8. Mai 1998

Rede anlässlich des 112. Zentralverbandstages von Haus & Grund Deutschland in Bremen

 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Scherf,
lieber Herr Präsident Jahn,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
verehrte Gäste und Freunde aus dem Ausland,

 

I. 

 

vorweg eine Bemerkung zu den Geschichtsbüchern, von denen Sie, Herr Jahn, gerade gesprochen haben. Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich diesen Begriff im Zusammenhang mit meiner Person immer mit einem gewissen Mißbehagen höre. Wer in den Geschichtsbüchern steht, ist der Gegenwart entrückt. Ich aber bin, wie Sie sehen, voll da - und ich habe vor, noch einige Zeit zu bleiben und auch auf weiteren Delegiertentagen zu Ihnen zu sprechen.

 

Über den Eingang in die Geschichtsbücher entscheidet im übrigen nicht die jeweils lebende Generation. Darüber entscheiden diejenigen, die nach uns kommen. Wir können es an einem einfachen Beispiel aus der Kirchengeschichte feststellen. Als Papst Pius XII. starb, konnten sich manche einen würdigen Nachfolger kaum vorstellen. Dann kam Papst Johannes XXIII. - und wenn Sie heute in die Krypta des Petersdoms hinabsteigen und dorthin gehen, wo die meisten Blumen liegen, führt Sie der Weg zu Johannes XXIII. So hat die Geschichte ihre eigene Entscheidung getroffen.

 

Meine Damen und Herren, der 100. Geburtstag von Haus & Grund Bremen, zu dem ich Ihnen die herzlichen Glückwünsche der Bundesregierung überbringe, ist eine gute Gelegenheit zur Rückschau und zum Ausblick. Wer die eigene Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht begreifen und die Zukunft nicht gestalten - dieser einfache Satz ist von beständiger Gültigkeit. Der heutige Tag - weniger als zwei Jahre vor dem Beginn eines neuen Jahrhunderts - ist der richtige Anlaß, um innezuhalten und zu fragen: Wo stehen wir? Was müssen wir tun?

 

Vor fast hundert Jahren, am 1. Januar 1900, hat Kaiser Wilhelm II. in der ihm eigenen Weise gesagt: Dieses neue Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Rationalität und des Kindes sein. Dies auszusprechen läßt uns heute stocken. Welch eine Rationalität in einem Jahrhundert, das Auschwitz erlebt hat, zwei Weltkriege, Millionen und Abermillionen Tote! Welch eine Rationalität auch angesichts zweier Diktaturen auf deutschem Boden - einer braunen und einer roten - und zwei Inflationen, die die Vermögenswerte breiter Schichten unseres Volkes vernichtet haben - mit allen schrecklichen Konsequenzen für die soziale und politische Entwicklung unseres Landes. Aus dieser Geschichte können wir nicht aussteigen - es ist unsere Geschichte. Aber wir können und sollen den Versuch wagen, aus der Geschichte zu lernen.

 

Am Ende dieses Jahrhunderts befindet sich unsere Welt, befinden sich alle Kontinente und Länder inmitten eines dramatischen Veränderungsprozesses. Ich mache dies an wenigen Beispielen deutlich. Vor einigen Tagen konnten wir in den Zeitungen eine versteckte Notiz lesen, derzufolge in den Regierungen der amerikanischen Staaten, in Süd-, Mittel- und Nordamerika, ernsthaft über eine Freihandelszone für ganz Amerika diskutiert wird. Dies würde einen Raum von über 700 Millionen Menschen umfassen. Natürlich weiß ich, daß dies nicht morgen Wirklichkeit werden wird. Doch die Perspektive ist da - und ihre Verwirklichung hätte für uns alle enorme Konsequenzen.

 

Ich nenne ein weiteres Beispiel für die tiefgreifenden Veränderungen, in denen wir uns befinden: die Entwicklung der Weltbevölkerung. In etwa zwanzig Jahren werden statt derzeit sechs Milliarden dann acht Milliarden Menschen auf der Erde leben. Die Fragen, die wir uns bereits heute stellen müssen, lauten: Wie werden sich diese Menschen ernähren können? Wie werden sie ein menschenwürdiges Leben führen können? Diese Fragen berühren uns Europäer, uns Deutsche ganz unmittelbar. Sind die Probleme, die mit dem Wachstum der Weltbevölkerung verbunden sind, dadurch zu lösen, daß wir bei uns die Grenzen aufmachen und die Menschen zu uns hereinlassen? Es gibt manche, die dies im Brustton der Überzeugung vertreten - und die der Mehrheit derjenigen, die nicht so denkt, eine ausländerfeindliche Haltung unterstellt.

 

Lassen Sie sich das nicht einreden, meine Damen und Herren! Deutschland ist ein Land, das auch seine Grenzen kennen muß. Wir können die Probleme dieser Erde nicht durch Auswanderungen nach Europa, nach Deutschland lösen. Die Unterstützung, die wir leisten können, ist Hilfe zur Selbsthilfe vor Ort in den jeweiligen Herkunftsländern. Dort müssen Voraussetzungen geschaffen werden, damit die Menschen sich nicht veranlaßt fühlen, ihre Heimat zu verlassen.

 

Deutschland ist ein weltoffenes Land. Wir sind dies allein schon aus wirtschaftlicher Vernunft. Die zweitstärkste Exportnation der Welt kann sich nicht als Festung begreifen - beides paßt nicht zusammen. Wir sind aber vor allem auch deshalb ein weltoffenes Land, weil wir aus unserer eigenen Geschichte wissen, was es bedeutet, Flüchtling zu sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben über zwölf Millionen Flüchtlinge in unserem Land gelebt.

