die sich jetzt im Aufbruch befinden, nicht allein lassen. Sie brauchen eben nicht nur Sympathie, sie brauchen konkrete Unterstützung, materiell im Rahmen unserer Möglichkeiten sowie auch sachverständigen Rat. [...]

Wir haben bereits viel getan. Die Bundesrepublik Deutschland ist bei all ihrer Wirtschaftskraft nicht in der Lage, die Probleme dieser Region und dieser Länder allein zu schultern. Wir brauchen eine breite internationale Solidarität. Dies ist eine Aufgabe der ganzen westlichen Welt.

II.

Dies gilt auch für die deutsche Einheit. Sie war für mich nie zunächst eine Frage der Ökonomie, sondern immer zuerst eine Frage der moralischen Pflicht der Deutschen untereinander. Wir wissen doch, dass die wenigsten von uns ein persönliches Verdienst, sondern das Glück hatten, 40 Jahre auf der Sonnenseite deutscher Geschichte leben zu können - in der Freiheit unserer Bundesrepublik. [...] Über 40 Jahre Teilung ist nicht nur eine Teilung im staatsrechtlichen Sinne gewesen, sondern in allen gesellschaftlichen Strukturen. [...]

Deswegen ist es jetzt wichtig, dass wir nicht nur die ökonomischsozialen Fragen lösen. Was länger braucht - und ich sage das mit Sorge -, ist, dass wir wieder das Miteinander der Menschen, Verständlichkeit, Mitmenschlichkeit erleben. Da müssen wir uns alle bewegen -wir, die das Glück hatten, in der Freiheit aufzuwachsen und leben zu dürfen, und unsere Landsleute in den neuen Bundesländern, die wissen müssen, dass es ein schwieriger Weg ist, der auch Opfer kostet und der nicht zuletzt im Ökonomischen mit gewaltigen Umstellungen verbunden ist. Es wäre keine schlechte Sache, wenn über die Deutschen der neunziger Jahre berichtet würde, sie bemühten sich um Menschlichkeit auch untereinander, um Verständnis und Toleranz. Es ist meine Bitte, wenn wir über die Einheit Deutschlands sprechen, dass dies nicht neben den ökonomischen Fragen vergessen wird.

Die Bundesregierung hat schon vor der Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion in Deutschland die große Bedeutung eines selbständigen Mittelstands für den marktwirtschaftlichen Neubeginn in der damaligen DDR hervorgehoben. Auch die frühzeitige Gründung des Bundesverbands der Selbständigen in der damaligen DDR im Januar 1990 hat dazu beigetragen, das Bewusstsein für eigenverantwortliches unternehmerisches Handeln zu wecken. Von Menschen mit Mut zur Selbständigkeit hängt die Zukunft unseres Landes ab. Deshalb ist es ein gutes Zeichen, dass von Anfang 1990 bis Juli 1991 rund 470000 Gewerbebetriebe neu angemeldet worden sind.

Besonders erfreulich ist der Aufschwung bei den freien Berufen: Vor dem Sturz der SED-Diktatur gab es gerade rund 2500 Freiberufler. Jetzt sind es schon über 35000, und die Zahl steigt ständig weiter. Unsere Fördermittel werden zunehmend stärker genutzt. So ist die Nachfrage nach Mitteln des Eigenkapitalhilfeprogramms im ersten Halbjahr 1991 um über 100 Prozent höher gewesen als im zweiten Halbjahr 1990. Allein in diesem Jahr sind bereits mehr als 25000 Zusagen mit einem Kreditvolumen von etwa 1,6 Mrd. DM erteilt worden.

Mit den geförderten Existenzgründungen sind rund 400000 neue Arbeitsplätze verbunden. Jeder sieht, dass die Gründungswelle läuft. Dass alle diese Gründungen erfolgreich sind, kann niemand erwarten. Aber wenn wir einmal in ein paar Jahren zurückblicken und einen Vergleich mit der Gründungswelle anstellen werden, die wir nach der Währungsreform hier im Westen hatten, werden die Zahlen in den neuen Bundesländern günstiger sein, weil die heutigen Existenzgründer natürlich in einem ganz anderen Umfang auch von den Erfahrungen aus den alten Bundesländern lernen können.

