8. November 1990

Dreiklang unserer Zukunft: Heimat, Vaterland, Europa

 

Interview mit Richard Mahkorn, Paul Limbach und Norbert Treutwein, veröffentlicht in der Zeitschrift „Quick"

QUICK: Das vereinte Deutschland ist ja schon fast eine Weltmacht. Entsprechend wächst auch die Verantwortung des Kanzlers. Wie verkraften Sie das eigentlich?

KOHL: Die persönliche Belastung ist nicht das Problem. Entscheidend ist, wie wir Deutschen mit unserer gewachsenen Verantwortung umgehen. In diesem Zusammenhang würde ich übrigens nicht von Weltmacht reden. Bei aller Freude über die Einheit Deutschlands sollten wir bescheiden und mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben. In der Vergangenheit waren die Deutschen ja nicht immer sehr geschickt, was ihre Selbstdarstellung betrifft.

QUICK: Wie also sollten wir uns darstellen?

KOHL: Wir haben zwei Argumente. Erstens: Der westliche Teil Deutschlands hat in den vergangenen vierzig Jahren einen entscheidenden Beitrag zur internationalen Sicherung des Friedens und der Freiheit geleistet. Unsere rechtsstaatliche Demokratie hat sich weltweit großes Ansehen erworben. Zweitens: Die Menschen in der ehemaligen DDR haben mit ihrer friedlichen Revolution ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Freiheitsliebe gegeben. In ihrer überwältigenden Mehrheit haben die Deutschen damit gezeigt, dass sie aus der Geschichte gelernt haben. Wir wollen ein europäisches Deutschland. Der Dreiklang der Zukunft heißt: Heimat, Vaterland, Europa. Wir wollen ein offenes Land sein und anderen helfen.

QUICK: Haben wir nicht mit dem Aufbau Deutschlands schon genug Probleme?

Wir sollten nicht so provinziell denken. Wir dürfen keine Minute vergessen, dass andere viel größere Probleme haben. Beispielsweise die Reformstaaten Polen, CSFR oder Ungarn. Wir Deutschen verdanken ihnen viel. Die Entscheidung Ungarns im vergangenen Jahr, die Grenzen zu öffnen, war der Anfang vom Ende des Honecker-Regimes. Wir müssen auch die politischen und wirtschaftlichen Reformen in der Sowjetunion unterstützen. Als eines der reichsten Länder dieser Erde stehen wir auch in der Pflicht, unseren Beitrag zur Lösung der Probleme in der Dritten Welt zu leisten.

QUICK: Besteht nicht die Gefahr, dass wir uns dabei übernehmen?

KOHL: Natürlich können wir das alles nicht aus eigener Kraft leisten. Wir handeln gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und mit anderen Industrienationen. Richtig ist, dass wir dabei auch Prioritäten setzen müssen.

QUICK: Nach welchen Maßstäben setzt man solche Prioritäten?

KOHL: Es geht um gezielte Hilfen zur Selbsthilfe. Sie können nur ein Anstoß sein zur eigenen Leistung. Denken wir daran, wie wir Deutschen nach dem Krieg wieder auf die Beine gekommen sind. Damals haben uns die Amerikaner mit der Marshallplan-Hilfe einen wichtigen - auch psychologischen - Rückhalt gegeben. Entscheidend war ebenso, dass mit der Sozialen Marktwirtschaft die notwendigen Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Wiederaufbau geschaffen wurden.

QUICK: Haben denn die Menschen in der ehemaligen DDR genug Kraft und Aufbauwillen?

KOHL: Daran besteht für mich gar kein Zweifel.

QUICK: Sehen Sie Prioritäten für den Aufbau in den neuen Bundesländern? Könnte man zum Beispiel sagen: erst kommen Straßen, Wohnungen, Arbeitsplätze, danach die Umwelt?

KOHL: Ich glaube nicht, dass wir in solcher Weise Prioritäten setzen können. Es wäre eine Wiederholung von Fehlern, die wir beim Wiederaufbau nach dem Krieg gemacht haben, wenn wir beispielsweise den Schutz der Umwelt zugunsten der Wirtschaft vernachlässigen würden. Im übrigen ist es auch viel billiger, es gleich richtig zu machen. Betrachten Sie doch nur einmal den Zustand der Elbe: Wir müssen mit der Sanierung sofort beginnen. Und es wird Jahre dauern, wie wir am Beispiel des Rheins gesehen haben. Natürlich ist auch die Frage der Arbeitsplätze vordringlich. Oder denken Sie an die Probleme der Infrastruktur: Wie lässt sich vernünftig wirtschaften, wenn Betriebe nicht einmal telefonisch erreichbar sind? Wir brauchen ganz dringend eine Verbesserung des Straßennetzes - vor allem der Fernstraßen. Da bin ich auch offen für eine Diskussion über ungewöhnliche Finanzierungsformen - bis hin zu privaten Investitionen.

QUICK: Mit dem Wegfall von Grenzkontrollen in Deutschland und Europa wachsen auch neue Gefahren: Bestechung, Erpressung, Rauschgift. Wie begegnen wir dem?

KOHL: Ich sehe in der Tat mit Sorge, dass sich die Mafia und ähnliche, international operierende Verbrecherorganisationen ausbreiten. Alles deutet daraufhin, dass sich solche internationalen Banden neben ihren Aktivitäten in den USA nun auch Europa zuwenden. Bei der Drogenkriminalität zum Beispiel werden ungeheure Profite gemacht. Ich habe schon vor zwei Jahren mit Blick auf solche neue Gefahren eine im europäischen Rahmen tätige Polizei gefordert, und zwar über die Europäische Gemeinschaft hinaus: Die Schweiz oder Österreich müssen beispielsweise dabei sein. Wir müssen außerdem mehr als bisher mit anderen Ländern Erfahrungen austauschen, beispielsweise mit Italien. Im Falle eines Wahlsiegs werde ich dieses ganze Problem mit Vorrang anpacken. Es geht schließlich nicht nur um Milliardenbeträge - es geht vor allem auch um das Wohlergehen unserer Kinder. [...]

