8. Mai 1996

Rede bei dem Festakt anlässlich des 85. Geburtstages von Professor Dr. Heinz Maier-Leibnitz an der Technischen Universität München

Ein Vorbild in Forschung und Lehre


 

Lieber Herr Maier-Leibnitz,
liebe Frau Noelle-Neumann,
Eminenzen, Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren
und vor allem liebe Studentinnen und Studenten,

wir haben uns hier zusammengefunden, um einer herausragenden Persönlichkeit unseres Landes zum Geburtstag zu gratulieren und Dank zu sagen. Es ist gut, daß so viele Gäste von nah und fern zu diesem Festakt gekommen sind. Schon dies zeigt, welch außergewöhnliche Wertschätzung Sie, lieber Herr Professor Maier-Leibnitz, überall genießen. In dieser Stunde spürt jeder, was Ihr Lebenswerk für uns alle bedeutet.

85 Jahre ­ das ist eine Zeitspanne, die die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts in all ihren Höhen und Tiefen umfaßt: Geboren noch im Kaiserreich, im Königreich Württemberg, aufgewachsen in der Weimarer Republik, dann die Erfahrung der NS-Diktatur, danach Besatzungszeit, die Teilung Deutschlands ­ auch im wissenschaftlichen Bereich ­, Neuaufbau in der Bundesrepublik und schließlich die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes.

Sie haben das große Glück, daß Sie sich einer guten Gesundheit erfreuen. Das ist ein Segen für Sie und ein Glück für uns alle. Denen, die Ihnen im Laufe der Jahrzehnte begegnen durften ­ und zwar nicht nur bei amtlichen Anlässen, sondern auch in der Vertrautheit eines privaten Rahmens ­, haben Sie nicht nur fachlich, sondern auch menschlich viel gegeben.

Sie haben Physik-Geschichte geschrieben und darüber hinaus zahlreiche Forscher geprägt und zu Spitzenleistungen angeregt und angespornt. Sie haben sie angeleitet, ihnen aber gleichzeitig immer auch den nötigen Freiraum gelassen. Viele Ihrer Schüler sind heute hier. Was kann ein Lehrer am 85. Geburtstag eigentlich mehr erwarten als eine so ansehnliche Zahl höchst erfolgreicher Schüler? Sie haben dies uneingeschränkt verdient, weil Sie als Lehrer das, was Sie wußten, konnten und zu geben vermochten, an sie weitergegeben haben. Das ist ein Stück Ihrer Lebenseinstellung. Offenheit ist für Sie kein Fremdwort.

Sie haben in jungen Jahren ­ ich weiß das aus Ihren eigenen Erzählungen ­ nicht zuletzt im Ferienhaus Ihrer Eltern in Arosa die Großen aus der Welt der Physik erlebt und ihnen bewundernd zugehört. Dazu gehörten Peter-Paul Ewald, Niels Bohr und Erwin Schrödinger. Damals lernten Sie auch James Franck kennen, bei dem Sie später in Göttingen bis zu dessen Emigration 1933 studierten. Sie sagten einmal, daß die Jahre dort für Sie zu einem "entscheidenden Erlebnis" wurden. Diese Zeit beschwören Sie auch deshalb immer wieder, weil dort ­ bei aller Konkurrenz ­ ein menschlicher Umgang unter Wissenschaftlern praktiziert wurde, weil man freundschaftlich miteinander redete und einander achtete. So sollte es eigentlich immer sein.

Sie berichten, daß Ihnen in Göttingen auf der Straße manchmal James Franck begegnet ist und Sie gefragt hat, woran Sie gerade arbeiteten. Es hat Sie sehr beeindruckt, wie dieser bedeutende Wissenschaftler Doktoranden und Assistenten mit großer Intensität und Hilfsbereitschaft auf ihrem Weg begleitete. Sie haben über Ihren Lehrer gesagt ­ das kann man alles fast wörtlich auf Sie übertragen ­: "Seine Selbstlosigkeit und Bescheidenheit gehörten zum Wichtigsten, was ich als junger Wissenschaftler erlebt habe."

Sie selbst haben diese Tugenden stets glaubwürdig vorgelebt. Dafür möchte ich Ihnen ganz ausdrücklich danken. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß keine Universität, keine Schule und schon gar nicht die Gesellschaft als Ganzes solche Haltungen entbehren können. Im Gegenteil, wir müssen wieder mehr zu der alten Erkenntnis ­ die nie altmodisch geworden ist ­ zurückfinden, daß es im Verhältnis zwischen den Generationen darauf ankommt, welches Beispiel gegeben wird.

