8. Juni 1997

Rede anlässlich der Eröffnung der 25. Ausstellungstagung Internationales Treffen für Chemische Technik, Umweltschutz und Biotechnologie (ACHEMA 1997) in Frankfurt am Main

 

Lieber Herr Professor Felcht,
Frau Staatsministerin,
Frau Oberbürgermeisterin,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

I.

 

als erstes richte ich einen besonderen Gruß an die zahlreichen ausländischen Gäste aus aller Welt. Herzlich willkommen im wiedervereinigten Deutschland! Gerne bin ich heute hierhergekommen, um mit Ihnen zusammen einen bedeutenden Tag in der Entwicklung von Technik und Industrie in Deutschland zu würdigen: Die ACHEMA, die Ausstellungstagung Internationales Treffen für Chemische Technik, Umweltschutz und Biotechnologie, findet zum 25. Mal statt. Dieses Jubiläum ist eine gute Gelegenheit, mit Stolz auf die Entwicklung der ACHEMA zurückzuschauen. Die Vision von Max Buchner, dem Begründer der ACHEMA, lag in der Verbindung von Chemie und Ingenieurtechnik. Dies war nicht nur zur damaligen Zeit, sondern ist auch heute noch hochaktuell.

 

Der Erfolg dieses internationalen Forums in den vergangenen 77 Jahren seit der ersten Ausstellungstagung im Jahr 1920 läßt sich nicht nur an der ständig steigenden Zahl der Aussteller und Besucher ablesen. Vielmehr war die ACHEMA in wichtigen Bereichen stets der Zeit voraus: Bereits 1964 wurde

 

der Umweltschutz aufgenommen - weit vor der öffentlichen Debatte über dieses Thema. Damit wurden maßgebliche Impulse für die Technologieführerschaft Deutschlands in vielen Bereichen der Umwelttechnik gegeben. Wir alle haben gemeinsam zu wenig dafür getan, daß diese positive Entwicklung auch weiten Teilen der Bevölkerung unseres Landes bekannt wurde. Ein weiterer Erfolg war die Integration der Biotechnologie, die bereits am Anfang der 70er Jahre in das Programm der Ausstellungstagung aufgenommen wurde. Damit wurde die Forschung in einer Schlüsseltechnologie angestoßen.

 

Meine Damen und Herren, die ACHEMA 1997 findet in einer Zeit dramatischer Veränderungen in vielen Bereichen der Welt, in Europa und natürlich auch in Deutschland statt. Wir beobachten die zunehmende Globalisierung der Produktion und Wirtschaftsbeziehungen mit nachhaltigen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. Wir müssen diese Entwicklung klar analysieren, unsere Chancen erkennen und entschlossen die notwendigen Konsequenzen ziehen. Dabei hilft es, sich die Situation kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und auch in der Stadt Frankfurt noch einmal zu vergegenwärtigen. Wir haben soeben in den Eingangsbildern dieser Eröffnungsfeier das kriegszerstörte Frankfurt gesehen. Es war die Stunde Null in unserem Land. Kurz nach Kriegsende wurde der Zweizonenwirtschaftsrat der amerikanischen und britischen Zone hier in Frankfurt gegründet - mit Ludwig Erhard als Direktor an der Spitze dieser Behörde.

 

Die Währungsreform mit der Einführung der D-Mark im Jahre 1948 war der Beginn einer beispiellosen Erfolgsgeschichte in unserem Land. Die Gründerväter und Gründermütter unserer Republik gaben nicht auf, verzagten nicht, dachten nicht über Hilfe nach, sondern packten mit Mut zur Zukunft an und halfen sich selbst. Die deutsche Wirtschaft hat sich seitdem dynamisch entwickelt. Durch die gemeinsame Arbeit von Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik ist Deutschland zur zweitgrößten Exportnation nach den Vereinigten Staaten aufgestiegen. Der Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten hat - auch im internationalen Vergleich - ein sehr hohes Niveau erreicht. Daß wir ein derart wohlhabendes Land geworden sind, ist nicht nur ein Grund zur Dankbarkeit gegenüber der Gründergeneration, es ist zugleich ein Anlaß, darüber nachzudenken, wie wir dieses Niveau halten können.