 

Wir Deutschen haben damals Hilfe von anderen erhalten - ich denke dabei insbesondere an den Marshall-Plan. Gerade weil wir wissen, was es heißt, bittere Not zu leiden, ist die Bereitschaft, anderen in ähnlicher Situation zu helfen, eine Frage des moralischen Anspruchs an uns selbst. Wir haben allein aus Bosnien, aus dem früheren Jugoslawien, rund 350000 Flüchtlinge aufgenommen. Wir helfen - aber nicht in der Form, daß wir uns selbst dabei aufgeben. Dies ist der entscheidende Punkt, den wir in diesem Zusammenhang klar und deutlich aussprechen müssen.

 

Meine Damen und Herren, ungeachtet tiefgreifender, auch schwieriger Veränderungen um uns herum haben wir Deutschen keinen Anlaß zur Resignation - im Gegenteil. Wir haben an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Grund zur Freude, zu einem realistischen Optimismus. Nach der schlimmen ersten Hälfte dieses Jahrhunderts - ich hatte gerade davon gesprochen - leben wir in den vergangenen fünfzig Jahren in Frieden und seit zehn Jahren, seit dem Geschenk der Deutschen Einheit, wiedervereinigt in Freiheit. Die Wiedervereinigung unseres Landes wäre nicht möglich gewesen ohne unsere feste Einbettung in Europa.

 

Alle brauchen Europa - aber wir Deutschen sind ganz besonders auf den Erfolg des europäischen Einigungsprozesses angewiesen. Deutschland ist mit achtzig Millionen Menschen das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Europas. Wir haben die längsten Grenzen und die meisten Nachbarn. Und wir sind - dies wissen alle außerhalb der deutschen Staatsgrenzen, nur bei uns wird es gelegentlich bestritten - das wirtschaftlich stärkste Land. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an eine Aussage von François Mitterrand, die er nach der Wiedervereinigung geäußert hat: Es ist wahr, daß die Deutschen jetzt Probleme mit der Deutschen Einheit haben. Aber sie wären keine wirklichen Deutschen, wenn sie diese Probleme nicht lösen würden. Danach - und dieser Zusatz ist kennzeichnend für das französische Denken - werden sie stärker sein als jemals zuvor.

 

Bevölkerungsgröße und wirtschaftliche Stärke lösen bei unseren Nachbarn nicht nur Bewunderung, sondern auch Ängste aus. Natürlich spielt unsere Geschichte dabei eine Rolle. Richtig ist, daß zwei Drittel der heute lebenden Deutschen - und bei unseren Nachbarn verhält es sich ganz ähnlich - den Zweiten Weltkrieg und die Hitler-Zeit nicht selbst erlebt haben. Dies bedeutet im Umkehrschluß, daß ein Drittel der Menschen in Polen, Frankreich, Luxemburg und all unseren anderen Nachbarländern noch eine sehr genaue Erinnerung an diese Zeit hat.

 

Ich denke zum Beispiel zurück an eine dramatische Sitzung im Dezember 1989 im Kreis meiner Kollegen aus der Europäischen Union. Viele fürchteten mit Blick auf die Deutsche Einheit, die sich damals langsam abzeichnete, daß die Deutschen sich von NATO und Europäischer Gemeinschaft - wie sie damals noch hieß - entfernen könnten. Während einer Pause in dieser sehr heftigen und leidenschaftlichen Sitzung sagte eine Kollegin, der niemand unterstellen kann, daß sie uns Deutschen stets ihre ungeteilte Wertschätzung entgegengebracht hätte: Zweimal haben wir sie geschlagen, jetzt sind sie wieder da.

 

Die Schlußfolgerung für uns Deutsche aus all diesem lautet: Wir wollen mit unseren Nachbarn in Europa gemeinsam den Weg in die Zukunft gehen - selbstverständlich ohne unsere Identität dabei aufzugeben. Das Haus Europa, das wir bauen, wird keine gesichtslose, graue Einheitsfassade haben. Wir bleiben Deutsche, wir bleiben Franzosen, wir bleiben Dänen, wir bleiben Briten oder Italiener. Thomas Mann hat es auf die prägnante Kurzformel gebracht - ich sage es für uns Deutsche und mit meinen eigenen Worten -: Ich bin ein deutscher Europäer und ein europäischer Deutscher. Dies ist die richtige Definition - und dazu gehört natürlich auch, daß wir keinen europäischen Zentralstaat errichten.

 

Gelten muß das Prinzip der Subsidiarität. Entscheidungen sollen dort getroffen werden, wo sie am besten im Sinne des Bürgers getroffen werden können. Dies kann im Rathaus der Heimatgemeinde sein. Dies kann in der Region - wir würden sagen: im Bundesland - sein, dies kann ebenso auf der nationalstaatlichen Ebene oder auch in Europa sein. Für uns Deutsche füge ich an dieser Stelle mit aller Entschiedenheit hinzu: Mit uns wird es einen europäischen Superstaat zentralistischer Prägung mit Sicherheit nicht geben! Ich habe gemeinsam mit meinen französischen Kollegen und Freunden für den nächsten Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs eine Initiative dazu angekündigt, wie wir Europa bürgernäher gestalten können.

 

II. 

 

Meine Damen und Herren, ein ganz wichtiger Meilenstein im europäischen Einigungsprozeß ist die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion. Am vergangenen Wochenende haben die EU-Staats- und Regierungschefs grünes Licht gegeben für eine einheitliche europäische Währung in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal und Spanien. Ich bin sicher, daß in den kommenden Jahren weitere Länder hinzukommen werden. Ich nenne nur Großbritannien, Schweden, Dänemark oder Griechenland und in der weiteren Zukunft - wenn sie dazu in ihren Ländern die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben - die Beitrittskandidaten aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Länder wie die Tschechische Republik, Polen oder Ungarn.

 

Die Entscheidung vom vergangenen Wochenende wird das Leben und den Zusammenhalt von Millionen von Europäern im nächsten Jahrhundert prägen. Die Kinder, die heute geboren werden, wachsen ganz selbstverständlich in dem Bewußtsein auf, daß in weiten Teilen Europas eine einzige Währung gilt. Daraus wird sich ein neues Gefühl der Gemeinsamkeit und der Zusammengehörigkeit entwickeln. Die Bedeutung dieses Integrationsprozesses ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. In diesem gemeinsamen Währungsgebiet, im Haus Europa, wie ich es beschrieben habe, ist Krieg nicht mehr denkbar - eine befreiende Botschaft am Ende dieses Jahrhunderts, das so schrecklich begann.

