8. Dezember 1973

Verfassung und Nation

Rede vor der Katholischen Akademie München

 

Das Grundgesetz war ein Vierteljahrhundert lang die selbstverständliche Grundlage der Politik aller demokratischen Parteien. Nicht nur seine Geltung war zwischen allen bedeutsamen Kräften unseres Landes völlig unbestritten. Unbestritten war auch seine politische Richtigkeit und die moralische Gültigkeit der ihm zugrunde liegenden Werte.

Dies ist heute nicht mehr so, und wir haben Anlaß zu der Befürchtung, daß es in Zukunft noch weniger als heute so sein wird.

Dafür gibt es, soweit ich sehe, drei Gründe:

1. Auf der äußersten Linken, die auch schon in die SPD hineinreicht, haben sich sozialistische und totalitaristische Gruppierungen entwickelt. Sie gehen

- von einem ganz anderen Menschenbild und Weltbild aus als das Grundgesetz: nicht von der Überzeugung, daß menschliche Einsicht stets etwas Beschränktes ist, daß menschliches Erkennen und menschliches Handeln immer der Kontrolle und der Eingrenzung bedarf. Sie gehen vielmehr von der Vorstellung aus, es könne eine ein für allemal richtige Politik gefunden werden und diese müsse dann auch mit allen Mitteln und ohne jede Beschränkung durchgesetzt werden.

- Rechtsstaatliche Verfassungen wie das Grundgesetz sind für diese Ideologie konsequenterweise nicht Grundlage und Richtlinie politischen Handelns. Sie sind eine Schranke des gesellschaftlichen Fortschritts, die es im ungünstigeren Falle zu brechen, im günstigeren Falle zum Banner der eigenen Ideologie umzuwandeln gilt.

2. Diese Ideologien treffen in unserer Gesellschaft auf ein Gemisch von politischer Unkenntnis und weltfremdem Idealismus, das sich mehr und mehr als Nährboden für sie erweist. Es ist in den letzten Jahren zur Mode geworden, sich von der Verfassung kühl zu distanzieren, ja sie als den ideologischen Überbau eines spätkapitalistischen Systems zu denunzieren, was immer man sich darunter vorstellen mag.

3. Diese Entwicklung ist - ich gestehe: nicht ganz ohne unser Zutun oder besser: durch unser Schweigen - gerade in einer geschichtliche Phase eingetreten, in der es notwendig gewesen wäre, alle Kraft auf die Verankerung der Verfassung im Bewußtsein der heranwachsenden Generation zu konzentrieren. Diese Generation hat den Nullpunkt des Jahres 1945 und die darauf folgenden Jahre nicht mehr bewußt erlebt. Sie hat aber wahrscheinlich wie keine andere Generation in den ersten Lebensjahren bewußt darunter gelitten. Man kann von ihr nicht erwarten, daß sie den Staat des Grundgesetzes, den Wohlstand und die relative Sicherheit, die ihr dieser Staat garantiert, als etwas Nicht-Selbstverständliches erkennt.

Man kann von ihr nicht erwarten, daß sie Wohlstand und Sicherheit mit der Fortdauer dieses Staates und seiner Verfassung verbindet.

Es hätte an uns gelegen, sie mit allen redlichen Mitteln davon zu überzeugen, daß Wohlstand und Sicherheit durch eine Politik des „alles oder nichts" verspielt werden können, daß nur eine demokratische, rechtsstaatliche und sozialstaatliche Verfassungsordnung im Stande ist, die zutiefst ideologische Politik des „alles oder nichts" zu verhindern, und daß daher unser Grundgesetz mit seiner ausgewogenen Machtverteilung in Staat und Gesellschaft und vor allem mit seinem unüberbietbaren Grundrechtskatalog die modernste Verfassung ist, die sich eine hoch technisierte und hochdifferenzierte Gesellschaft wie die unsere überhaupt geben kann.