 

Die Herausforderung, vor der Deutschland heute steht, läßt sich mit zwei Beispielen aus dem Fußballsport bildhaft verdeutlichen. Gestern abend habe ich ebenso wie viele Menschen das Spiel der deutschen Nationalmannschaft im Fernsehen verfolgt und anschließend überlegt, ob sie ihren Platz in der Qualifikationsgruppe halten können und wir an der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich teilnehmen werden. Zum anderen spielt hier in der Stadt der Kampf um den Wiederaufstieg der Eintracht Frankfurt in die erste Bundesliga eine wichtige Rolle. Beim Fußball ist es leicht nachvollziehbar: Für den Sieg der Nationalmannschaft oder den Verbleib in der höchsten Spielklasse braucht man eine gute Mannschaft, gute Trainer und Betreuer sowie den Willen, gewinnen zu wollen. Ohne diese Voraussetzungen droht die Nichtqualifikation oder der Abstieg. Und wenn man abgestiegen ist, dann ist es sehr viel schwieriger, wieder aufzusteigen.

 

Das gilt im Bereich des Fußballs ebenso wie für unsere Wirtschaft: Die deutsche Wirtschaft ist nicht schlechter geworden. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, daß andere Länder aufgeholt haben. Die Gewichte im Welthandel haben sich verschoben. Man muß nicht weit nach Asien reisen, um sehr dynamische Volkswirtschaften beobachten zu können. Vor unserer Haustür, in Mittel- und Osteuropa, wachsen - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung nach dem Ende des Kommunismus - neue Wettbewerber heran. Wir wollen, daß die Menschen in den Reformstaaten erfolgreich sind, damit Freiheit, Demokratie sowie wirtschaftliche und soziale Stabilität auf Dauer gesichert bleiben. Dabei müssen wir ihnen helfen, weil dies zugleich ein Werk des Friedens und der Freiheit in Europa ist.

 

Die Globalisierung der Produktion und der Wirtschaftsbeziehungen wird noch beschleunigt durch den bahnbrechenden technischen Fortschritt. Das Beispiel der Informationstechnik zeigt uns, daß der Datenaustausch rund um den Globus in Sekundenschnelle erfolgt. Dadurch gewinnen entlegene Standorte neue Anziehungskraft. Diese tiefgreifenden Veränderungen erfüllen viele Menschen mit Sorge, beispielsweise um ihren Arbeitsplatz. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fragen sich, ob ihr Betrieb im globalen Wettbewerb überleben kann. Alle, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen, müssen diese Sorgen ernst nehmen.

 

Dazu gehört es, sich notwendigen, ja unumgänglichen Veränderungen nicht in den Weg zu stellen. Wer versucht, am Status quo festzuhalten, der fällt zurück. Es gibt nur einen vielversprechenden Weg: Wir müssen unsere Chancen in der Weltwirtschaft nutzen, neue Herausforderungen aktiv annehmen. Zentral für das Erschließen neuer Märkte sind zum Beispiel Spitzenleistungen in Forschung und Technologie. Wir brauchen Zukunftsinvestitionen und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in Deutschland. Gleichzeitig müssen wir unser Aus- und Fortbildungssystem stärken. Deutschland ist nicht reich an natürlichen Ressourcen. Unser eigentliches Kapital sind die Menschen, ihr Ausbildungsstandard, ihr Fleiß und ihr Wille, etwas zu leisten. Wir müssen die Menschen motivieren und nicht demotivieren. Nur so können wir unseren Wohlstand auf Dauer sichern und mehren.

 

Ein gutes Beispiel für die Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen der Zukunft ist die Biotechnologie. In der Vergangenheit haben wir uns in Deutschland aus vielen, zum Teil unverständlichen ideologischen Gründen schwergetan, in dieser Schlüsseltechnologie den Anschluß an die Weltspitze zu finden. 1993 hat die Bundesregierung das Gentechnikgesetz novelliert. Wir haben diese Reform durchgesetzt gegen den erbitterten Widerstand von notorischen Gegnern der Biotechnologie, die alles verhindern wollen, und unkritischen Verfechtern, denen alles nicht weit genug geht. Seither sind die Genehmigungsverfahren weiter vereinfacht worden. Inzwischen herrscht in der Biotechnologie in Deutschland Aufbruchstimmung. Deutsche Unternehmen, die noch vor wenigen Jahren ihre Forschung und Produktion ins Ausland verlagerten, investieren wieder in Deutschland. Forscher, die ins Ausland abgewandert waren, kommen wieder zurück. Auch ausländische Unternehmen verstärken ihre Aktivitäten in unserem Land. Das bedeutet zusätzliche Investitionen und zukunftssichere Arbeitsplätze bei uns.