 

Währungen waren schon immer mehr als nur Zahlungsmittel. Sie sind immer auch ein Stück kultureller Identität und ein Gradmesser politischer Stabilität. Gerade bei uns in Deutschland weckt das Thema Euro verständlicherweise besonders tiefe Emotionen. Ich sage dies immer wieder gerade auch meinen vielen ausländischen Gesprächspartnern: Die Einführung der D-Mark im Juni 1948 war für die Deutschen ein Zeichen der Hoffnung in schwierigster Zeit.

 

Das Elend der eigenen Geschichte ist den Menschen in seiner ganzen Wucht erst in den Monaten nach 1945 ins Bewußtsein gerückt: die Akte der Barbarei, die in deutschem Namen begangen worden waren, die vergebliche Hoffnung der Flüchtlinge und Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Heimat, die Teilung Deutschlands, die Erkenntnis von Millionen Frauen, daß ihre Männer nicht mehr aus dem Krieg zurückkommen würden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Von den 260000 Soldaten, die in Stalingrad in Gefangenschaft gerieten, sind später gerade zehn Prozent heimgekehrt. Es ist kein Zufall gewesen - das sollten wir nie vergessen -, daß die Zahl der Selbstmorde in Deutschland nie so hoch war wie zu Weihnachten 1947.

 

Dies war die Zeit, in der die USA mit dem Marshall-Plan Deutschland die Hand ausstreckten. Und dies war auch die Zeit, in der die D-Mark eingeführt wurde. Manche Währungsexperten haben ihr damals nahezu keine Chance gegeben. Inzwischen gehört sie mit Dollar und Yen zu den stärksten Währungen der Welt. Dies ist vor allem das Ergebnis des Leistungswillens und des unbedingten Mutes zur Zukunft der Aufbaugeneration ebenso wie der Generationen, die ihnen nachfolgten. Warum sollten wir heute daran zweifeln, daß wir zu gleichem fähig sind? Wir stammen von dieser Generation ab - und wir haben keinen Anlaß, uns einzureden, wir seien schwächer als unsere Vorfahren.

 

Dieser Rückblick zeigt in aller Deutlichkeit, warum der großen Mehrheit der Deutschen der Abschied von der D-Mark besonders schwerfällt. Die Bundesregierung nimmt die damit verbundenen Ängste und Sorgen der Bürger sehr ernst. Deshalb haben wir stets darauf beharrt, daß alle notwendigen Vorkehrungen für eine dauerhafte Stabilität des Euro getroffen werden. Ich nenne als Beispiel nur die Einrichtung der unabhängigen Europäischen Zentralbank. Wir sollten dabei nicht vergessen, daß das Zusatzwort "unabhängig" für Länder wie zum Beispiel Frankreich eine ganz neue Erfahrung ist - die Franzosen haben hier einen viel weiteren Weg als wir Deutschen zurücklegen müssen.

 

Am vergangenen Wochenende hat der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs sich auf einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank verständigt. Es ist der Kandidat, den wir wollten - und dies gilt vor allem auch für mich. Wir haben ihn für die volle Amtszeit von acht Jahren vorgeschlagen. In seiner Entscheidung steht, ob und wann er seine Amtszeit begrenzen will oder ob er dies nicht tun will. Ihm steht im Direktorium eine hervorragend qualifizierte Mannschaft zur Seite, die die besten Experten Europas vereint. Ich bekenne allerdings auch freimütig: Die äußeren Umstände dieser Entscheidung waren schädlich und für mich in höchstem Maße unerfreulich. Der Beschluß, der gefaßt wurde, ist ausgezeichnet - nur hätte er bereits am Samstag nachmittag und nicht erst in den frühen Morgenstunden des Sonntags gefaßt werden müssen.

 

Tatsache ist und bleibt aber: Die Europäische Zentralbank kommt - mit einer hervorragenden Besetzung, und sie kommt nach Frankfurt am Main. Diese Standortwahl ist ein Signal dafür, daß sich die neue gemeinsame Währung in Sachen Stabilität mit der D-Mark messen kann. Ich habe in diesem Zusammenhang stets mit Erstaunen festgestellt, daß die Entscheidung für Frankfurt - und dies bedeutet, daß diese Stadt in wenigen Jahren neben der Wall Street in New York und neben London einer der großen Bankenplätze sein wird - in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Besonders bemerkenswert aber ist, daß einige in Frankfurt sich nach dieser Entscheidung sogleich Gedanken gemacht haben über die Auswirkungen auf das örtliche Mietenniveau - eine sehr deutsche und zugleich sehr beschränkte Reaktion, um dies an dieser Stelle klar und deutlich zu sagen.

 

Die Voraussetzungen für eine dauerhafte Stabilität des Euro sind hervorragend. In Europa hat sich in den letzten Jahren eine beispiellose Stabilitätskultur entwickelt, die vor zehn Jahren noch niemand für möglich gehalten hätte. Die durchschnittliche EU-Preissteigerungsrate liegt derzeit bei 1,5 Prozent, bei Abschluß des Maastricht-Vertrages 1991 waren es noch 5,5 Prozent gewesen. Auch die langfristigen Zinsen liegen heute deutlich unter dem damaligen Niveau. Die internationalen Börsen - ein untrüglicher Gradmesser für das Vertrauen in die Stabilität einer Währung - haben den Euro rundum positiv beurteilt. Ich denke dabei gerade an die Einschätzung der vielen jungen Analysten in den Bankhäusern und an den Börsenplätzen der Welt. Sie denken sehr viel weiter als andere, weil ihr Leben weiter reicht. Ihr Urteil ist deshalb von besonderer Bedeutung.

