8. Mai 1997

Rede bei dem Abendessen, gegeben vom Premierminister von Neuseeland, James Bolger, im Regierungsgebäude in Wellington

 

Sehr geehrter Herr Premierminister,

Frau Oppositionsführerin,

Exzellenzen,

meine Damen und Herren,

 

ich danke Ihnen sehr herzlich für die freundlichen Worte des Willkommens und für den Empfang, den Sie und die neuseeländische Regierung mir und meiner Delegation in Ihrem Land bereitet haben. Ich danke Ihnen für die Wertschätzung, die sich darin für mein Land ausdrückt.

 

Dies ist der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Neuseeland. 1988 mußte ich eine geplante Reise wegen eines Trauerfalls leider kurzfristig absagen. Ich habe damals versprochen, meinen Besuch nachzuholen und freue mich, heute bei Ihnen zu sein.

 

Seit damals hat sich die Welt grundlegend verändert. Die Mauer in Berlin ist gefallen - der Ost-West-Konflikt gehört der Vergangenheit an. Mein Vaterland hat sich in freier Selbstbestimmung in Frieden und Freiheit und mit der Zustimmung all seiner Nachbarn wiedervereint.

 

Für die Unterstützung und Sympathie, die wir in diesem schwierigen Prozeß auch von der neuseeländischen Regierung erhalten haben, möchte ich an dieser Stelle meinen Dank sagen. Der Fall der Berliner Mauer hat auch die Menschen in Neuseeland tief bewegt. Herr Ministerpräsident, ich habe gestern in Ihrem Büro eine Aufnahme von Ihrem damaligen Berlin-Besuch gesehen. Darauf war abgebildet, wie Sie mit einem kleinen Meißel ein Stück aus der Berliner Mauer herausschlugen. Sie haben damit ein gutes Werk getan. Sie haben mit dieser symbolischen Geste zugleich all jenen Ihre Reverenz erwiesen, die dafür gesorgt haben, daß die Mauer fiel. Wir Deutsche werden die Freundschaft und Hilfe, die wir damals aus aller Welt erfahren haben, in unseren Herzen bewahren.

 

Die deutsch-neuseeländischen Beziehungen können auf eine lange Geschichte zurückblicken. Deutsche waren unter den ersten Europäern, die Neuseeland besiedelten, sie hatten daher auch die Chance, an der Entwicklung dieses Landes mitzuwirken. Noch heute sind die Namen des Arztes und Naturforschers Ernst Dieffenbach sowie der beiden Geologen Ferdinand von Hochstetter und Julius Haast in geographischen Bezeichnungen erhalten.

 

Neuseeland genießt in Deutschland große Sympathie. Eine Vielzahl deutscher Gäste besucht Ihr Land Jahr für Jahr. Ich weiß, es ist Ihr Wunsch, daß es noch mehr werden. Ich würde mich sehr darüber freuen! Ich kann meine Landsleute nur ermuntern, die herrlichen unberührten Landschaften Neuseelands und seine überwältigende Fauna und Flora kennenzulernen - von den vulkanischen Gebirgen mit Geysiren und den schroffen Fjordküsten bis zu den weiten, fruchtbaren Talebenen. Die wenigen Stunden, die ich heute Gelegenheit hatte, Ihr Land zu bereisen, haben in mir einen großartigen Eindruck hinterlassen. Dies gilt vor allem auch für die tiefe und herzliche Gastfreundschaft hierzulande.

 

Die Neuseeländer gelten bei uns in Deutschland als Menschen, die sich zu behaupten und durchzusetzen wissen. In den vergangenen Jahren hat Ihr Land in beeindruckender Weise gezeigt, welche Wachstumsdynamik eine freiheitliche und zukunftsoffene Gesellschaft in Gang setzen kann. Die konsequenten Strukturreformen, die Politik der Liberalisierung, der Deregulierung und der Privatisierung haben weltweit hohe Anerkennung gefunden. Auch wir in Deutschland wissen, wie schwierig es besonders in Krisenzeiten ist, für ein solch mutiges Reformwerk einen Konsens in Politik und Gesellschaft zu finden. Um so mehr gebührt Ihnen Respekt und Anerkennung.

 

Gewiß werden wir auch in Deutschland unsere gegenwärtigen Probleme lösen. Daran gibt es für mich keinen Zweifel. Beim Aufbau der neuen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen im Osten unseres Landes haben wir bereits große Fortschritte erzielt. Aber es bleiben noch große Herausforderungen zu bewältigen. Das Deutschland des Jahres 1997 ist ein Land im Umbruch. Wir haben die Deutsche Einheit erreicht, aber damit stellt sich zugleich die Aufgabe, rund 80 Millionen Deutsche, die lange Zeit unter völlig unterschiedlichen Bedingungen gelebt haben, in einem vereinten Land zusammenzuführen.

 

Der erfolgreiche Aufbau in den östlichen Bundesländern ist ein entscheidender Beitrag, den wir zur Zukunftssicherung Deutschlands leisten können. Die neuen Bundesländer bieten im übrigen hervorragende Möglichkeiten für Investitionen, die gleichzeitig den Zugang zum Markt der Europäischen Union mit seinen 370 Millionen Einwohnern eröffnen. Die Nähe Ostdeutschlands zu den wachsenden Märkten in Mittel- und Osteuropa ist ein weiterer Vorteil von besonderer Bedeutung.

