9. Dezember 1996

Schreiben an den amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates und Ministerpräsidenten von Irland, John Bruton

Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Der Präsident der Französischen Republik

Bonn und Paris, 9. Dezember 1996

 

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,

am 13. und 14. Dezember 1996 kommt der Europäische Rat zu seiner nächsten Tagung unter Ihrem Vorsitz in Dublin zusammen. Neben der Vorbereitung der 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion und dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wird die Regierungskonferenz zur Fortentwicklung und Vertiefung der Europäischen Union bei unserem Treffen in Dublin besonders im Vordergrund stehen. Wir können unsere Beratungen dabei auf die ausgezeichneten Vorarbeiten der irischen Präsidentschaft und die Ergebnisse des Sondertreffens des Europäischen Rats in Dublin am 5. Oktober 1996 stützen.

Vor diesem Hintergrund sind wir zuversichtlich, daß der Europäische Rat in Dublin einen entscheidenden Impuls für einen erfolgreichen Abschluß der Regierungskonferenz im Juni 1997 geben und uns damit auch auf dem Weg zur Aufnahme der Erweiterungsverhandlungen, wie vorgesehen sechs Monate nach dem Abschluß der Regierungskonferenz, voranbringen wird.

Aus unserer Sicht sollten wir unsere Beratungen zur Regierungskonferenz beim Europäischen Rat in Dublin am 13. und 14. Dezember 1996 auf drei Themenbereiche konzentrieren, die für unser gemeinsames Ziel von besonderer Bedeutung sind: innere und äußere Sicherheit sowie institutionelle Reformen.

 

I.

Angesichts der beängstigenden Zunahme der Bedrohung unserer Bürger und staatlichen Institutionen durch das international organisierte Verbrechen, die Drogenmafia und den Terrorismus ist es für die Unterstützung des europäischen Einigungswerks durch die Menschen entscheidend, einen gemeinsamen europäischen Rechtsraum aufzubauen, der zugleich mehr Freizügigkeit und mehr Sicherheit für die Bürger gewährleisten kann.

Hierzu reichen die bisherigen Bestimmungen und Verfahren zur Zusammenarbeit im Bereich der Justiz- und Innenpolitik im Vertrag über die Europäische Union nicht aus. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind deshalb gefordert, ihre Politik in diesem Bereich noch weitaus stärker als bisher aufeinander abzustimmen und gemeinsame Antworten zu finden.

Deshalb sollte die Tagung des Europäischen Rats in Dublin ein klares Signal setzen, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Union entschlossen sind, den Bedrohungen der inneren Sicherheit durch weitreichende Vereinbarungen im Rahmen der anstehenden Vertragsrevision zu begegnen. Um dies zu erreichen, schlagen wir vor, im Vertrag die vorrangigen Ziele der Union auf diesem Gebiet festzulegen und ihre Handlungsmöglichkeiten entsprechend anzupassen. Es wäre in diesem Sinne wichtig, wenn wir uns bereits in Dublin auf die grundsätzliche Ausrichtung verständigen und der Regierungskonferenz einen Auftrag zum Aushandeln der Einzelheiten erteilen würden.

(1) Unser grundlegendes Ziel ist und bleibt es, die Freizügigkeit der Bürger innerhalb der Union durch die Aufhebung der Kontrollen an den Binnengrenzen vollständig zu verwirklichen. Dies setzt voraus, daß wir die wirksame Kontrolle der Außengrenzen sicherstellen und darüber hinaus alle anderen Maßnahmen treffen müssen, die zur Gewährleistung der Sicherheit der Menschen in der Union erforderlich sind.

Daher sollte eine gemeinschaftliche Politik hinsichtlich der Außengrenzregelungen, im Visabereich, hinsichtlich der Einwanderung, des Asyls und der Zollzusammenarbeit erarbeitet und in die Tat umgesetzt werden, wobei die Umsetzung - namentlich unter Subsidiaritätsgesichtspunkten - zum größten Teil bei den Mitgliedstaaten verbleiben sollte.