 

Meine Damen und Herren, gerade für Deutschland als zweitgrößte Exportnation der Welt ist die Einführung des Euro von grundlegender Bedeutung. Jeder fünfte Arbeitsplatz in unserem Land hängt vom Export ab. Um so wichtiger ist es, Arbeitsplätze in unserer Exportwirtschaft so gut wie möglich vor Wechselkursrisiken zu schützen. Gerade die Beschäftigten deutscher Unternehmen - ich denke dabei nur an die Automobilindustrie - waren in der Vergangenheit oft Leidtragende, wenn die D-Mark gegenüber anderen europäischen Währungen massiv aufgewertet wurde. Mehr als 40 Prozent unserer Ausfuhren gehen in die Länder, die beim Start der Währungsunion von Anfang an dabei sind. Gegenüber diesen Ländern bestehen künftig keine Wechselkursrisiken mehr. Dies bedeutet auch weniger Risiken für exportabhängige Arbeitsplätze.

 

Die Europäische Währungsunion ist zugleich die richtige Antwort auf den immer schärferen globalen Standortwettbewerb zwischen Staaten und Regionen. Mit der Euro-Zone entsteht ein einheitlicher Markt mit gemeinsamer Währung für zunächst 300 Millionen Menschen und einem Anteil von rund 20 Prozent am Welteinkommen - vergleichbar dem Anteil der USA. Natürlich weiß ich, daß der Euro kein Patentrezept ist, der bei uns oder in anderen Ländern Europas die Probleme auf dem Arbeitsmarkt gleichsam über Nacht lösen wird - doch er hilft, sie zu bekämpfen. Wahr ist: Das Erledigen unserer Hausaufgaben nimmt uns niemand ab - ob mit oder ohne Euro. Doch erst mit der Fortsetzung unseres Kurses der Reformen und der Zukunftssicherung wird auch der Euro seine positiven Wirkungen für Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland voll entfalten.

 

III. 

 

Meine Damen und Herren, die historischen Entscheidungen von Brüssel zur Einführung des Euro stehen am Ende eines wechselvollen Jahrhunderts mit Höhen und Tiefen. Dies spiegelt sich auch in der hundertjährigen Geschichte des Landesverbandes Haus & Grund Bremen wider. Die Geschichte dieses Verbandes ebenso wie die Geschichte der anderen Mitgliedsverbände von Haus & Grund Deutschland steht für das vorbildliche Engagement für das private Haus-, Wohnungs- und Grundeigentum. Wer die Geschichte vor allem dieses Jahrhunderts kennt, der weiß, daß das Prinzip Eigentum mit dem Prinzip Freiheit unlösbar verbunden ist.

 

Alle Diktaturen haben entweder erst die Freiheit und dann das Eigentum oder erst das Eigentum und dann die Freiheit eingeschränkt. Der Schutz des Eigentums muß deshalb - ungeachtet der Gefahr des Eigentumsmißbrauchs, die es wie überall anderswo natürlich auch hier gibt - zu den Grundprinzipien unserer Gesellschaft gehören. Der Satz "Das ist zunächst ein Anschlag auf Sachen und nicht auf Menschen", der gelegentlich zu hören ist, zeugt von einem besonders infamen Denken. Wir wissen aus der Geschichte, daß sich beides nie trennen läßt.

 

Eigentum am Haus, an Grund und Boden ist zugleich ein Stück gelebter Freiheit, ein Stück Unabhängigkeit und Sicherheit in den eigenen vier Wänden. Bei meiner Ankunft bin ich von einem Journalisten gefragt worden, ob auch ich Hauseigentümer sei. Ich habe dies bejaht und erzählt, wie meine Frau und ich uns in der Nachkriegszeit dafür krummgelegt haben. Die Freuden und die Mühen des Hausbesitzers sind mir deshalb sehr vertraut. Aber das Ziel war klar: Wir wollten in den eigenen vier Wänden leben. Und es ging uns um ein Stück Vermögenssicherung und auch ein Stück persönliche Zukunftssicherung.

 

Eine breite Vermögensbildung beim Produktivkapital - für die ich leidenschaftlich eintrete - ist kein Gegensatz zum Hauseigentum - wir brauchen beides in Deutschland. Wahr ist - und darüber sprechen wir heute -, daß wir beim Haus- und Grundbesitz in Deutschland noch viel zu tun haben. Im Vergleich mit anderen Ländern Europas liegen wir in dieser Disziplin immer noch weit zurück. Natürlich ist es eine erfreuliche Entwicklung, daß die Wohneigentumsquote in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen hat. Doch ein Vergleich mit anderen EU-Mitgliedstaaten fällt für Deutschland wenig schmeichelhaft aus - ich werde dies hier nicht vortragen.

 

Den Rückstand, den wir im europäischen Vergleich aufweisen, müssen wir abbauen. Ich sage dies nicht zuletzt in Erinnerung an einen historischen Briefwechsel zwischen August Bebel und dem Arzt Dr. Schreber, des Namenspatrons der Kleingartenanlagen. Bebel konnte sich für die Initiative, die Schreber ins Leben gerufen hatte, nicht erwärmen, und er begründete dies mit den Worten: Ein Mann, der ein Haus und einen Garten hat, hat keine Zeit für die Bewegung - so nannte er es damals. Daran, meine Damen und Herren, habe ich nichts auszusetzen.

 

Das private Wohneigentum muß in unserer Gesellschaft ein stärkeres Gewicht erhalten. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist unsere Reform der Wohneigentumsförderung, die seit 1996 in Kraft ist. Ein großes Stück sind wir beim Thema Wohneigentum in den neuen Bundesländern vorangekommen. Seit der Wiedervereinigung haben sich die Wohnbedingungen für die Menschen dort grundlegend verbessert. Über eine halbe Million Wohnungen sind inzwischen in den neuen Bundesländern neu gebaut worden - 178000 davon allein im vergangenen Jahr. Über vier Millionen Wohnungen, das sind mehr als die Hälfte aller Wohnungen, sind seither modernisiert oder instandgesetzt worden. Die Bundesregierung hat diese positive Entwicklung massiv unterstützt.