 

Mit "BioRegio", einem Wettbewerb der Biotechnologie-Regionen in Deutschland, haben wir neue Wege beschritten. Unternehmer, Wissenschaftler, Banken und Behörden ziehen hier an einem Strang und schaffen gemeinsam gute Voraussetzungen für Innovationen in dieser Zukunftstechnologie in unserem Land. Ich bin davon überzeugt, daß die Bedeutung dieses Wettbewerbs weit über die Biotechnologie hinausgeht. Er zeigt, wie durch gemeinsames und zielgerichtetes Handeln aller Beteiligten Kräfte für den Standort Deutschland freigesetzt werden können.

 

Für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes kommt es darauf an, die Leistungsfähigkeit unser Wissenschaft in allen Bereichen zu stärken. Wir brauchen vor allem eine bessere und schnellere Umsetzung von Forschungsergebnissen in Markterfolge und damit in Arbeitsplätze. Der Rat für Forschung, Technologie und Innovation, den ich einberufen habe, hat Empfehlungen formuliert, wie die Biotechnologie weiter vorangebracht werden kann. Die Bundesregierung wird die Empfehlungen überprüfen, Prioritäten setzen und die Entscheidungen zur Umsetzung der Vorschläge rasch treffen. Dabei ist aber nicht nur der Staat gefordert: Die private Wirtschaft kann und muß einen größeren Beitrag leisten.

 

Ich halte es für wichtig, daß wir mehr Wagniskapital für den Zukunftsbereich Biotechnologie mobilisieren. Dies ist gerade für Existenzgründer ein essentielles Thema. Ein Existenzgründer schafft im Durchschnitt vier zusätzliche Arbeitsplätze. Für mehr Arbeitsplätze in Deutschland ist es deshalb unverzichtbar, daß die Kultur der Selbständigkeit gestärkt wird. Was wir nach Einführung der D-Mark im Jahre 1948 als Zeit des Aufbruchs erlebten, brauchen wir heute erneut: Pioniergeist und der Wille zum Aufbruch. Gefragt ist entschlossenes und innovatives Unternehmertum, das auf neue Technologien, Verfahren und Produkte setzt.

 

Zu den positiven Erfahrungen in meinem Amt zähle ich die Möglichkeit, bei großen Veranstaltungen von Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern mit jungen Leuten zu sprechen. Wenn ich am Ende einer Freisprechungsfeier den jungen Meisterinnen und Meistern, die die besten Prüfungen abgelegt haben, ihr Zeugnis überreiche und mit ihnen spreche, dann treffe ich auf viele, die sich selbständig machen wollen. Aber dann kommen den jungen Menschen Bedenken. Diese Bedenken beginnen zu Hause, im Freundeskreis und in den Unternehmen. Nicht wenige empfehlen dem jungen Meister, der jungen Meisterin, den sicheren Arbeitsplatz in einem großen Unternehmen zu behalten. Für diese Menschen ist es unverständlich, auch Risiken einzugehen. Wenn wir aber nicht mehr in der Lage sind - angefangen von den Elternhäusern über die Schulen bis hin zu den Universitäten -, jungen Menschen auf den Weg zu geben, daß man nicht schon mit 18 Jahren an seine Pension denken sollte, dann haben wir keine gute Zukunft. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist ebenso eine Frage des Klimas und der Offenheit in unserer Gesellschaft wie der Bereitschaft, Risiken einzugehen.

 

II.

 

Meine Damen und Herren, Deutschland hat beste Voraussetzungen im internationalen Standortwettbewerb. Wir haben eine ausgezeichnete Infrastruktur. Die Arbeitnehmer sind hochqualifiziert. Unser duales System der Berufsausbildung ist weltweit anerkannt. Mein Wunsch ist es, daß möglichst viele erkennen, daß Investitionen in eine qualifizierte Ausbildung junger Menschen sehr wertvoll für unser Land sind. In den kommenden acht Jahren wird die Zahl der Schulabgänger noch weiter steigen, danach aber steil abfallen. Mancher Unternehmer wird sich dann mit Wehmut an die Zeit erinnern, in der die Nachfrage nach Lehrstellen höher war als das Angebot. Deshalb ist es wichtig, rechtzeitig Vorsorge zu treffen. Verstärken Sie die Anstrengungen bei der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen in den kommenden Jahren!