Herr Präsident, ich möchte Sie ausdrücklich ermutigen, viel Kraft und Zeit des Verbandes zugunsten der Menschen in den neuen Bundesländern zu investieren. Denn unsere Landsleute, die eine Existenz begründen, brauchen vor allem auch Hilfe, und das ist eben nicht nur materielle Hilfe, sondern Ermutigung. Was wir jetzt brauchen in den neuen Bundesländern ist etwas von jenem Pioniergeist, wie wir ihn in den alten Bundesländern nach 1948 erlebt haben.

Die Bundesregierung achtet bei all ihren Maßnahmen darauf, dass sie möglichst mittelstandsfreundlich umgesetzt werden. Dies gilt zum Beispiel für die Vergabe öffentlicher Aufträge. Anbieter aus den neuen Bundesländern - besonders kleine und mittlere Unternehmen - erhalten vorübergehend deutliche Vorteile gegenüber Anbietern aus den alten Bundesländern.

Mit ist bekannt, dass die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, mit denen wir zeitweilige Arbeitslosigkeit infolge des tiefgreifenden Strukturwandels überbrücken, im Mittelstand gelegentlich argwöhnisch betrachtet werden. Wir haben daher von Anfang an klargemacht: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dürfen privaten Betrieben keine Konkurrenz machen. Die von mir angeregten regionalen Aufbaustäbe sollen unter anderem dafür sorgen, dass Staat und Privatwirtschaft den Neuaufbau nicht gegeneinander, sondern miteinander voranbringen.

Entscheidend für einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung sind Privatisierungserfolge der Treuhandanstalt. Ich weiß, dass viele Mittelständler zunächst Schwierigkeiten hatten im Umgang mit der Treuhandanstalt. Aber ich kann Ihnen heute versichern: Die Treuhandanstalt unterstützt mit meiner vollen persönlichen Rückendeckung den Aufbau eines neuen Mittelstandes, und sie hat dabei zunehmend Erfolg. Mit ihrem Mittelstandskonzept hat sie den Privatisierungsprozess zugunsten des Aufbaus mittelständischer Strukturen erheblich verstärkt. Die Treuhandanstalt gliedert jetzt vermehrt privatisierungsfähige, zum Verkauf an mittelständische Investoren geeignete Betriebsteile aus ihren Unternehmen aus.

Eine wesentliche Bedingung für das Funktionieren der Sozialen Marktwirtschaft ist privates Eigentum. Darum haben wir nach sorgfältiger Abwägung an dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung für von der SED enteignete Grundstücke und Unternehmen festgehalten, es aber durch eine weitgehende Vorfahrtsregelung für Investitionen ergänzt.

Im Moment geht die Reprivatisierung noch schleppend voran. Wir arbeiten jedoch mit Hochdruck daran, die Ursachen für Verzögerungen rasch zu beseitigen. Ich lege großen Wert darauf, dass gerade auch die 1972 von der SED um ihr Eigentum gebrachten mittelständischen Unternehmer die Möglichkeit erhalten, ihre Betriebe wieder zu übernehmen und fortzuführen. Ich weiß aus vielen Gesprächen und Zuschriften, dass es zahlreiche engagierte Unternehmer gibt, die jetzt wieder an alte Familientraditionen anknüpfen möchten.

III.

Inzwischen mehren sich für jedermann erkennbar die Anzeichen dafür, dass die wirtschaftliche Wende zum Besseren in den neuen Bundesländern in Sicht ist. In einzelnen Bereichen geht es bereits aufwärts. Positive Meldungen kommen vor allem von den mittelständischen Betrieben der Bauwirtschaft, aber auch aus dem Dienstleistungsbereich und dem Handwerk. Wer den Menschen in den neuen Ländern jetzt den Mut nimmt, wer Zweckpessimismus betreibt, vergeht sich an der Zukunft unseres Vaterlandes, und das kann man gar nicht oft genug aussprechen.

Wie schnell dem sich abzeichnenden wirtschaftlichen Aufschwung auch am Arbeitsmarkt die Wende zum Besseren folgt, hängt nicht zuletzt von der Tarifpolitik ab. Heute ist die Verantwortung der Tarifparteien nicht geringer als in den Aufbaujahren der alten Bundesrepublik. Heute wie damals muss die Tarifpolitik in Ost und West ihren wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Produktion und Beschäftigung in den neuen Ländern bald wieder steigen. Dies ist zugleich die beste Grundlage für höhere Einkommen.