Die Folge dieses Versäumnisses ist: Wir müssen heute mehr tun, um unsere Verfassungsordnung zu sichern, als notwendig gewesen wäre, wenn wir das Problem von Anfang an gesehen und angepackt hätten. Wir können es nicht mehr im ungebrochenen Vertrauen auf die Solidarität aller Demokraten tun.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich behaupte nicht, daß die SPD als Ganzes oder auch nur die Mitglieder ihrer führenden Gremien nicht mehr auf dem Boden unserer Verfassung stehen. Aber es wird in dieser Partei - und, lassen Sie mich das hinzufügen, teilweise auch in der FDP - zu viel diskutiert und zu viel beschlossen, was an den Kern unserer Verfassungsordnung rührt. Es werden von Regierungen dieser Partei zu viele Rechtsbrüche hingenommen oder beschönigt, als daß wir von der CDU/CSU in dieser Frage ruhig sein könnten.

Verfassungstreue kann man nicht nur erklären. Die Solidarität der Demokraten zum Schutz der Verfassung kann man nicht nur beschwören. Man muß beides praktizieren!

Was nützt der schönste Abgrenzungsbeschluß, was nützen Serien von Abgrenzungsbeschlüssen, wenn dann in der politischen Praxis nicht endlich abgegrenzt wird?

Die CDU/CSU drängt sich wahrhaftig nicht danach, die Verfassungspartei in unserem Staat zu sein. Es wäre uns allen lieber, eine von mehreren Parteien zu sein, die sich eindeutig für das Grundgesetz aussprechen und sich ebenso eindeutig dafür einsetzen. Ich gebe die Hoffnung immer noch nicht auf, daß diese Selbstverständlichkeit der ersten 20 Jahre auch in Zukunft wieder Gültigkeit haben wird.

Aber ich füge ebenso unmißverständlich hinzu: Die CDU/CSU wird sich nicht scheuen, den Kampf um die Verfassung, um die Bewahrung des Grundgesetzes in seinem Kernbestand auch allein zu führen, wenn dies nötig sein sollte.

Was ist zu tun? Ich sehe für die CDU/CSU und für alle verfassungstreuen Kräfte in unserem Lande drei große Aufgaben - Aufgaben, die nicht nur von den staatlichen Organen erfüllt werden müssen:

1. Der Kampf gegen die Feinde der Verfassung muß entschieden, unnachgiebig und klug geführt werden.

2. Wir haben allen Versuchen entgegenzuwirken, die die Gebote unserer Verfassung im Fanale der sozialistischen Revolution uminterpretieren wollen.

3. Der politische Bildungsprozeß muß mit allen Kräften gefördert werden. Das Grundgesetz muß für unsere Bürger nicht deswegen gültig sein, weil es vor 25 Jahren von irgendwelchen Leuten in Kraft gesetzt worden ist. Es muß gültig sein, weil möglichst die letzte Frau und der letzte Mann in dieser Republik davon überzeugt ist, daß es die beste und modernste Verfassung unseres Volkes ist und daß es sich lohnt, unter ihm zu leben und zu arbeiten.

Wir werden den Kampf gegen die Feinde der Verfassung weiterführen und wir erwarten von der Bundesregierung und den Landesregierungen der SPD, daß sie dies mit Entschiedenheit tun.

Die Bestimmungen der Beamtengesetze sind in dieser Frage klar und unmißverständlich. Darüber hinaus haben sich der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten zweimal geeinigt. Wir werden daran festhalten.

Unsere Demokratie ist eine streitbare Demokratie. Sie muß eine streitbare Demokratie bleiben. Das außerordentliche Maß an Freiheit, das sie gewährt, hängt nicht zuletzt davon ab, daß der Staat und die Staatsdiener entschlossen für Rechtsstaat und Demokratie eintreten.