 

Zu den Aktivposten unseres Standortes zählt natürlich auch unsere ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand. Wir haben eine beachtliche wirtschaftliche Stabilität und - ungeachtet der aktuellen Auseinandersetzungen - ein gutes soziales Klima. Die Wirtschaftsperspektive im Frühling 1997 ist positiv, das Konjunkturklima erwärmt sich. Im 1. Quartal 1997 lag das reale Wachstum des Bruttoinlandproduktes gegenüber dem Vorjahresquartal bei 1,4 Prozent. Bereinigt um ausgefallene Arbeitstage durch die Osterfeiertage waren es sogar zweidreiviertel Prozent. Ich gehe davon aus, daß wir in diesem Jahr ein Wachstum von bis zu zweieinhalb Prozent erreichen werden. 1998 wird die Konjunktur nach allgemeiner Erwartung weiter an Fahrt gewinnen.

 

Der Aufschwung steht auf einem soliden Fundament. Die Inflationsrate von eineinhalb Prozent bedeutet faktisch Preisstabilität. Gerade Rentner und Bezieher kleiner Einkommen profitieren hiervon. Zugleich bewegen sich die Zinsen auf historisch niedrigem Niveau. Das ist eine wichtige Voraussetzung für Investitionen zum Beispiel in Gebäude und in Maschinen. Die Weltkonjunktur ist lebhaft. Dies stärkt unsere Exporte ebenso wie die Rückbildung der exportbelastenden D-Mark-Aufwertung vom Frühjahr 1995.

 

In jüngster Zeit nehmen die Tarifabschlüsse - und dies ist

 

eine besonders erfreuliche Entwicklung - mehr Rücksicht auf Wachstum und Beschäftigung. Dies ist eine wichtige Grundlage für eine weitere Belebung der Konjunktur. Die Chemie-Tarifpartner haben einmal mehr eine nachahmenswerte Vorreiterrolle gespielt. Vor wenigen Tagen, am 3. Juni 1997, wurde eine Tariföffnungsklausel vereinbart, die ich gerne als Beispiel für andere Branchen herausstellen möchte. Die Betriebspartner können bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Unternehmens die Entgelte zukünftig bis zu zehn Prozent unter Tariflohn senken. Damit erhalten die Betriebe Luft zum Atmen und können Arbeitsplätze sichern.

 

Die Bekämpfung der inakzeptabel hohen Arbeitslosigkeit ist und bleibt die zentrale innenpolitische Aufgabe in Deutschland. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit im Mai um 90000 auf 4,25 Millionen Arbeitslose ist zwar erfreulich, aber nicht ausreichend. Unser gemeinsames Ziel bleibt, wie im Januar 1996 von Wirtschaft, Gewerkschaften und Bundesregierung vereinbart, die Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahr 2000 zu halbieren. Heute zerbrechen sich viele in Deutschland den Kopf darüber, ob dies zu schaffen ist. Ich halte dies für den falschen Ansatz. Nur wenn wir handeln, werden wir neue Arbeitsplätze gewinnen. Und ich füge hinzu: Wenn die politisch Verantwortlichen keine Ziele und Visionen entwickeln, dann haben sie vor der Zukunft versagt.

 

Wir haben in den alten Bundesländern schon einmal bewiesen, daß Beschäftigungserfolge möglich sind: Von 1983 bis 1993 sind durch gemeinsame Anstrengungen mehr als drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Auch heute haben wir - trotz des Beschäftigungseinbruchs der letzten Jahre - in Westdeutschland noch knapp zwei Millionen Arbeitsplätze mehr als 1983. Diese Zahlen werden in der öffentlichen Diskussion häufig verschwiegen. Sie zeigen aber, daß wir Erfolge hatten und auch in Zukunft haben können. Dafür müssen jetzt alle Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften in ihrem Bereich ihren Beitrag leisten.