Um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, und insbesondere zur wirksamen Bekämpfung von international organisiertem Verbrechen, Drogenkriminalität und Terrorismus, ist es darüber hinaus unverzichtbar, die Europol-Konvention in den Mitgliedstaaten möglichst zügig zu ratifizieren und die in der Maastrichter Erklärung zur polizeilichen Zusammenarbeit vorgesehenen Maßnahmen schnell und umfassend umzusetzen. Wir sollten darüber hinaus im Rahmen der Regierungskonferenz festlegen, durch welche Maßnahmen und Zwischenschritte der weitere Ausbau von Europol zu einer wirksamen Polizeibehörde mit operativen Befugnissen vorangebracht werden kann. Hierzu sollten wir uns im revidierten Vertrag auf klare Zielbestimmungen verständigen und eine Agenda für die stufenweise Umsetzung konkreter Schritte festlegen. Der Rat sollte nach einem hinreichenden Erfahrungszeitraum, zum Beispiel nach fünf Jahren, das Erreichte dahingehend überprüfen, inwieweit die vereinbarten Maßnahmen ausreichend sind.

(2) Um die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Schwerkriminalität, des Terrorismus, des Drogenmißbrauchs und -handels wirksamer zu gestalten, sollten sich die Mitgliedstaaten als weiteres Ziel die Annäherung und schrittweise Harmonisierung der bestehenden Rechtsvorschriften und der Vorgehensweisen in diesem Bereich zum Ziel setzen.

Aus unserer Sicht ist eine kohärente Drogenpolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine grundlegende Voraussetzung für Erfolge im Kampf gegen die Drogenabhängigkeit sowie gegen den international organisierten Drogenhandel. Deshalb sollten wir auch in diesem Bereich über die bereits vereinbarten Schritte hinaus die Harmonisierung sowohl der rechtlichen Grundlagen wie der praktischen Vorgehensweisen bei der Bekämpfung von Drogenhandel und -mißbrauch vereinbaren.

Generell sollten wir die polizeiliche Zusammenarbeit und die Zollzusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung von Betrügereien im internationalen Maßstab sowie zu Lasten des Gemeinschaftshaushalts, von illegalem Handel und allen anderen Formen des Schmuggels, verstärken. Im Strafrechtsbereich sollte die Zusammenarbeit vereinfacht werden, insbesondere indem wir die Rechtshilfe in Strafsachen weiterentwickeln. Darüber hinaus sollte angestrebt werden, sich auf Mindeststandards für die rechtliche Einordnung von Straftaten und Strafen zu verständigen, um zu einer wirksameren Verbrechensbekämpfung und zu mehr Sicherheit zu gelangen.

Ferner hielten wir es für richtig, wenn die Regierungskonferenz anerkennen würde, daß der demokratische Charakter unserer Gesellschaften und ihre gemeinsame Verpflichtung auf die Menschenrechte nicht länger dazu führen darf, daß das Recht auf politisches Asyl zwischen Mitgliedstaaten wirksam in Anspruch genommen wird.

(3) Darüber hinaus halten wir es für wichtig, die Rechtssicherheit der Bürger im Zivil- und Strafrecht dadurch zu verbessern, daß ihr Zugang zur Justiz, die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen sowie die Rechtshilfe in Zivil- und Strafsachen, erleichtert wird.

Die Mitgliedstaaten sollten enger zusammenarbeiten und ihre Rechtsetzung in diesen Bereichen weiter annähern.

Sie sollten darüber hinaus gemeinsame Vorgehensweisen im Bereich der Amts- und Rechtshilfe vereinbaren, die für den Bürger, für die Gerichte und Behörden praktische Verbesserungen bedeuten.

(4) Die Umsetzung dieser Ziele setzt eine Fortentwicklung der bestehenden Instrumente und Verfahren voraus.