QUICK: Sie werden im Zusammenhang mit der Einigung Deutschlands sogar immer wieder mit Bismarck verglichen.

KOHL: Also, solche Vergleiche bringen in meinen Augen überhaupt nichts. Die geschichtlichen Situationen sind einfach zu verschieden. Das gilt auch für den Vergleich mit der Zeit Konrad Adenauers. Denken Sie nur an die gewachsene Bedeutung der Medien im politischen Alltag oder an das Verständnis von Autorität damals und heute. Ich finde, man muss versuchen, unter den jeweiligen Bedingungen seiner Zeit seine Pflicht zu tun. Und man muss versuchen, dabei die Freude am Leben nicht zu verlieren, ein umgänglicher Mensch zu bleiben und das Lachen nicht zu verlernen. [...]

QUICK: Wo prägt das Amt den Menschen Helmut Kohl sonst noch?

KOHL: Man muss aufpassen, dass man nicht zynisch wird. Man hat dauernd mit Leuten zu tun, die etwas von einem wollen. Es wäre aber töricht, deshalb gleich alle Menschen, denen man begegnet, nur unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. So würde man jede Unbefangenheit verlieren. Und ich bin immer sehr bemüht, mir dieses ungezwungene Verhältnis zu meinen Mitmenschen zu bewahren. Freundschaften spielen für mich eine sehr wichtige Rolle - Menschen, die nicht immer nur das sagen, was ich gerne höre.

Im übrigen muss man in einem Amt wie dem des Bundeskanzlers darauf achten, dass man - soweit möglich - zum Beispiel Herr seiner eigenen Zeit bleibt. Deshalb lege ich Wert darauf, meinen Terminkalender selbst zu führen. Manche mögen das seltsam finden, aber ich mag es eben nicht, morgens einen Zettel in die Hand gedrückt zu bekommen, auf dem der gesamte Tagesablauf restlos verplant ist. Man muss immer noch Zeit für die kleinen Freuden des Lebens haben. Wer wie ich gern isst und trinkt, der muss unterwegs auch einmal aussteigen und in ein nettes Lokal zum Essen gehen können. Ich will auch nicht darauf verzichten, eine Dienstfahrt für einen kurzen Spaziergang im Wald zu unterbrechen.

QUICK: Spaß am Leben. Ist das auch das Geheimnis Ihres Durchhaltevermögens?

KOHL: Da gibt es natürlich verschiedene Quellen. Unter den Stressbedingungen einer Führungsfunktion in unserer Gesellschaft ist es wichtig, dass einem robuste Gesundheit geschenkt ist. Auch die Gabe, dass man zwischendurch schlafen kann - ob im Auto oder im Hubschrauber. Allgemein gesagt: Es ist wichtig, abschalten zu können. Wenn ich an Freitagabenden nach der Rückkehr aus Bonn in Ludwigshafen meine Haustür aufschließe, dann habe ich in der Regel bereits Distanz zur Hektik des politischen Alltags gewonnen. Ich erledige dann ganz einfach meine häuslichen Angelegenheiten und freue mich über das Zusammensein mit meiner Familie. Wenn in dieser Situation dann ein Anruf aus Bonn kommt, muss ich mich erst einmal wieder umstellen. Zur Entspannung gehört für mich übrigens auch das Lesen, die Beschäftigung mit Themen außerhalb des Tagesgeschäfts. Im Augenblick lese ich zum Beispiel von Thomas Nipperdey „Deutsche Geschichte von 1866-1918". Ich bin wohl einer der Hauptbenutzer der hervorragenden Bibliothek des Deutschen Bundestages.

QUICK: Was noch gibt Ihnen Kraft?

KOHL: Man muss so leben, dass man sich selbst jederzeit im Spiegel anschauen kann. Außerdem beherzige ich den weisen Ausspruch von Papst Johannes XXIII: „Giovanni, nimm dich selber nicht so wichtig!" Über einen letzten Punkt, der sehr ins Private geht, rede ich nur mit größter Zurückhaltung: Je kälter und dünner die Luft wird, je mehr man die Erfahrung des Alleinseins macht - desto hilfreicher ist es, wenn man glauben, wenn man beten kann. Gerade wenn man vor ganz schwierigen Entscheidungen steht, kann das sehr hilfreich sein.

QUICK: Sie führen den eigenen Terminkalender und haben auch immer den Hausschlüssel dabei?

KOHL: Das wäre ja noch schöner, wenn ich mir auch noch dieses Stück persönlicher Freiheit nehmen ließe! An meinem Schlüsselbund sind alle für mich wichtigen Schlüssel - vom Schreibtisch über das Haus in Oggersheim bis hin zum Kanzlerbungalow. Ich brauche keinen, der vor mir hergeht und mir die Haustür aufschließt. Ich habe auch immer mein Portemonnaie dabei. Mir ist die Vorstellung unerträglich, dass immer einer mitläuft, der alles für mich bezahlt. Auch das wäre für mich der Verlust eines Stücks persönlicher Freiheit. Diese Freiheit ist ohnehin schon stark eingeschränkt. [...]

Quelle: Quick Nr. 46, 8. November 1990.