Mit großer Sorge sehe ich aber, wie sehr sich in weiten Bereichen der Lohnkostenanstieg von der Leistungsfähigkeit der Betriebe in den neuen Bundesländern entfernt. Die Gefahr für bestehende und neue Arbeitsplätze kann und darf niemand ignorieren. Es muss einerseits den berechtigten Erwartungen der Menschen auf höhere Einkommen entsprochen werden. Andererseits müssen die Tarifpartner einen Beitrag leisten für mehr Investitionen, damit möglichst viele Arbeitsplätze beibehalten werden und neue, rentable Arbeitsplätze rasch entstehen können. Ich bin sicher: Bei gutem Willen aller Beteiligten ist es möglich, gerade in dieser für Arbeitnehmer und Investoren in den neuen Bundesländern so zentralen Frage, mutige Zeichen für die Zukunft zu setzen.

IV.

Wir Deutschen haben nach dem Krieg schon einmal bewiesen, dass wir zu außerordentlichen Aufbauleistungen in der Lage sind. Dies wird uns auch in den neuen Bundesländern gelingen. Die OECD stellt dazu in ihrem neuesten Deutschlandbericht fest, ich zitiere, „dass die Bundesrepublik in einer bemerkenswert kurzen Zeitspanne ein beachtliches Volumen an finanziellen und menschlichen Ressourcen zur Unterstützung der wirtschaftlichen Integration der beiden Teile Deutschlands mobilisiert hat". Und sie fügt hinzu: „Dieser Prozess vollzog sich ohne Gefährdung für die gesamtwirtschaftliche Stabilität in Westdeutschland." Klar ist ebenso - auch das schreibt die OECD -, dass eine Neuverschuldung in der Höhe dieses Jahres selbst bei der derzeitigen außergewöhnlichen Aufgabe des Aufbaus in der ehemaligen DDR auf Dauer nicht akzeptabel ist. Dies kann ich nur unterstreichen!

Eine hohe Nettoneuverschuldung können wir jetzt nur verantworten, weil wir in den vorausgegangenen Jahren eine solide Haushaltsund Finanzpolitik durchgesetzt haben. Die Bundesregierung ist fest entschlossen, die innere Einheit unseres Landes rasch voranzubringen und zugleich die Neuverschuldung des Bundes wieder deutlich zurückzuführen. Mit dem Haushaltentwurf 1992 senken wir die Neuverschuldung des Bundes um 16 Mrd. DM. Bis 1995 wollen wir sie noch einmal halbieren. Ein wichtiger Schritt dazu ist der auch vom Mittelstand immer wieder geforderte Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen von mehr als 30 Mrd. DM in den nächsten drei Jahren. Mit diesen Einsparungen setzen wir den bereits zuvor begonnenen Subventionsabbau fort. Durch strikte Sparsamkeit begrenzen wir den Ausgabenanstieg des Bundes auf durchschnittlich weniger als 2,5 Prozent jährlich. Die Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts wird in den kommenden Jahren voraussichtlich doppelt so hoch sein. Schon dieser Vergleich zeigt, dass wir unserem Kurs solider Haushalts- und Finanzpolitik treu bleiben und damit die Stabilitätspolitik der Bundesbank unterstützen.

Doch die Anstrengungen des Bundes allein werden nicht genügen. Auch Länder und Gemeinden müssen ihrerseits mit strikter Ausgabendisziplin dazu beitragen, den Kapitalmarkt zu schonen und die Geldwertstabilität zu unterstützen. Die Bundesregierung misst der Preisstabilität auch künftig allergrößte Bedeutung bei. Ich nehme die Mahnungen der Bundesbank sehr ernst. Genau wie sie sehe ich den Preisanstieg in den letzten Monaten mit Sorge. Ich appelliere daher auch an alle Verantwortlichen in den Tarifparteien und in den Unternehmen, der Stabilität den gleichen hohen Rang beizumessen wie Bundesregierung und Bundesbank.

Ich wiederhole meine Zusage: Der Solidaritätszuschlag auf die Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer läuft - wie angekündigt -nach zwölf Monaten zum 30. Juni 1992 wieder aus. Mit Blick auf die großen finanziellen Herausforderungen der kommenden Jahre füge ich genauso deutlich hinzu: Im Rahmen der notwendigen europäischen Steuerharmonisierung für den Binnenmarkt werden wir den Regelsatz der Umsatzsteuer anheben. Im Kabinett haben wir letzten Monat beschlossen, den Mehrwertsteuersatz zum i. Januar 1993 um einen Prozent-Punkt auf 15 Prozent zu erhöhen. [...]