Tritt an dieser Selbstverständlichkeit nur der geringste Zweifel auf, so ist nicht irgendein papierener Grundsatz und nicht irgendeine Partei bedroht, sondern die Freiheit selbst als Prinzip dieses Staates und dieser Gesellschaft.

Aber ich habe auch gesagt: Der Kampf gegen die Feinde unserer Verfassung muß klug und mit Augenmaß geführt werden. Wir wollen kein Parteiverbot, so lange wir uns auf die bedingungslose Verfassungstreue unserer politischen Freunde in allen Parteien und auf die bedingungslose Verfassungstreue der Beamten und Angestellten, Richter und Soldaten verlassen können.

Wir wollen keine Hexenjagd und keine Gesinnungsschnüffelei. Jeder, der sich irgendwann einmal zur Feindschaft gegen unsere Verfassungsordnung hat verleiten lassen, muß auch die ehrliche Chance haben, zu ihr zurückzufinden.

Wir beobachten mit Sorge, daß in bestimmten politischen Gruppierungen und in der öffentlichen Diskussion Begriffe unseres Verfassungsrechts, die bisher eindeutig und völlig unumstritten waren, umgedeutet und oft genug in ihr Gegenteil verkehrt werden. Der Trick ist ebenso alt wie gefährlich: Ist über die Umdeutung in der Gesellschaft erst einmal Einmütigkeit erzielt, so pflanzt man den neuen Begriff in die Verfassung zurück. Dann kann man plötzlich beweisen, daß alles, was bisher war, eigentlich gegen die Verfassung verstieß und daß der Umsturz der eigentliche Verfassungsvollzug ist.

Ich nenne nur wenige Beispiele:

Unser Grundgesetz verankert den Grundsatz der Demokratie. Zwanzig Jahre lang sind wir uns darüber einig gewesen, was damit gemeint ist: nämlich die freiheitliche, parlamentarische Demokratie. In den letzten Jahren erleben wir aber, daß die Rätedemokratie, die sich selbst im Osten überlebt hat, plötzlich wieder als eine angeblich gleichwertige Spielart der Demokratie ausgegeben wird.

Die Folge ist klar: wer Rätedemokraten bekämpft, bekämpft in Wirklichkeit die besseren Demokraten und tritt damit angeblich selbst gegen das Grundgesetz an. Und dies, obwohl die Väter des Grundgesetzes aus bitterer geschichtlicher Erfahrung die freiheitliche, parlamentarische Demokratie und keine andere wollten.

Ein weiteres Beispiel: Das Grundgesetz bekennt sich aus gutem Grunde zum freiheitlichen Sozialstaat, d.h. zu der Idee, daß die notwendige Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit nicht revolutionär, sondern evolutionär unter Achtung der Grundrechte vor sich zu gehen hat.

Heute verkünden aber selbsternannte Propheten die zweifelhafte Wahrheit, daß die Grundrechte keinen anderen Sinn hätten, als die Privilegien der herrschenden Klasse zu schützen. Der Sozialstaat könne daher nur revolutionär herbeigeführt werden.

Niemand wird bezweifeln, daß unterschiedliches Vermögen und unterschiedliche Bildung auch zu Ungleichheiten im Gebrauch von Grundrechten führen können. Aber es ist einfach nicht wahr, daß das Grundgesetz die notwendigen Eingriffe in Grundrechte verhindert. Es ist deshalb auch nicht wahr, daß es beseitigt werden muß, damit es eigentlich erst vollzogen werden kann.

Es ist zutiefst bestürzend, wenn selbst aus dem Munde des Finanzministers öffentlich zu hören ist, daß die Soziale Marktwirtschaft eigentlich kein Gebot unserer Verfassung, sondern nur eine Formel der CDU-Politik sei.