 

Die Bundesregierung handelt für eine gute Zukunft unseres Landes. Dabei stehen zwei Prioritäten im Mittelpunkt. Der erste Schwerpunkt ist die Rückführung der Steuerlast und die Stärkung der Investitionskraft der Unternehmen. Für die Zukunftssicherung des Standortes Deutschland ist ein international wettbewerbsfähiges Steuersystem unverzichtbar. Um die Notwendigkeit der Reduzierung der Steuerlast zu erkennen, brauchen sie sich nur die Steuertarife bei unseren Nachbarn, beispielsweise in den Niederlanden oder in Österreich, anzusehen. Sie liegen zum Teil deutlich unter den deutschen Tarifen. Deshalb müssen wir jetzt die notwendigen Entscheidungen treffen.

 

Positives ist bereits geschehen: Die investitions- und beschäftigungsfeindliche Vermögensteuer wird seit Anfang 1997 nicht mehr erhoben. Dies nehmen manche zum Anlaß für eine Neiddiskussion. Aber wenn wir diejenigen aus unserem Land vertreiben, die ihr Kapital einbringen, dann werden die notwendigen Investitionen für mehr Arbeitsplätze nicht bei uns durchgeführt. Mit Neid und Mißgunst läßt sich in der Wirtschafts- und Steuerpolitik auf Dauer nichts Positives bewirken.

 

Der nächste Baustein ist die große Steuerreform. Sie ist ein Schlüsselprojekt für mehr wirtschaftliche Dynamik und mehr Arbeitsplätze. Das Kernziel der Reform muß sein, die Einkommen- und Körperschaftsteuersätze auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zu senken. Zugleich wollen wir Schlupflöcher schließen und Steuervergünstigungen abbauen, damit das Steuersystem einfacher und leistungsgerechter wird. Diese Steuerreform bedeutet insgesamt ein gewaltiges Investitionsprogramm für mehr Wachstum und Arbeitsplätze. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß vor allem die unternehmensbezogenen Steuern schon am 1. Januar 1998 gesenkt werden.

 

Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf für die Steuerreform verabschiedet, der Bundestag wird nach dem jetzigen Stand Ende dieses Monats darüber abstimmen. Sofern es zwischen Bundesregierung und Opposition keine Einigung gibt, werden wir uns im Herbst im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat wiedersehen. Ich gehe davon aus, daß es am Ende trotz aller Schwierigkeiten zu einer großen Steuerreform kommen wird, auch wenn sie nicht in allen Details dem jetzigen Koalitionsvorschlag entspricht. Aber wir werden keinen faulen Kompromiß akzeptieren, der die Grundidee der großen Steuerreform zur Unkenntlichkeit verwässert. Ich bin optimistisch, daß wir - auch im Interesse der SPD-regierten Bundesländer - bis zum Ende dieses Jahres ein entscheidendes Stück vorangekommen sind.

 

Der zweite Schwerpunkt der Politik der Bundesregierung ist der Umbau der sozialen Sicherungssysteme für die Zukunft und die dauerhafte Begrenzung der Lohnzusatzkosten. Wir müssen uns rechtzeitig auf den demographischen Wandel in unserer Gesellschaft einstellen. Deutschland hat mit die niedrigste Geburtenrate in der Europäischen Union, nur Italien und Spanien weisen noch geringere Quoten auf. Dies ist keine von der Politik beeinflußbare Größe, sondern liegt in der freien Entscheidung von Millionen Menschen in Deutschland. Gleichzeitig hat der Anteil der Single-Haushalte - gerade in einer Großstadt wie Frankfurt - zugenommen. Damit sind auch keine durchgreifenden Veränderungen bei der Geburtenrate in den nächsten Jahren zu erwarten.

 

Zum anderen steigt - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - die Lebenserwartung der Menschen deutlich. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau beträgt knapp 79 Jahre, die der Männer liegt bei 73 Jahren. Heute leben in Deutschland 13 Millionen Menschen, die 65 Jahre und älter sind. Im Jahr 2030 werden es bereits 19 Millionen sein. Folglich wächst der Anteil der älteren Menschen in unserer Bevölkerung. Gleichzeitig werden die Ausbildungszeiten immer länger: Der deutsche Hochschulabsolvent verläßt im Durchschnitt mit annähernd 30 Jahren die Hochschule, seine Kommilitonen in den anderen europäischen Ländern aber bereits mit 25 Jahren. Ich glaube nicht, daß wir diesen Zustand in einem gemeinsamen Arbeitsmarkt in der Europäischen Union beibehalten können. Wir müssen auch im Ausbildungsbereich konkurrenzfähig sein.