 

Seit dem 1. Januar 1998 ist in den neuen Bundesländern der Übergang vom alten System preisgebundener Mieten zum bewährten Vergleichsmietensystem praktisch abgeschlossen worden. Wir können bei dieser Gelegenheit feststellen, daß der Übergang zur Vergleichsmiete gelungen ist, ohne daß es zu dem von vielen befürchteten Mietenschub zu Lasten der ostdeutschen Mieter gekommen wäre. Wahr ist aber auch: Wir haben in dieser Legislaturperiode nicht alle Ziele erreicht. Die weitere Vereinfachung des Mietrechts zum Beispiel muß auf der Tagesordnung bleiben - und zwar mit einem vernünftigen Interessenausgleich zwischen Mietern und Vermietern.

 

Dies gilt ebenso für weitere Verbesserungen beim Wohngeld. Wenn es richtig ist, daß mehr Haus- und Grundbesitz in privater Hand die Statik unserer Gesellschaft zusätzlich stabilisiert - und ich habe von niemandem gehört, daß dies nicht richtig sei -, dann müssen wir auch auf diesem Weg vorangehen. Auf den Weg gebracht hat die Bundesregierung eine neue Initiative zur Vermögensbildung. Damit erhält auch das Bausparen erneut wichtige Impulse. Der Deutsche Bundestag hat dem Gesetzentwurf am 30. April zugestimmt. Nun warten wir alle mit Spannung darauf, was die Wortführer im Bundesrat dazu zu sagen haben.

 

IV. 

 

Meine Damen und Herren, Deutschland steht an der Schwelle zum 21. Jahrhundert vor großen Herausforderungen in einer Welt, die sich tiefgreifend verändert. Wir haben alle Chancen, diese Herausforderungen zu bestehen, wenn wir unsere Probleme offensiv angehen. Wir müssen uns zum Beispiel einstellen auf die zunehmende Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen. Ein Beispiel macht die Dynamik dieser Entwicklung deutlich: Die grenzüberschreitenden Direktinvestitionen wachsen mit 19 Prozent heute dreimal so stark wie die Weltproduktion mit 6,5 Prozent. Dabei ist es ein Alarmsignal für uns Deutsche, daß ausländische Investoren - ich nenne nur dieses Beispiel - in den letzten Jahren fast achtmal so viel in Großbritannien investiert haben wie in Deutschland.

 

Wir müssen gerade vor diesem Hintergrund begreifen, daß die Art und Weise, in der wir bei uns über das Steuerrecht diskutieren, absurd ist. Die Höhe der Steuersätze hat natürlich unmittelbare Auswirkungen auf das Engagement jedes einzelnen Steuerpflichtigen. Diese Frage hat ebenso - und das zeigt das Beispiel Großbritannien - etwas zu tun mit der Attraktivität des Standortes Deutschland. Ich stelle es immer wieder fest bei Gesprächen mit potentiellen Investoren aus dem Ausland. Sie loben die guten Standortbedingungen bei uns - aber wenn das Gespräch sich dem Thema Steuern zuwendet, winken sie ab.

 

Dabei brauchen wir gerade in den neuen Bundesländern noch viel mehr ausländische Investitionen. Ich denke zum Beispiel an das Engagement der General Motors Tochter Opel in Eisenach - ein hochmodernes Automobilwerk, das in der internen Rangskala dieses Weltkonzerns ganz oben steht. Mein Wunsch ist es, daß wir mehr solcher Investitionen für Deutschland gewinnen - doch mit unserem gegenwärtigen Steuerrecht wird uns dies nicht gelingen. Im Gegenteil: Unsere Nachbarn in der Region Vorarlberg in Österreich - ich nenne dieses Beispiel stellvertretend für andere - verschicken Briefe an deutsche Unternehmen, in denen mit Hinweis auf die viel niedrigeren Steuersätze in Österreich dafür geworben wird, dort zu investieren. Ein Machtwort des Bundeskanzlers hilft hier wenig. Wir müssen Fakten schaffen.

 

Deshalb: Nicht um die Menschen zu quälen, sondern um die Zukunft unseres Landes zu sichern, müssen wir den Kurs der Reformen und Veränderungen fortsetzen. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren ein umfangreiches Maßnahmenprogramm durchgesetzt - vieles davon gegen erbitterte Widerstände. Ich nenne die Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Vor zwei Jahren, am 1. Mai 1996 - schien deshalb die Welt unterzugehen, der DGB hatte dies zum Anlaß für eine große Demonstration genommen.

 

Heute können wir feststellen, daß die Welt nicht untergegangen ist. Im Gegenteil: Ergebnis unserer Reform ist, daß die Unternehmen von Arbeitskosten in Höhe von rund 20 Milliarden D-Mark entlastet worden sind. Darüber hinaus ist der Krankenstand auf das niedrigste Niveau seit Jahrzehnten gesunken. Wer jetzt ankündigt, er wolle die Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wieder zurücknehmen, kündigt damit zugleich - auch wenn es nicht offen ausgesprochen wird - eine Erhöhung der Lohnzusatzkosten in der Größenordnung von 1,5 Beitragssatz-Punkten zur Sozialversicherung an.

 

Die Bundesregierung hat darüber hinaus den Umbau des Sozialstaats vorangetrieben - nicht als Selbstzweck, sondern weil die sich abzeichnenden tiefgreifenden Veränderungen im Altersaufbau unserer Bevölkerung Reformen erzwingen. Deutschland hat nach Spanien und Italien die niedrigste Geburtenrate in der Europäischen Union. Die Menschen in unserem Land werden - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - immer älter. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt bei Frauen 79 Jahre, bei Männern sind es 73 Jahre. Über drei Millionen Menschen in Deutschland sind 80 Jahre oder älter - und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wird weiter zunehmen. Dies bedeutet, daß die Bevölkerungspyramide in Deutschland mehr und mehr auf dem Kopf steht.