Ein letztes Beispiel: Selbstverständlich garantiert das Grundgesetz die staatliche Schulhoheit. Es verpflichtet den Staat, die Chancengleichheit gerade im Bildungswesen zu verwirklichen. Aber wir sehen mit Besorgnis und wachsender Erbitterung, daß diese selbstverständlichen Grundsätze unserer Verfassung unter der Hand zu dem Gebot umgemünzt werden, das Leistungsprinzip hinter der Gleichheitsideologie zurücktreten zu lassen und die marxistische Indoktrination zur Maxime der Bildungspolitik zu erheben.

Wir halten daran fest, daß dies alles von der Verfassung nicht verlangt wird. Es muß sich vielmehr an der Verfassung und an den Entscheidungen der Verfassungsgerichte legitimieren.

Und schließlich der entscheidendste Punkt: Das Grundgesetz muß wieder selbstverständlicher und lebendiger Besitz unseres ganzen Volkes werden. Die Bürger dieses Landes müssen nach den Jahren der Kritik um jeden Preis wieder sicher sein können, daß es sich lohnt, unter dieser Verfassung zu leben, daß es sich lohnt, für sie einzutreten, daß es berechtigt ist, stolz auf sie zu sein.

Dies ist freilich eine Aufgabe, die wir von der CDU/CSU nicht allein erfüllen können, so sehr wir entschlossen sind, sie in den nächsten Jahren zu unserer zentralen Aufgabe zu machen. Ohne die Mitwirkung der anderen Parteien, des Bildungswesens und der Massenmedien werden wir vielleicht nicht auf verlorenem Posten stehen, aber doch immer nur bruchstückhafte Erfolge erzielen können.

Das bedeutet für uns und für viele in diesem Lande freilich auch, daß wir lernen müssen, vorsichtiger mit der Verfassung umzugehen, als dies bisher gelegentlich geschehen ist.

Ich nenne hier nur die verhängnisvolle Neigung vieler Deutscher - die CDU/CSU nicht ausgenommen -, alles, was ihnen nicht in den Kram paßt, sogleich für verfassungswidrig zu halten, und umgekehrt alles, was sie aus irgendwelchen Gründen wünschen und wollen, als Gebot der Verfassung auszugeben.

Wir alle werden uns in Zukunft immer wieder darauf überprüfen müssen, ob wir nicht im Einzelfall zu leicht geneigt sind, dort verfassungsrechtlich zu argumentieren, wo es notwendig wäre, politisch zu kämpfen.

Täuschen wir uns nicht: Die junge Generation, die es für diese Verfassung zu gewinnen gilt, wird es uns nicht mehr durchgehen lassen, daß wir mit der Verfassung argumentieren, ohne die Ideen und Wahrheiten zu nennen, die hinter den Artikeln des Grundgesetzes stehen.

Im Gespräch mit ihr können wir nicht mit dem Grundgesetz argumentieren, sondern wir müssen für das Grundgesetz argumentieren. Das ist die eigentliche Aufgabe, die uns heute gestellt ist, wenn wir vom Kampf um die Verfassung sprechen.

Wir stehen heute im dritten Jahrzehnt unserer Nachkriegsgeschichte. Nach wie vor ist Deutschland zweigeteilt. Beide Teile haben sich jedoch inzwischen als Staaten konsolidiert, nach innen wie nach außen. Sie sind in ihren jeweiligen Bündnissystemen anerkannte und gleichberechtigte Partner. Und sie sind dabei, nun auch das Verhältnis zueinander zu regeln.

In dieser Situation ist es nur natürlich, daß sich auf beiden Seiten das Bedürfnis regt, darüber nachzudenken, was die zwei deutschen Staaten noch miteinander verbindet, daß sich der Wunsch bemerkbar macht, sowohl das Erreichte als eine jeweils spezifisch nationale Leistung zu interpretieren, wie auch einen sinnvollen Bezug zur nationalen Geschichte bzw. zu einer nationalen Zukunftsperspektive herzustellen.

Die Schwierigkeiten, diesem Ziel näherzukommen, Antworten zu finden, die der Komplexität des Problems Nachkriegsdeutschland gerecht werden, liegen offen zutage. Sie bedingen sich sowohl aus unserer Geschichte wie auch aus der Gegenwart und erschweren jede deutsche nationale Identität.