 

Meine Damen und Herren, um bei diesen Zahlen zu bleiben: Wenn ein junger Akademiker mit 30 Jahren in den Beruf einsteigt und mit 60 Jahren in den Ruhestand geht, dann sind das bei einer Lebenserwartung eines Mannes von 73 Jahren rund drei Fünftel Ausbildung und Ruhestand und zwei Fünftel Arbeitsleben. Damit steht die Zeit der produktiven Erwerbstätigkeit in keinem Verhältnis zu Ruhestand und Ausbildung mehr. Dies stellt jedes System der Rentenversicherung unweigerlich vor erhebliche Probleme. Nur Demagogen können glauben, daß man an diesen Fakten mit einfachen Sprüchen vorbeireden kann.

 

Wir müssen aus dem sich abzeichnenden demographischen Wandel rechtzeitig die notwendigen Konsequenzen ziehen. Das heißt zum Beispiel, im Gesundheitssystem eine dauerhafte und tragfähige Balance zwischen unverzichtbarer Solidarität und notwendiger Eigenverantwortung herzustellen. Ich halte es für undenkbar, daß wir ältere Mitbürger, wie dies zum Teil in anderen Ländern geschieht, von bestimmten Gesundheitsleistungen ausschließen. Wenn wir es ernst meinen mit einer solidarischen Gesellschaft, muß dies auch gegenüber der älteren Generation gelten. Klar ist aber auch, daß wir nicht einfach alles beim alten lassen können. Dies gilt im Gesundheitssystem genauso wie in der Rentenversicherung.

 

Die Rentenreform ist unverzichtbar für eine gute Zukunft unseres Landes. Wir haben ein klares Konzept: Die lohn- und beitragsbezogene Rente wird für die Zukunft gesichert, die Belastungen für Beitragszahler werden in den kommenden Jahren kalkulierbar und tragfähig bleiben. Zugleich bekommen die Investoren verläßliche Signale, daß die Entwicklung der gesetzlichen Lohnzusatzkosten längerfristig begrenzt wird. Zur Förderung der Beschäftigung und zur Entlastung des Arbeitsmarkts hat die Bundesregierung die Reform der Arbeitsförderung zum 1. April 1997 durchgesetzt. Seitdem gibt es neue Anreize für Arbeitgeber, Arbeitsplätze bereitzustellen, und für Arbeitslose, Arbeit anzunehmen. Darüber hinaus haben wir bereits im vergangenen Jahr Neueinstellungen durch die Anhebung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz und durch die Möglichkeit der Befristung

 

von Arbeitsverträgen erleichtert. Mit einem Wort: Es geht nicht um den Abbau, sondern um den Umbau des Sozialstaats. Wir bereiten unseren Sozialstaat auf eine gute Zukunft im 21. Jahrhundert vor.

 

III.

 

Meine Damen und Herren, Deutschland fit zu machen heißt auch, die innere Einheit unseres Landes zu vollenden. Wir haben seit Inkrafttreten der innerdeutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vor sieben Jahren erhebliche Fortschritte beim Aufbau Ost erzielt. Dennoch liegt eine große Wegstrecke noch vor uns. Viele ostdeutsche Betriebe wurden schwer getroffen vom Wegfall ihrer Märkte in der früheren Sowjetunion. Handelsbeziehungen, die über 40 Jahre bestanden, sind über Nacht zusammengebrochen. In vielen Fällen gelang es nicht schnell genug, diese Betriebe auf das Niveau des Weltmarktes zu bringen. Deshalb brauchen die ostdeutschen Betriebe nach wie vor unsere Solidarität und unsere Unterstützung. Ich wende mich mit Nachdruck gegen all jene, die jetzt in einer finanziell schwierigen Lage die Hilfen für den Aufbau Ost reduzieren wollen.

 

Neben den zentralen Fragen der deutschen Innenpolitik ist es ebenfalls wichtig, daß wir das europäische Einigungswerk fortsetzen. Es geht darum, daß wir jetzt und heute das Haus Europa vollenden. Konrad Adenauer hat 1949 nach seiner Ernennung zum Bundeskanzler davon gesprochen, daß Deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille sind. Das hat sich seitdem Jahr für Jahr und vor allem nach der Wiedervereinigung als eine grundlegende Erkenntnis deutscher Politik herausgestellt.