Damit wir auch weiterhin den Aufbau in den neuen Bundesländern so tatkräftig unterstützen können, muss der Standort Deutschland insgesamt attraktiv bleiben. Mit der Vollendung des europäischen Binnenmarktes in gut einem Jahr werden Investitionsentscheidungen noch stärker als bisher schon im internationalen Wettbewerb getroffen werden. Mich treibt die Frage um, ob wir wirklich genug tun - gedanklich, intellektuell und materiell - für morgen und übermorgen in einer sich wandelnden Welt. Das ist die eigentliche Frage des Standorts Deutschland.

Ich sage Ihnen voraus, dass wenige Jahre nach der Vollendung des europäischen Binnenmarktes Schweden und Österreich der EG beitreten werden. Wahrscheinlich werden Finnland und Norwegen folgen und danach die CSFR, Ungarn, vermutlich Polen und - ich hoffe - die baltischen Staaten. Dann gibt es mehr als 400 Millionen Einwohner in Europa. Wir werden in diesem Jahrzehnt nicht nur die Wirtschaftsund Währungsunion, sondern auch die Politische Union beginnen. Sie ist überfällig, denn in der Sicherheits- und Außenpolitik haben wir bisher keine einheitliche Willensbildung in Europa, weil uns die politischen Strukturen dafür in der Europäischen Gemeinschaft noch fehlen.

Jetzt geht es darum, dass wir unser Land auf diese Zukunft vorbereiten. Dazu gehört, dass die Unternehmer am 31. Dezember 1992 mit Vollendung des europäischen Binnenmarktes wissen müssen, wie ihre künftige steuerliche Belastung aussehen wird. Ich möchte bis Ende 1992 die Gesetzgebung abgeschlossen haben, damit der Unternehmer weiß, woran er ist - selbst wenn vieles erst 1994 oder 1995 umgesetzt werden kann. Zur Reform der Unternehmenssteuern wird es eine harte politische Auseinandersetzung werden, aber gehen Sie davon aus: Ich bin fest entschlossen, diese Auseinandersetzung zu führen.

Wir werden die Unternehmensteuerreform in enger Abstimmung mit den Ländern und insbesondere mit den Gemeinden durchführen. Leistungsfähige Kommunen liegen gerade auch im Interesse der kleinen und mittleren Betriebe, die meist tief in ihrer jeweiligen Heimatgemeinde verwurzelt sind. Der Erhalt unserer föderalen Vielfalt und die Stärkung der wirtschaftlichen Leistungskraft sind zwei Seiten einer Medaille, die wir bei der Unternehmensteuerreform berücksichtigen müssen.

Standortentscheidungen sind immer in die Zukunft gerichtet. Unternehmen investieren dort und schaffen dort Arbeitsplätze, wo sie die besten Chancen sehen. Nationale Grenzen spielen dabei kaum noch eine Rolle. Wenn wir das hohe Weltniveau unserer Wirtschaft auch künftig behaupten wollen, müssen wir uns mit den stärksten Wirtschaftsmächten der Welt messen - insbesondere mit den USA und Japan. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb mit den USA, Japan und anderen Wachstumsregionen in der Welt gut bestehen können. Aber ich meine, zu viele beschäftigen sich hierzulande zu sehr und zu lange mit den wirtschaftlichen Problemen von gestern statt mit den Herausforderungen von morgen.

An diesem 100. Geburtstag Ihres Verbandes, der etwas zu tun hat mit Freiheit, Eigentum, Selbstverantwortung und mit dem Erkennen von Chancen, mit einem Lebensgefühl „ich packe es!", „ich werde es schaffen!", wird noch einmal deutlich, dass der Kampf vor hundert Jahren um Gewerbefreiheit zur Sozialen Marktwirtschaft unserer Tage geführt hat und dass die Soziale Marktwirtschaft unserer Tage uns ein Maß an Freiheit, auch an Frieden, an sozialer Gerechtigkeit und persönlichem Glück beschert hat, das wir nie vorher erwarten konnten.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 99 (13. September 1991).