Die Bürger unseres Landes sehen sich mit zahlreichen Herausforderungen von innen und außen konfrontiert, ohne eine befriedigende Deutung ihres Daseins zu besitzen. Die Symptome einer allgemeinen Orientierungskrise zeigen sich in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Mangelndes Identifikationsvermögen und mangelnde Identifikationsmöglichkeit der Bürger wird jedoch auf Dauer für jeden Staat zu einem schwierigen Problem.

Die Betonung des Übergangscharakters der Bundesrepublik bot die Möglichkeit, eine eindeutige Klärung ihres Selbstverständnisses zu vertagen bzw. der Nichterledigung preiszugeben. Die Bundesrepublik war in der schwierigen Lage, sich als Provisorium artikulieren und ständig über sich selbst hinausweisen zu müssen. Das auf diesen konkreten Staat bezogene Bewußtsein durfte sich nicht so verfestigen, daß es abschließenden und endgültigen Charakter annahm.

In dem Maße aber, in dem sich die politischen Verhältnisse in Europa, insbesondere im geteilten Deutschland, stabilisierten, verstärkte sich der Druck, diese Bereiche des Vorbehaltlichen, des Unverbindlichen zu reduzieren.

Gleichzeitig hat manches traditionelle Leitbild in der nationalen Frage seine selbstverständliche Verbindlichkeit verloren. Dies förderte jedoch die notwendige Sensibilität, um die zentralen Aspekte unseres Selbstverständnisses kritisch zu prüfen und verstärkt nach tragfähigen Bezugspunkten für die Loyalität der Bürger zu unserem Staat zu suchen.

Der Nationalsozialismus hatte eine Erschütterung des Selbstwertgefühls ausgelöst. Die Folge war eine Art Allergie, die sich gegen allzu ausgeprägte Bemühungen richtete, die Identität als Gemeinschaft zu finden. Die Europabegeisterung der Nachkriegsgeneration enthielt deshalb neben allem Idealismus auch ein Element der Flucht aus einer Identität, die mit den Taten des Dritten Reiches belastet war.

Diese und andere Faktoren haben dazu beigetragen, daß sich vom Denken in nationalen Kategorien weg eine Bereitschaft zum Denken in übernationalen Kategorien ausbreitete, ohne daß jedoch das nationale Ziel der Wiedervereinigung aufgegeben wurde. Die Spannungen, die sich daraus ergaben, waren unvermeidlich. Sie erhöhten die Unsicherheit über die Ziele unserer Politik. Sie zwangen uns zu Rechtfertigungen aller Art, nach innen und nach außen, ohne aber letzte Orientierungssicherheit vermitteln zu können.

Auch im Bemühen, unseren eigenen Beitrag zur Entspannung im Ost-West-Verhältnis zu leisten, weltpolitische Gemeinsamkeiten anzustreben, ist es uns bis heute nicht gelungen, die Konturen des eigenen Selbstverständnisses deutlicher hervortreten zu lassen.

Die jüngste deutschlandpolitische Entwicklung erfaßt zwar Grundsätzliches, ohne aber letztlich Klarheit im Grundsätzlichen zu vermitteln. Sie hat aber das Bewußtsein für die Notwendigkeit geschärft, Strukturen und Bezüge der bundesrepublikanischen Identität freizulegen oder neu zu schaffen.

Die Frage nach der deutschen Nation ist also keine bloß theoretische. Ihre Beantwortung hat vielmehr wichtige politische Auswirkungen, die sowohl das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als auch deren Verhältnis zur Umwelt, insbesondere zur DDR, bestimmen.

Es gilt deshalb zu klären, was der Nationsbegriff in bezug auf ganz Deutschland meint und welche Bedeutung ihm im Rahmen unserer Politik zukommt.