 

Alle Länder in Europa brauchen das gemeinsame Haus Europa, aber für uns Deutsche ist die europäische Integration von existentieller Bedeutung. Wir sind das Land mit den meisten Nachbarn und den längsten Grenzen in Europa. Wir sind nicht nur das wirtschaftlich stärkste, sondern mit über 80 Millionen Menschen mit Abstand auch das bevölkerungsreichste Land. Schließlich sind wir ein Land, das wegen seiner Größe nicht nur Freude, sondern auch Mißtrauen und Furcht - nicht zuletzt aufgrund unserer Geschichte - hervorruft. Auch das gehört zur täglichen Erfahrung deutscher Politik auf internationaler Ebene.

 

Wir bleiben wie bisher mit anderen Ländern zusammen die Vorkämpfer für die Einigung Europas, nicht irgendeines Europas, sondern eines Europas, in dem wir unsere Identität behalten. Deutsche bleiben Deutsche in der Europäischen Union, dasselbe gilt für Briten oder Franzosen oder Niederländer, um nur diese zu nennen. Wir wollen, daß die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas möglichst bald beitreten können, sobald sie selbst die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Jahrzehntelang haben wir Polen, Ungarn, Tschechen und anderen Völkern versprochen, daß sie nach dem Ende des Kommunismus bei uns im Haus Europa herzlich willkommen sind. Jetzt können wir unser Versprechen einlösen. Städte wie zum Beispiel Krakau liegen in Mittel- und nicht in Osteuropa, sie waren und sind ein Mittelpunkt europäischer Kultur.

 

In dieser Woche haben wir in Washington den 50. Jahrestag des Marshall-Plans gefeiert. Die Amerikaner haben in großartiger Weitsicht und aus bitterer Erfahrung nach dem Ersten Weltkrieg den Europäern und nicht zuletzt den geschlagenen Deutschen großzügig die ausgestreckte Hand geboten. Wir wollen der Welt zeigen, daß wir aus diesen Erfahrungen gelernt haben. So, wie wir Deutsche damals von anderen Hilfe erfahren haben, ist es heute unsere Pflicht, in der Welt Verantwortung zu übernehmen - beispielsweise mit Blick auf den wirtschaftlichen Aufbau in den mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern. Wir wollen dabei helfen, die in Gang gesetzten Reformen dort unumkehrbar zu machen. Dies ist zugleich ein Werk für Frieden und Freiheit in Europa.

 

Am 16. und 17. Juni wird beim Europäischen Rat in Amsterdam über den Maastricht-II-Vertrag entschieden. Nach dem Maastricht-I-Vertrag wollen wir in wichtigen Bereichen wie der Bekämpfung des international organisierten Verbrechens weiter vorankommen. Europol als europäische Einsatzpolizei muß die internationale Bandenkriminalität mit den modernsten Methoden bekämpfen können. Es ist eine der elementaren Aufgaben des Staates, neben dem äußeren auch den inneren Frieden zu garantieren. Und die Frage des inneren Friedens steht in direkter Beziehung zur Bekämpfung der Kriminalität. Das ist eines der Themen, das nächste Woche in Amsterdam eine wichtige Rolle spielen wird.

 

Wir wollen, daß die Wirtschafts- und Währungsunion wie vereinbart pünktlich am 1. Januar 1999 beginnt. Und wir wollen, daß der Euro eine dauerhaft harte gemeinsame Währung wird. Jedes Finassieren mit dem Ziel, die D-Mark durch eine Währung zu ersetzen, die den Stabilitätskriterien nicht entspricht, lehnen wir ab. Die Kriterien des Maastricht-Vertrages stehen nicht zur Disposition. Sie müssen ebenso wie der Zeitplan eingehalten werden.

 

Denjenigen, die jetzt national wie auch international sagen, dann laßt uns doch das Ganze verschieben, möchte ich ganz einfach antworten, wie Jaques Delors es am heutigen Tag ebenfalls getan hat: Wer einmal verschiebt, verschiebt möglicherweise auf immer, und wer in Deutschland verschiebt, muß daran denken, welche Wirkung eine Verschiebung auf die deutsche Währung hat. Als Flucht- und Reservewährung würde die D-Mark an den Devisenmärkten unter massiven Aufwertungsdruck geraten. Die Folge wären Export- und damit Arbeitsplatzverluste in Deutschland.