 

Die Konsequenzen dieser Entwicklung lassen sich leicht ausrechnen - dafür sind keine Kenntnisse der höheren Mathematik notwendig, es reicht die Anwendung der Grundrechenarten. Für mich steht dabei fest: Wir wollen den Sozialstaat erhalten. Ich wende mich mit aller Entschiedenheit dagegen, zum Beispiel in unserem Gesundheitssystem Regelungen einzuführen - in einigen Ländern Europas ist dies üblich -, die älteren Menschen bestimmte medizinische Versorgungen vorenthalten - zum Beispiel Bypässe oder Hüftoperationen. Dies steht für mich in fundamentalem Widerspruch zum Grundsatz der Solidarität der Generationen.

 

Ich stehe dafür, unser System der sozialen Sicherung zu erhalten - und es für die Zukunft bezahlbar zu machen. Deshalb hat die Bundesregierung die Gesundheitsreform fortgesetzt. Und deshalb haben wir die Rentenreform durchgesetzt. Natürlich ist die Rente für die jetzige Rentnergeneration sicher. Aber sie ist in dieser Form nicht bezahlbar für die jetzt heranwachsende Generation. Es ist unsere moralische Pflicht, sowohl an die heutigen Rentner zu denken als auch an die jetzt 20- und 25jährigen, die nach menschlichem Ermessen das Jahr 2050 erleben werden und sich und uns heute fragen: Wie wird es dann mit meiner Rente aussehen?

 

V. 

 

Meine Damen und Herren, die Früchte unserer Politik der Reformen und Veränderungen sind immer deutlicher ablesbar an der wirtschaftlichen Entwicklung. Die deutsche Wirtschaft befindet sich auf Wachstumskurs. Herr Bürgermeister, Bremen ist beim Wirtschaftswachstum inzwischen nach Hessen auf den zweiten Platz vorgestoßen. Ich habe den Eindruck, daß es vielleicht doch ganz nützlich war, eine andere Koalition zu bilden.

 

Der sehr gute Verlauf der Industriemesse und der Computermesse CeBIT in Hannover bestätigt den stabilen Aufwärtstrend der deutschen Wirtschaft. Wichtige ökonomische Grunddaten sind so gut wie seit langem nicht mehr. Der Preisanstieg befindet sich mit 1,1 Prozent auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren. Preisniveaustabilität ist zugleich die beste Sozialpolitik. Gerade Rentner und Bezieher geringer Einkommen sind besonders darauf angewiesen, daß ihr Geld seinen Wert behält. Die langfristigen Zinsen haben den niedrigsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht.

 

Der Standort Deutschland hat in vielen Bereichen in den vergangenen Jahren an Attraktivität gewonnen. Deutschland ist zum Beispiel wieder Spitzenreiter in der Welt bei den Weltmarktpatenten. Die Zahl der Biotechnologieunternehmen - manche ideologische Verbohrtheit hatte unser Land in dieser Zukunftstechnologie weit zurückgeworfen - hat sich bei uns von 1995 bis Ende 1997 vervierfacht. In vielen Sektoren mehren sich Meldungen, daß Investoren nach Deutschland zurückkehren, die in der Vergangenheit Produktionen ins Ausland verlagert hatten. Gestern hat uns die Meldung erreicht, daß zwei der größten Automobilkonzerne der Welt sich zusammenschließen werden. Der Standort des gemeinsamen neuen Unternehmens wird Stuttgart sein.

 

Herausforderung Nummer eins in Deutschland ist nach wie vor die Bekämpfung der viel zu hohen Arbeitslosigkeit. Vor einer Stunde hat die Bundesanstalt für Arbeit die neuen Arbeitsmarktzahlen für den Monat April bekanntgegeben. Die Zahl der Arbeitslosen ist gegenüber März um 200000 zurückgegangen. Dies ist eine hocherfreuliche Entwicklung, denn Arbeitslosigkeit ist - jenseits aller ökonomischen Überlegungen - vor allem und zuerst eine schwere persönliche Heimsuchung. Deshalb müssen wir auch in Zukunft alles tun, um die Arbeitslosigkeit weiter abzubauen.

 

Ich sage in diesem Zusammenhang aber ebenso klar jenen den Kampf an, die sich zwar arbeitslos melden, aber nicht arbeiten wollen. Ich weiß, daß diese Trittbrettfahrer nicht die Mehrheit der Arbeitslosen darstellen - aber sie stellen eine ärgerliche Minderheit dar. Wir alle kennen Beispiele von Handwerkern und mittelständischen Unternehmern, die händeringend Arbeitskräfte suchen und keinen geeigneten Bewerber finden. Ich erwähne nur das Stichwort Erntehelfer - ein in meiner Heimat, der Pfalz, immer wieder stark diskutiertes Thema. In diesen Tagen war die Äußerung eines Vorsitzenden einer Arbeitsloseninitiative zu lesen, der darüber Klage führte, daß die Bauern bei dieser Gelegenheit kein WC auf den Feldern bereitstellten - ein Beitrag, der die Diskussion über das Thema Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten zweifellos wesentlich bereichert hat.

 

Ich halte es für zwingend, daß wir in dieser Diskussion zu einer Entscheidung gelangen. Zum Beispiel hätte ich nichts dagegen einzuwenden, daß wir uns dabei an der Zumutbarkeitsregelung in Großbritannien orientieren - ein Land, das bei manchen in unserem Land in letzter Zeit als besonderes Vorbild herausgestellt wird. An der Grundrichtung kann es keinen Zweifel geben: Jenen, die arbeiten wollen, muß geholfen werden. Aber diejenigen, die sich drücken, müssen erkennen, daß sie nicht aus der Kasse der Gemeinschaft leben können, wenn sie nicht bereit sind, die dafür notwendigen eigenen Beiträge zu leisten.