Forschung war für Sie nie Selbstzweck. Sie waren immer davon überzeugt, daß Forschung dem Menschen zu dienen hat. "Forschung von Menschen für Menschen" ­ das ist ein Satz von Ihnen. Ihr Leben mit der Familie und Ihr Leben als Wissenschaftler sind für Sie immer als Einheit zu verstehen gewesen. Wenn Sie auch gerade aus Anlaß Ihres Geburtstages einmal mehr mit Dankbarkeit über "unendlich viel Hilfe" sprechen, dann schließen Sie all jene, die Ihnen auf diesem Weg begegnet sind, vor allem jedoch ihre Familie, in diesen Dank mit ein.

Ihre Arbeit macht Ihnen Vergnügen. Das ist ganz wesentlich, auch wenn der Zeitgeist uns etwas anderes zu lehren versucht. Auch in Ihrer Freizeit waren Sie stets fleißig: Das ist unter anderem Ihren Kochkünsten zugute gekommen ­ einem Hobby, das Sie zur Gaumenfreude Ihrer Gäste ausgeübt haben. Freude am Essen und Trinken gilt heute ja beinahe als unsittlich. In einer Zeit, in der man das Handy in der einen Hand hält und den Kalorienmesser in der anderen, schwindet das Wohlbehagen; und damit geht auch die Fähigkeit zur Freude am Leben dahin. Wer erlebt hat, wie Sie kochen, der weiß auch, daß Sie daraus schon ein Stück wirkliche Wissenschaft gemacht haben. Als Autor von Kochbüchern sind Sie mir weit voraus; ich werde Ihnen da nicht aus falschem Ehrgeiz nacheifern.

Vielseitigkeit gehört zu Ihren zahlreichen guten Eigenschaften. Zeit Ihres Lebens haben Sie immer wieder Neuland betreten und nach besseren Lösungen gesucht. Sie waren immer wieder bereit, ausgetretene Pfade zu verlassen. Ich wünsche mir in unserem Land gerade heute mehr von Ihrer Einstellung, sich neuen Herausforderungen mit Optimismus und dem Blick für das Wesentliche zu stellen.

Sie haben ­ gemäß Ihrem Leitmotiv "Ausbildung durch Forschung" ­ bei Ihren Schülern wissenschaftliche Neugierde, eigenverantwortliches Handeln und die Bereitschaft zur Selbstkritik gefördert. Auch dieses Beispiel sollte wieder mehr Schule machen: In unseren Elternhäusern, an unseren Schulen und an unseren Universitäten brauchen wir Erziehung zu Kreativität, Selbständigkeit und Verantwortung. Die junge Generation muß wieder stärker die Chance erhalten, die Freude an der eigenen Leistung zu entdecken. Sie verdient nicht nur eine gute Ausbildung, sondern auch die Anerkennung ihrer Kreativität und Eigenverantwortung im Beruf.

Sie selbst haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir gerade in Wissenschaft und Forschung Leistungseliten brauchen. Es gab in diesen Jahrzehnten nach dem Krieg oft genug falsche Propheten, die uns einreden wollten, daß Demokratie und Leistungseliten nicht zusammenpassen. Was für ein Mißverständnis: Hier geht es doch nicht um Erbprivilegien einer Geburtselite, sondern darum, daß sich in allen Bereichen unserer Gesellschaft Männer und Frauen dazu bereit finden, mehr zu tun als das, was der Tarifvertrag gerade verlangt. Man muß nicht erst 85 Jahre alt werden, bevor man das einmal laut und öffentlich preist.

Ihre außerordentliche wissenschaftliche Leistung ist hier heute morgen schon vielfach gewürdigt worden. Sie haben die Entwicklung der Physik in Deutschland nach dem Krieg entscheidend mitbestimmt. Vor allem gehören Sie zu jenen Wissenschaftlern der "ersten Stunde", die nach der geistigen und materiellen Katastrophe der NS-Diktatur mutig den Neubeginn wagten und Forschung und Lehre an unseren Universitäten wieder aufbauten.