 

Herr Ministerpräsident, Sie haben mich auf die große Aufgabe der europäischen Einigung angesprochen. Von Konrad Adenauer, dem ersten Bundeskanzler unserer Bundesrepublik Deutschland, stammt ein Wort, das ich als junger Mensch - wie viele andere auch - als richtungsweisend empfunden und mir gut gemerkt habe. Er rief uns in den 50er Jahren zu: "Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille."

 

Das ist eine entscheidende Grundlage deutscher Politik. Wenn wir uns jetzt zufriedengeben würden, nachdem die Deutsche Einheit erreicht ist, und nicht zugleich gemeinsam mit unseren Nachbarn, Freunden und Partnern das Haus Europa bauten, dann würden wir vor der Geschichte versagen. Sie können im übrigen versichert sein, daß wir dieses Haus jetzt bauen - und nicht erst in späteren Jahren. Wenn jetzt die Europäische Union mit über 370 Millionen Einwohnern feste Gestalt annimmt, ist dies der größte und stärkste Wirtschaftsraum der Welt.

 

Herr Ministerpräsident, es ist mein herzlicher Wunsch, daß Ihr Land in möglichst engen Beziehungen mit der Europäischen Union stehen möge. Wir wollen dazu unsere Hilfe und Unterstützung anbieten. Auch die bilateralen Beziehungen zwischen unseren Ländern, die Beziehungen zwischen Neuseeland und Deutschland, werden durch diese Entwicklung eine neue Qualität bekommen. Ich denke dabei nicht nur an den Bereich der Politik, sondern vor allem auch an die Bereiche Wirtschaft, Forschung und kulturelle Beziehungen sowie an den Austausch und die Begegnungen junger Menschen in Neuseeland und in Deutschland.

 

In einem immer engeren Zusammenwirken liegen für uns alle - Neuseeländer und Deutsche, die pazifische Region und Europa - gewaltige Zukunftschancen. Wir sehen, wie sich überall in der Welt neue Strukturen bilden: in Europa, in Nord- und Südamerika mit der NAFTA und dem MERCOSUR sowie hier in Ihrer Region mit APEC und auch innerhalb der ASEAN. Für uns ist diese Zusammenarbeit innerhalb der Regionen eine ganz entscheidende Verbesserung. Vor allem aber, so glaube ich, ist es eine neue Chance für Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert. Es ist auch eine Chance, all jenen besser zu helfen, die bei der Bekämpfung von Hunger und Not dringend auf Unterstützung angewiesen sind.

 

Ich sage dies als ein Deutscher, der als Schulkind selbst noch bittere Not erlitten und nicht vergessen hat, wie uns nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Nazibarbarei andere geholfen haben. Ich weiß aus eigenem Erleben, was es für uns Deutsche bedeutete, daß vor bald 50 Jahren Harry S. Truman und George C. Marshall den Marshall-Plan begründet haben, der die Voraussetzung auch für den ökonomischen Wiederaufstieg unseres Volkes war.

 

Manchmal habe ich den Eindruck, Herr Ministerpräsident, viel zu wenige Menschen - auch bei uns in Deutschland - erkennen die einmalige Chance, die wir jetzt am Ende dieses Jahrhunderts haben - nämlich die Chance für mehr Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit in der Welt. Wie wichtig dies ist und was es für die Zukunft bedeutet, habe ich heute morgen sehr stark empfinden können, als ich zur Ehrung und zur Kranzniederlegung am National War Memorial war. Man steht dort vor einer modernen und sehr eindrucksvollen Plastik, die eine Mutter mit zwei Kindern zeigt: Die Mutter trauert um ihren Mann und die Kinder um ihren Vater. Angesichts einer solch bewegenden Skulptur gehen unsere Gedanken zurück an die vielen Menschen, die im Krieg geblieben sind. Wir denken auch an jene jungen Männer aus Neuseeland, die in zwei Kriegen nach Europa zogen und nicht wiedergekommen sind.

 

Die beste Botschaft, Herr Ministerpräsident, die zum Ende des 20. Jahrhunderts von Europa ausgeht, ist doch die, daß das vereinte Europa nie wieder Krieg führen wird. So wichtig Euro, Wirtschaft und Währung sind - das Wichtigste ist, daß Friede und Freiheit erhalten bleiben und daß nie wieder junge Männer in den Krieg ziehen müssen.

 

Auf diese Entwicklung, Herr Ministerpräsident, meine Damen und Herren, möchte ich das Glas erheben - darauf, daß die jungen Menschen in unseren Völkern in einer anderen, einer friedlicheren Welt leben, als wir Älteren sie erlebt haben. Lassen Sie uns gemeinsam dazu beitragen, daß dies für alle Zeit so bleibt. Ich trinke auf eine glückliche und friedvolle Zukunft für Neuseeland und für Deutschland. Lang lebe die Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 54. 25. Juni 1997.