 

Einen nachhaltigen Erfolg bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden wir nur erreichen, wenn alle, die für Beschäftigung Verantwortung tragen, ihren Beitrag für mehr Arbeitsplätze leisten. Es verdient Anerkennung, daß weite Teile der Gewerkschaften große Schritte unternommen haben, um zu vernünftigen Lohnabschlüssen zu gelangen. Ich füge allerdings auch hinzu: Wäre dies schon vor acht Jahren gelungen, wären wir bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze bereits ein großes Stück weiter. Ich spreche in diesem Zusammenhang natürlich ebenso von der Verantwortung der Arbeitgeber. Dazu gehört im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards auch die Sozialpflichtigkeit gegenüber den eigenen Arbeitnehmern.

 

Meine Damen und Herren, bei der Diskussion über neue Beschäftigungsmöglichkeiten müssen wir stärker über die Frage reden, wo zusätzliche Arbeitsplätze entstehen können. Wir wissen, daß die international tätigen Großunternehmen nur dann wettbewerbsfähig bleiben, wenn sie alle Möglichkeiten nutzen, Kosten einzusparen und zu rationalisieren. Das bedeutet, daß die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich unserer Wirtschaft auf absehbare Zeit kaum wieder steigen wird. Auch der Öffentliche Dienst kann die Aufgabe eines Beschäftigungsmotors nicht übernehmen. Wir wollen den "schlanken Staat", und das bedeutet den Abbau von Verwaltung und Bürokratie.

 

Ich sehe lediglich zwei Felder im Öffentlichen Dienst, in denen mehr Personal benötigt wird. Dies ist zum einen der Bereich der inneren Sicherheit. Unsere Polizei ist nicht schlechter geworden - aber die Gefährdungen aus der Welt, insbesondere durch die internationale Organisierte Kriminalität, sind gestiegen. Die Dramatik dieses Themas zeigt sich etwa an der Tatsache, daß jährlich Beträge in einer Größenordnung von rund 100 Milliarden US-Dollar aus illegalen Geschäften allein nach Europa geschleust werden. Dieser neuen Form der Bedrohung muß mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden - und dafür brauchen wir einen starken Staat, einen Staat mit Autorität, einen Staat, der seine Kräfte - Polizei, Gerichte und alle anderen Einrichtungen, die dazugehören - so ausstattet, daß sie diesen Herausforderungen gewachsen sind.

 

Dies ist nicht allein eine Frage des Geldes. Die Frage lautet vielmehr schlicht und einfach: Wie stehen wir in der politischen Führung zu unseren Polizeibeamten? Spüren sie unsere volle Unterstützung für ihre oft schwierige Tätigkeit, oder drücken wir uns weg aus der Verantwortung? Hier ist ein Umdenken notwendig - und dies gilt ebenso, wenn wir über die Folgen krimineller Handlungen sprechen. Ich habe kein Verständnis für die Haltung mancher in unserer Gesellschaft, die stärkeres Mitleid für die Täter als für deren Opfer empfinden. Natürlich bin ich für die Resozialisierung gerade bei jungen Leuten. Wenn einer gestrauchelt ist, muß der Versuch unternommen werden, ihm eine Chance zu geben. Aber das Grundprinzip muß lauten: Unsere Sympathie hat das Opfer, nicht der Täter.

 

Ich nenne ein zweites Feld im Öffentlichen Dienst - und ich sage dies mit großem Nachdruck -, wo mehr geschehen muß: der Bereich Erziehung und Ausbildung. In manchen Grundschulklassen haben inzwischen zwei Drittel der Kinder eine ausländische Staatsbürgerschaft. Die Lehrerinnen und Lehrer, die dort unterrichten, tragen eine besondere Verantwortung. Wir müssen alles daransetzen, daß die Kinder auf die Zukunft vorbereitet werden. Es ist eine besorgniserregende Entwicklung, daß 10 Prozent der Abgänger unserer Hauptschulen für eine normale Handwerkslehre nicht ausbildungsfähig sind.

 

Die Bundesanstalt für Arbeit gibt in diesem Jahr 900 Millionen D-Mark aus, um die Ausbildungschancen dieser jungen Leute zu verbessern. Dies ist eine Anklage an das System. Diese Entwicklung muß geändert werden. Von den 1,2 Millionen Langzeitarbeitslosen in Westdeutschland ist jeder zweite ohne berufliche Ausbildung. Dies ist ein sozialer Sprengsatz für die Zukunft. Deshalb ist jede D-Mark, die wir in eine gute Bildung und Ausbildung für junge Leute investieren, eine entscheidende Abschlagszahlung auf die Zukunft.

 

Öffentlicher Dienst und Großunternehmen - in beiden Bereichen können wir in den nächsten Jahren keinen spürbaren Anstieg der Beschäftigung erwarten. Motor für mehr Arbeitsplätze ist und bleibt der Mittelstand. Vor allem müssen wir uns die Frage stellen, wie wir gerade junge Menschen ermutigen können, sich wirtschaftlich selbständig zu machen und eine eigene Existenz aufzubauen. Ein Existenzgründer schafft im Durchschnitt vier Arbeitsplätze. Das Ergebnis einer Umfrage an deutschen Hochschulen, die Bildungsminister Jürgen Rüttgers in Auftrag gegeben hat, ist wenig ermutigend. Danach zieht ein großer Teil der Absolventen eine Tätigkeit im Öffentlichen Dienst der Herausforderung vor, sein eigener Chef zu sein.

 

Natürlich wissen diese jungen Menschen, daß sie nicht alle in den Öffentlichen Dienst gehen können. Aber daß sie es überhaupt erwägen, daß es ein besonders lohnenswertes Ziel ist, daß man seine Lebensplanung mit 25 Jahren darauf einstellt, zeigt einen Verlust an Zukunftsfähigkeit der Deutschen. Und es zeigt, daß wir ein Umdenken in den Familien, in den Schulen und überall dort in Gang setzen müssen, wo junge Leute geprägt werden.