Jede politische Ordnung benötigt zu ihrer Selbstdarstellung ein Koordinatensystem von Begriffen, Prinzipien und Konzepten. Der Begriff der Nation nimmt darin einen wichtigen Platz ein. Gerade er verweist auf Bezüge zu Erfahrung und Deutung früherer Situationen.

Sie sind als Hilfsmittel unerläßlich, wenn der Standort in der Gegenwart bestimmt werden muß, wenn der Blick für Veränderungen wie für Konstanten geschärft werden soll. Da sich Begriffe nicht nur wandeln, sondern auch abnutzen, sind wir immer wieder neu angehalten, Übereinstimmung zu erzielen.

Der entscheidende Faktor der Nation ist der Wille. Ein sozialer Verband wird dadurch zur Nation, daß er Nation sein will. Nationalbewußtsein gründet sich nicht nur darauf, daß etwas füreinander empfunden wird, sich fortbildet und daß man etwas gemeinsam will.

Das Bewußtsein gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Herkunft findet in dem Verlangen nach gemeinsamem politischen Handeln seinen spezifischen Ausdruck.

Verschiedene Nationalitäten können sich in einem Staat zusammenfinden. Eine Nation kann aber auch in mehrere Staaten zerfallen. Die jeweils geformte politische Ordnung bewirkt neue Gemeinschaftsbezüge. Deshalb ist die staatliche Leistung für den nationalen Zusammenhalt unverzichtbar.

Seit der Französischen Revolution ist der Begriff der Nation vom Begriff des Staates nicht zu trennen. Diese Identität von Nation und Staat ergibt sich aus der Selbstverwirklichung eines Volkes als Nation durch politische Selbstbestimmung im Rahmen eines souveränen Staates.

Die seit der Gründung des Bismarckreiches vor hundert Jahren erfahrene Identität von Nation und Staat fand mit der Teilung Deutschlands und dem zweiten Weltkrieg ihr abruptes Ende. Der Ost-West-Gegensatz führte zur Teilung Deutschlands. Zwei deutsche Staaten entstanden.

Die Versuchung liegt nahe, aus dieser Entwicklung, aber auch als Alternative zum kollektiven Wahn des ideologisierten Nationalismus im Dritten Reich die Konsequenz zu ziehen, die Nation preiszugeben.

Das Nationalbewußtsein ist aber nicht ein beliebiger Wert, den man akzeptieren kann oder auch nicht. Solange sich die Deutschen gegenüber anderen Nationen als Deutsche verstehen, ist ihre Nation eine faktische Gegebenheit.

Die Menschen, die in beiden Teilstaaten leben, gehören unstreitig zum deutschen Volk, auch wenn sie als Deutsche in verschiedenartigen Gesellschaftsordnungen leben. Sie sind nach wie vor deutscher Nationalität, auch wenn die Gemeinsamkeiten, die ein Volk als Einheit verbinden, durch die Trennung stark geschwächt werden.

Dieser Erosionsprozeß ist aber nicht so weit fortgeschritten, daß die These von einem deutschen Volk, einer deutschen Nation, bereits wirksam entkräftet wäre. Es kann auch nicht die Rede davon sein, daß dieser Prozeß unaufhaltsam sei.

Voraussetzung ist jedoch, daß der Wille zur Einheit der Nation ständig aktualisiert wird. Dazu gehört nach unserem Verständnis, nach dem Verständnis des Grundgesetzes, die staatliche Einheit, die Wiederherstellung der Identität von Nation und Staat.

Die Festlegung der Bundesrepublik Deutschland als Provisorium wie die Nichtanerkennung der DDR sollte nicht nur unserem Anspruch als Sachverwalter einer künftigen gesamtdeutschen Staatlichkeit gerecht werden. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland war zugleich Ausdruck unseres klaren Bekenntnisses zum Primat der Freiheit und des Rechts als Fundament der weiteren Entwicklung auch und gerade in bezug auf die nationalstaatliche Einheit.