 

Ich sage Ihnen klipp und klar: Es ist der entschiedene Wille der Bundesregierung und der meine - ich habe ein Stück meines politischen Denkens durch Jahrzehnte damit verbunden und jetzt meine politische Existenz -, daß dieses Ziel erreicht wird. Was seit Jahrzehnten als richtig erkannt wurde, ausgehend von der Grundidee Winston Churchills in seiner berühmten Züricher Rede 1946, über Konrad Adenauer, über Robert Schuman, Alcide de Gasperi, um nur diese wenigen zu nennen, ist unverändert korrekt. Wir müssen jetzt den nächsten Schritt beim Bau des Hauses Europa machen und die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden.

 

Wahr ist und bleibt: Die Stabilität der Währung ist für uns Deutsche nicht irgendein Thema, sondern von höchster politischer Bedeutung. Viele Deutsche haben in diesem Jahrhundert zweimal die Zerstörung ihrer Währung erlebt und alle Ersparnisse verloren. Am Anfang dieses Jahrhunderts waren die Deutschen fest davon überzeugt, daß die Goldmark des Kaisers eine sichere Währung ist. Sie gaben dem Kaiser ihre Ersparnisse für Kriegsanleihen in der sicheren Erwartung, daß nach einem siegreichen Ende des Krieges der Kaiser das Geld wieder zurückzahlen würde. Das Ergebnis kennen wir: Der Krieg war nicht siegreich, das Geld wurde nicht zurückgezahlt und der Kaiser war auch nicht mehr da. Anschließend haben in der Weimarer Republik Millionen Menschen durch die Hyperinflation ihr gesamtes Vermögen verloren. Für das Emporkommen Hitlers gibt es viele Gründe. Sie sind für die Deutschen in keiner Weise entschuldbar, aber einer der Gründe war die Verelendung großer Teile der deutschen Mittelschicht durch die Hyperinflation.

 

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Deutschland ein Trümmerhaufen. Es war die Stunde Null in unserem Land, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im moralischen Sinne. Die damalige Not ist für die heutige junge Generation kaum noch vorstellbar. Die D-Mark, 1948 eingeführt und damals von vielen als Kretin belächelt, hat sich zu einer der großen Währungen neben Dollar und Yen in der Welt entwickelt. Das Verstehen dieser geschichtlichen Zusammenhänge ist der Schlüssel zum Verständnis dafür, daß wir Deutschen auf einer stabilen Währung bestehen.

 

Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Jahrzehnt große Fortschritte in Europa und in Deutschland erzielt. Wir haben alle Chancen, den Bau des Hauses Europa zu vollenden, wenn wir dies nur wollen. Ich bin zuversichtlich, daß alle materiellen Herausforderungen der Deutschen lösbar sind, wenn wir den Willen und die erforderliche Geduld mitbringen. Es geht aber nicht nur um Materielles - entscheidend ist, daß unsere Werte stimmen. Gegenseitiges Vertrauen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Steuerhinterziehung und das Erschleichen von Subventionen sind genauso zu verachten wie der Mißbrauch von Sozialleistungen. Trittbrettfahrern und Betrügern gehört nicht nur unsere Verachtung, sie müssen auch mit allen juristischen und strafrechtlichen Mitteln verfolgt und bestraft werden.

 

Ich bin überzeugt: Wenn wir gemeinsam die Herausforderungen offensiv angehen, finden wir für viele Probleme gute und tragfähige Lösungen. Wir müssen begreifen, daß der Wiederaufbau unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg kein Zufall war, sondern Ergebnis von Willen, Zuversicht und Tatkraft der Gründergeneration. Sie haben damals nicht einen philosophischen Lehrstuhl für Pessimismus errichtet, sondern ein Land, das am Rande des Abgrunds war, wiederaufgebaut. Mit einem Wort: Wir müssen die Herausforderungen anpacken und mit einem realistischen Optimismus nach vorne schauen.

 

Meine Damen und Herren, in zweieinhalb Jahren beginnt ein neues Jahrhundert. Es ist unsere Chance, die Chance der Deutschen mehr als aller anderen in Europa, nach diesem Jahrhundert mit all seinen Tiefen und Schrecken, jetzt die Zukunft zu gestalten. Dazu möchte ich Sie alle sehr herzlich einladen, nicht mit Verdrießlichkeit, sondern mit der Zuversicht von Männern und Frauen, die wissen, sie können Erfolg haben, sofern der Wille dafür vorhanden ist.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 55. 1. Juli 1997.