 

Ich lade Sie ein, einmal die Reaktionen in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zu beobachten, wenn dort eine junge Frau oder ein junger Mann ankündigt, sich selbständig zu machen. Häufig werden sie sogleich von vielen Seiten mit Unverständnis und Bedenken konfrontiert. Die Eltern versuchen, ihnen dieses Vorhaben auszureden mit dem Hinweis auf die Sicherheit eines festen Arbeitsplatzes zum Beispiel bei der BASF. Die Freunde machen sich lustig über sie, weil sie eine 60- oder 70-Stunden-Woche in Kauf nehmen, anstatt einen pünktlichen Feierabend im Büro anzustreben. Bei der Handwerks- oder Handelskammer, bei der sie sich beraten lassen wollen, stoßen sie auf ein mitleidiges Lächeln. Und wenn sie dann noch die Kraft aufbringen, zur Bank zu gehen und um einen Kredit zu bitten, werden sie zuallererst unerbittlich auf die materiellen Sicherheiten abgeklopft, die sie dagegenstellen können.

 

Dieses Denken muß verändert werden, meine Damen und Herren. Wir brauchen ein für Neues aufgeschlossenes gesellschaftliches Klima, eine Atmosphäre der Ermutigung, des Aufbruchs und der realistischen Zuversicht. Beim Leistungssport - und dies finde ich sehr in Ordnung - ist das ganz selbstverständlich. Wir wissen alle, daß es ohne Hochleistungssportler keine Breitensport gäbe. Denken Sie nur an die Tausenden von Buben, die angesichts der bevorstehenden Weltmeisterschaft im Fußball voller Begeisterung ankündigen: Jetzt gehe ich kicken.

 

Diese Begeisterung ist die Grundlage, auf der die künftigen Weltmeister ihre ersten Schritte unternehmen - und dafür erhalten die jungen Sportler ganz selbstverständlich unsere Anerkennung. Ich plädiere dafür, Menschen, die - wo immer sie tätig sind - eine hervorragende Leistung erbringen, dafür besonderen Respekt entgegenzubringen. Unser Land braucht Leistungseliten - Eliten nicht von Geburt, sondern durch ihre eigene Leistung. Dies hat überhaupt nichts mit einem Gegensatz zur Demokratie zu tun. Ein Land ohne Eliten hat keine Zukunft. Dies muß klar und deutlich ausgesprochen werden.

 

VI. 

 

Meine Damen und Herren, Deutschland hat an der Schwelle zum 21. Jahrhundert eine hervorragende Ausgangsposition. Wir Deutschen können unsere materiellen Probleme lösen - sicher nicht über Nacht, manche nur über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Entscheidend dafür ist der Wille zum Erfolg, zur Zukunft - und ebenso wichtig ist, daß der Wertekonsens in unserer Gesellschaft stimmt. Ich mache es an einem Beispiel deutlich: Steuerhinterziehung gab es zu allen Zeiten. Neu aber ist das unverfrorene öffentliche Bekenntnis mancher zu diesem Delikt.

 

Mit diesem Denken, meine Damen und Herren, werden wir die Zukunft nicht gewinnen. Die öffentlichen Kassen - ich bleibe bei meinem Beispiel - sind keine Steinbrüche, in denen die Stärkeren, die Frecheren und die Cleveren Beute machen und sich anschließend davonstehlen können. Es ist auch nicht hinnehmbar, wenn der eine oder andere Selbständige - Sie alle kennen die Beispiele - seine Ehefrau, die im Betrieb mitarbeitet, periodisch zu Lasten der Bundesanstalt für Arbeit entläßt. In diesen Zusammenhang gehört auch die mißbräuchliche Inanspruchnahme zum Beispiel der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenunterstützung.

 

All dies sind keine Fragen immer neuer und schärferer Gesetze. Entscheidend ist vielmehr, daß wir die Bedeutung einer moralischen Werteordnung für unsere Gesellschaft wieder stärker erkennen und diejenigen ächten, die sich den elementaren Normen für ein menschliches Miteinander verschließen. Als Kinder haben wir von unseren Eltern häufig den Satz gehört: So etwas tut man nicht! Dieser Satz gilt auch für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft.

 

Wir müssen uns untereinander darauf verlassen können, daß es eine breite Mehrheit in der Bevölkerung gibt, die bei der Lösung anstehender Probleme nicht den schnellen Vorteil auf Kosten anderer sucht, sondern aus moralischer Überzeugung sagt: So etwas tut man nicht - auch wenn es nicht im Gesetz steht und der Staatsanwalt nicht sofort an die Tür klopft.

 

Gelebter Patriotismus - dies ist der Begriff, mit dem diese Einstellung in der Vergangenheit bezeichnet worden ist. Er bedeutet, daß man eben nicht nur für sich selbst, sondern ebenso für die Gemeinschaft, die Gesellschaft, in der man lebt, und für das Land, dem man angehört, Verantwortung übernimmt. Ein bedeutender amerikanischer Politiker hat meinem Sohn einmal auf die Frage, warum er für ein im Vergleich zu Führungskräften der Wirtschaft armseliges Gehalt das Amt eines Ministers ausübe, geantwortet: Ich habe viel erreicht. Aber ich schulde jetzt meinem Land den Dienst, weil das Land mir vorher die Chancen geschenkt hat.

 

Ein Stück von diesem Denken, meine Damen und Herren, muß auch bei uns stärker möglich sein. Nur in diesem Geiste war es möglich, unser Land, auch diese großartige traditionsreiche Stadt Bremen über die Jahrhunderte aufzubauen. Die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland hat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht über ihre Selbstverwirklichung nachgedacht, sondern angepackt und den Karren aus dem Dreck gezogen.

 

Erinnern wir uns gelegentlich daran. Urlaub ist eine schöne Sache - ich gönne ihn jedem. Aber wir sollten auch wissen, daß Freizeit ohne Zukunft keine Freizeit mehr ist. Wenn wir uns in diesem Denken den Aufgaben der Zukunft zuwenden, dann besteht kein Grund zu Pessimismus. Wir haben Grund, auf unsere eigene Kraft zu vertrauen. Dazu möchte ich Sie herzlich einladen!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 52. 16. Juli 1998.