Als Sie 1952 hier in München den Lehrstuhl für Technische Physik übernahmen, waren die Institute zum Teil noch zerstört. Ihre Tätigkeit wurde zusätzlich dadurch eingeschränkt, daß nach dem damals noch geltenden Alliierten Kontrollratsgesetz den Deutschen selbst die Forschung auf dem Gebiet der Kernenergie verboten war. Unsere Bundesrepublik konnte sich glücklich schätzen, daß Persönlichkeiten wie Sie aufgrund ihrer Haltung während des "Dritten Reiches" von der internationalen Wissenschaft als angesehene Repräsentanten Deutschlands akzeptiert wurden.

Forscherpersönlichkeiten wie Sie haben es durch ihren vorbildlichen Einsatz möglich gemacht, daß wir Deutsche auch in der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit bald wieder Vertrauen und Anerkennung erwarben. Das Bekenntnis, das Ihr französischer Weggenosse und Freund eben hier abgelegt hat, hat das sehr viel deutlicher ausdrücken können, als ich es vermochte.

In einigen Bereichen der Forschung gelang der Sprung an die Spitze; dazu gehört ganz sicher die von Ihnen damals neu entwickelte Neutronenphysik. Mitte der fünfziger Jahre haben Sie in Garching innerhalb kürzester Zeit den ersten Forschungsreaktor der Bundesrepublik, das sogenannte "Atom-Ei", verwirklicht. Rückblickend haben Sie einmal gesagt:

". . . überall war die Bereitschaft zu helfen, überall war die Bereitschaft, Entschlüsse zu fassen und sie anzunehmen." So konnten die Reaktor-Neutronenquelle weniger als ein Jahr nach Baubeginn eingeweiht werden. Da wir heute im gleichen Land leben wie damals und die Kinder und Enkel der damals Verantwortlichen genauso tüchtig sind wie ihre Eltern und Großeltern, stelle ich mir die Frage, weshalb wir heute für solche Vorhaben sehr viel länger brauchen.

Der Reaktor wurde zur einer Geburtsstätte vieler bahnbrechender Methoden und zu einer überaus erfolgreichen Versucheinrichtung für Generationen von Physikern. Sie dürfen Genugtuung darüber empfinden, daß kürzlich die erste atomrechtliche Teilgenehmigung für die neue Garchinger Neutronenquelle erteilt worden ist. Dies war ein wichtiger Schritt, damit Ihr Forschungszentrum auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleibt.

Herr Staatsminister Zehetmair, was ich tun kann, um Sie dabei zu unterstützen, werde ich tun. Sie müssen wissen, daß viele von denen, die jetzt kritisch darüber schreiben, in ein paar Jahren das genaue Gegenteil sagen werden. Erfahrungsgemäß ist das so. Daß die Entscheidung für die neue Neutronenquelle richtig ist, will ich von meiner Seite noch einmal nachdrücklich unterstreichen. Sie dürfen sich von den Widerständen nicht beeindrucken lassen. Ich kann Ihnen diesen Rat geben, weil ich nie Widerstände empfinde . . .

Kurz nach Ihrem Wechsel nach München, lieber Herr Maier-Leibnitz, begann Ihre verdienstvolle Tätigkeit als Berater der Bundesregierung. Bereits im August 1955 gehörten sie der deutschen Delegation bei der ersten Genfer Atomkonferenz der Vereinten Nationen zur Erforschung und friedlichen Nutzung der Atomenergie an. Unsere Teilnahme war ein weithin sichtbares Zeichen der Rückkehr Deutschlands in die internationale Wissenschaftsgemeinschaft.

Wenig später wurden Sie vom damaligen Minister für Atomfragen, Franz-Josef Strauß, in die Deutsche Atomkommission berufen. Sie haben auch dort eine wesentliche Rolle gespielt und zu Strategieentwicklung und Konsensbildung entscheidend beigetragen. Die ersten Förderungsprogramme für Atomforschung und Atomtechnik der Bundesregierung trugen erkennbar Ihre Handschrift. Aufgrund Ihrer vielseitigen Interessen und Arbeitsgebiete haben Sie die Bundesregierung später auch in anderen Bereichen beraten. Ich denke etwa an Ihre Empfehlungen als Vorsitzender des "Gutachterausschusses Großinvestitionen in der Grundlagenforschung" zu Projekten der Astronomie und der Geowissenschaften.