Die politisch-moralische Pflicht der Bundesrepublik, Freiheit - auch die unserer westlichen Nachbarn - schützen zu helfen und zu garantieren, daß es auch für einen künftigen gesamtdeutschen Staat keinen anderen Weg gebe, bildete den Mittelpunkt unseres Selbstverständnisses.

Unsere Legitimation für die Verpflichtung, Freiheit für alle Deutschen zu fordern, gründet nach wie vor in dem Bewußtsein von der Einheit der Nation. In diesem Sinne sind unsere Staats- und Nationalbewußtsein identisch, weil sich der Wille zur nationalen Einheit mit dem Willen zu einer ganz bestimmten staatlichen Form, eben der freiheitlichen im Gegensatz zur unfreiheitlichen, verband.

Entsprechend der historischen Entwicklung der angelsächsischen Länder sind die Werte unseres Nationalbewußtseins mit den demokratischen Grundwerten auf das engste verbunden. Adenauers historisches Verdienst war es, durch seine Politik der Integration in die westliche Allianz das deutsche Nationalbewußtsein auf eine es legitimierende Basis zurückzuführen, indem er es mit der demokratisch-freiheitlichen Lebensform aussöhnte, und damit auch gleichzeitig dauerhaft zu sichern verstand.

Adenauer räumte der Freiheit immer den Vorrang vor der staatlichen Einheit ein. Er setzte damit deutliche, aber auch notwendige Prioritäten wie zugleich unmißverständliche Grenzen für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Dies war aber zugleich Voraussetzung für das Gelingen der Aussöhnung mit unseren westlichen Nachbarn.

Diese Politik gewinnt ihre letzte Überzeugungskraft, wenn sie zur Haltung der zweiten politischen Einheit, der DDR, in Beziehung gebracht wird. Auch sie stellt sich positiv zum Begriff der Nation, den sie allerdings eng mit den Begriffen Klasse und Klassenkampf koppelt. Die Substanz dieser Nation hat ihren Ort bei der Arbeiterklasse in der DDR und der SED, der Partei der Arbeiterklasse sowie bei allen werktätigen Menschen, gleichgültig, ob sie in der DDR oder in der Bundesrepublik leben.

Entsprechend dieser Auffassung verläuft die Trennungslinie durch Deutschland in zweifacher Form. Einmal im Sinne formaler Trennung zwischen DDR und Bundesrepublik, daneben aber quer durch die Bundesrepublik selbst. Dort nämlich zwischen der Monopolbourgeoisie und den fortschrittlichen Kräften, deren eigentliche nationale Heimat von der SED repräsentiert wird.

Aus dieser Haltung wird verständlich, daß es keine nationale Gemeinschaft zwischen den Vertretern und Handlangern des Monopolkapitals auf der einen Seite und den Werktätigen auf der anderen Seite, im Sinne einer demokratischen Nation, geben kann. Dementsprechend ist jede Aussage eines westdeutschen Politikers über Gemeinsamkeiten zwischen beiden deutschen Staaten und über besondere innerdeutsche Beziehungen für die SED wirklichkeitsfremde Fiktion.

Der derzeitige harte Kurs der SED in Richtung Abgrenzung ist nur eine folgerichtige, spezifische Akzentuierung dieses Grundkonzeptes und kein radikaler Kurswechsel.

Unsere gegenwärtige politische Lage werden wir nur voll begreifen können, wenn wir uns über die möglichen Konsequenzen im klaren sind, die sich für uns aus dieser politischen Konzeption der DDR ergeben. Sie erlaubt es der DDR, jederzeit zur nationalen Offensive überzugehen, ihren Anspruch auf die geschichtliche Kontinuität Deutschlands zu erheben und sich als der wahre Nachfolger des Deutschen Reiches, als der Vollstrecker des Willens der deutschen Geschichte einzurichten.