In Ihrer Zeit als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1974 bis 1979 haben Sie sich mit besonderem Nachdruck gegen eine staatliche Gängelung der Forschung ausgesprochen und immer wieder auf die Bedeutung gerade der Grundlagenforschung hingewiesen. "Der Planer" ­ so haben Sie es später einmal formuliert "kann nichts geben als Mittel, Personal nach Wunsch, Freiheit und immer wieder Freiheit." In der Tat: Forschung ist zuallererst der Wahrheitssuche verpflichtet, und diesem Auftrag kann sie nur gerecht werden, wenn sie frei ist.

Freiheit umfaßt die Verpflichtung zum Dienst am Allgemeinwohl. Diesem Auftrag haben Sie sich in vorbildlicher Weise über Jahrzehnte gestellt. Es ging Ihnen nicht nur um die Schaffung günstiger politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Wissenschaft: Sie haben gleichzeitig immer wieder betont, daß die Wissenschaft genauso Verantwortung für die Gemeinschaft trägt.

Der Einsicht in die Verantwortung folgt notwendigerweise die Frage nach den ethischen Maßstäben. Deshalb ist auch Ihre Forderung nach Einhaltung einer "akademischen Ethik" nur allzu berechtigt. Wir brauchen gerade in einer Zeit dramatischer Umbrüche klare Einsicht in die Notwendigkeit der Bindung an ethischen Normen. Wir brauchen jene Art von Wahrheitsstreben, die mit Selbstkritik und vor allem mit der Achtung vor dem anderen einhergeht.

Wissenschaftler ­ das kann man gar nicht oft genug betonen ­ müssen das öffentliche Forum suchen, um breite Schichten der Bevölkerung für ihre Arbeit zu interessieren. Sie, lieber Herr Maier-Leibnitz, haben diesen Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit nie gescheut. Dafür danke ich Ihnen ganz besonders. Sie gehören zu den Wissenschaftlern, denen es gelang, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden. Sie haben es auch in einer ganz unnachahmlichen Weise immer verstanden, Politik und Politiker für die Sache der Forschung zu gewinnen. Sie haben gewußt das geht vielleicht auch mit der Kochkunst einher ­, wann man die Sache "zum Kochen" bringen muß.

Lieber Herr Professor Maier-Leibnitz, es ist hier noch ein wichtiges Thema ­ gerade in diesem Jahr 1996, am Beginn der Regierungskonferenz zum geplanten "Maastricht II"-Vertrag ­ zu erwähnen: Sie haben früher als viele andere erkannt, daß Deutschland und die deutsche Wissenschaft keine Zukunft haben, wenn sie sich nach außen abschotten. Sie sind deshalb stets mit besonderem Nachdruck für ein Höchstmaß an Weltoffenheit eingetreten ­ und das bedeutet vor allem auch die Vertiefung europäischer Zusammenarbeit und Integration. Der Weg Deutschlands führt in das Haus Europa; es gibt für uns keinen anderen Weg in die Zukunft.

So entstand Ende der sechziger Jahre in Grenoble auf Ihre Initiative hin in deutsch-französischer Kooperation der leistungsfähigste Forschungsreaktor der Welt. Das, was Sie in München begonnen hatten, wurde mit dem Aufbau des Forschungsinstituts in Grenoble in großem Maßstab fortgesetzt. Es war das erste große deutsch-französische Gemeinschaftprojekt im Bereich der Wissenschaft. Es war ­ wenn Sie so wollen ­ der Durchbruch schlechthin.

Der Erfolg dieses Instituts ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, was in einem immer enger zusammenwachsenden Europa möglich ist. Sie und Ihre Kollegen haben schon damals auf beispielhafte Weise vorgelebt, was wir für morgen erreichen und festigen wollen; einen Kontinent der offenen Grenzen, der Freundschaft und der Zusammenarbeit. So haben Sie sich in ganz unverwechselbarer Weise in das Buch der europäischen Geschichte eingetragen.

Lieber Herr Maier-Leibnitz, wir danken Ihnen für alles, was Sie für unser Land getan haben. Sie haben sich um unser Vaterland verdient gemacht. Wir setzen auch weiterhin auf Ihre Erfahrung und auf Ihren Rat. Vor gut 20 Jahren haben Sie einmal gesagt: ". . . ein Forscher wird nie aufhören, es besser machen zu wollen, ganz sicher nicht, solange ihm das, was er tut, Freude macht." Ich wünsche Ihnen von Herzen Freude, Schaffenskraft und Gottes Segen.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 39. 17. Mai 1996.