Im Grunde existiert diese Herausforderung bereits. Sie trifft uns in der Bundesrepublik in einer labilen Situation und zu einem Zeitpunkt, an dem unser Selbstverständnis nur unklare Artikulationsformen findet. Dies gilt sowohl nach innen wie nach außen.

Unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte und Strukturen werden zunehmend in Frage gestellt, ohne daß konstruktive Alternativen aufgezeigt werden können. Die Ost- und Deutschlandpolitik der jetzigen Bundesregierung hat dazu geführt, daß in unserer Bevölkerung die Neigung wächst, unsere Einbindung in das westliche, freiheitliche Bündnissystem durchaus nicht mehr als selbstverständlich zu betrachten. Zugleich vermittelt diese Politik den Eindruck einer Öffnung der Bundesrepublik in Richtung Osten.

Es ist nur selbstverständlich, daß diese Entwicklungen die Frage nach dem Standort der Bundesrepublik und der deutschen Nation erneut aufwerfen mußten.

Diese Frage hat die Bundesregierung bis heute nicht umfassend beantworten können.

Keine politische Ordnung kommt ohne ein eindeutig beschriebenes Selbstverständnis aus. Dies unter gewandelten Umständen heute zu definieren, stellt sich als schwierige Aufgabe der politischen Führung in der Bundesrepublik.

Wir werden auch in Zukunft davon ausgehen müssen, daß die Innen- und Gesellschaftspolitik das Feld bleiben wird, auf dem das Nationalbewußtsein seine Gestalt, seine Substanz gewinnen wird. Dies gilt im besonderen angesichts der erwähnten Herausforderung unserer Gesellschaftsordnung durch die DDR. Im Prozeß der Innenpolitik formt sich das Staatsbewußtsein, von dem nach unserer Auffassung auch weiterhin unser Verständnis von der Nation präjudiziert wird.

Es wird deshalb in der Zukunft nicht mehr genügen können, daß wir uns darauf beschränken, daß unsere Bruttosozial-Zuwachsrate ständig steigt und günstiger verläuft als in der DDR. Genausowenig kann es genügen, daß wir mehr und die besseren Autos produzieren, daß unser Wohlstand größer ist als der in der DDR.

Vielmehr gilt es, die Bundesrepublik zu einem attraktiven und konkurrenzfähigen Modell im gesellschaftspolitischen Bereich fortzuentwickeln, das freiheitlich-rechtsstaatliche Verhältnis garantiert, Selbstbestimmung auch nach innen gewährt und zu einer offensiven Reformpolitik fähig ist.

Die theoretisch begründete und politisch erlebte Überlegenheit der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR beruht auf unseren Grundprinzipien, nach denen wir Staat und Gesellschaft als eine freiheitliche Demokratie in einer offenen Gesellschaft organisieren.

Nur wenn wir immer wieder beweisen können, daß unser gesellschaftliches System das menschlichere und somit fortschrittlicher ist als ein sozialistisches Zwangssystem, erhalten wir auch unsere Legitimation, für das Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen einzutreten. Ausschließlich auf diese Weise kann es uns gelingen, den Willen zur nationalen Einheit in unserem eigenen Volk aufrechtzuerhalten und ihn international glaubwürdig zu dokumentieren, ohne Befürchtungen vor einem deutschen Nationalismus zu wecken. Einem solchen politischen Verständnis von Einheit der Nation liegt nicht das Primat der territorialen Einheit, sondern das Primat der Freiheit zugrunde, das die Politik der Bundesrepublik seit ihren Anfängen prägt.

Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur in der Lage, die Herausforderung, etwa durch die DDR, anzunehmen, sie stellt selbst eine Herausforderung dar, an uns selbst und andere: die Herausforderung der Freiheit. Lassen Sie uns die Auseinandersetzung offensiv führen! Wir werden sie bestehen, denn wir haben die besseren Argumente.

 

Quelle: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 33-45. Redemanuskript: ACDP 01-710-068/2