Bei der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Justiz- und Innenpolitik handelt es sich um einen relativ neuen Bereich, auf dem wir noch weitere Erfahrungen sammeln müssen, bis wir endgültig entscheiden können, auf welchen Gebieten in der Vergemeinschaftung die beste Lösung zur Bewältigung der anstehenden Fragen liegt.

Soweit notwendig sollten wir daher in Betracht ziehen - wie es auch schon in den Römischen Verträgen der Fall war -, uns hinsichtlich der Vergemeinschaftung von Bereichen der Justiz- und Innenpolitik auf Kriterien und einen festen Kalender zu verständigen und gemäß dieser Vereinbarungen die Vergemeinschaftung im Bereich der Justiz- und Innenpolitik stufenweise vorzunehmen.

Für Bereiche, die sofort oder nach kurzer Übergangszeit vergemeinschaftet werden, sollte - abweichend von sonstigen institutionellen Verfahren des EG-Vertrages - zunächst für eine gewisse, fest bemessene Übergangszeit ein Ko-Initiativrecht der Mitgliedstaaten vorgesehen werden. In diesem Zusammenhang muß auch über eine bessere Einbeziehung der Nationalen Parlamente nachgedacht werden.

Darüber hinaus wäre es aus unserer Sicht angebracht, eine grundsätzliche Änderung der Verfahrensvorschriften und der Instrumente in den Bereichen zu prüfen, die jedenfalls zunächst weiter in der intergouvernementalen Zusammenarbeit verbleiben. Dies eilt insbesondere für die Einführung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit, die Schaffung eines richtlinienähnlichen Instruments mit Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten, die Einführung eines umfassenden (Ko-)Initiativrechts der Kommission sowie die Anhörung des Europäischen Parlaments. Ferner sollten wir uns auf klare Bestimmungen zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs und der Nationalen Parlamente in diesem Bereich verständigen.

Grundsätzlich sollte auch in den Bereichen Justiz und Inneres die Möglichkeit zu verstärkter Zusammenarbeit entsprechend den Vorschlägen vorgesehen werden, die Deutschland und Frankreich - auf der Grundlage unserer gemeinsamen Botschaft vom 6. Dezember 1995 - am 17. Oktober 1996 vorgelegt haben. Die "Schengen-Zusammenarbeit", die allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union grundsätzlich offensteht, könnte auf diese Weise über ein Protokoll zum Unionsvertrag in den institutionellen Rahmen der Europäischen Union einbezogen werden, selbstverständlich nur mit Wirkung für die teilnehmenden Mitgliedstaaten.

 

II.

Ein weiteres Kernkapitel der Verhandlungen in der Regierungskonferenz stellt die Vertiefung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dar. Die Bestimmungen des Vertrages über die Europäische Union haben sich angesichts der großen internationalen Herausforderungen, denen sich das vereinte Europa gegenübersieht, als noch nicht ausreichend erwiesen, um sicherzustellen, daß Europa mit einer Stimme spricht und diese auch auf der Welt gehört wird.

Zwischen allen Mitgliedstaaten besteht weitgehende Über-einstimmung, daß wir bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dringend zu Verbesserungen gelangen müssen. Dabei geht es in erster Linie um die Steigerung von Effizienz, Kontinuität, Kohärenz, Solidarität und Sichtbarkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Hierzu erscheint uns die Vereinbarung eines Gesamtkonzepts unverzichtbar, das insbesondere die folgenden Elemente enthalten sollte:

(1) Einrichtung einer permanenten gemeinsamen Arbeitseinheit ("Analyse- und Planungseinheit") in Brüssel als Teil des Ratssekretariats, bestehend aus Mitarbeitern der Mitgliedstaaten, der Kommission, der WEU und des Ratssekretariats. Sie sollte eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung und Umsetzung von Beschlüssen des Rats und des Politischen Komitees spielen. Diesen Gremien sollte sie insbesondere Analysen, Empfehlungen und Strategien vorlegen, damit die Beratungen der Außenminister auf einer gemeinsamen Grundlage erfolgen können.

(2) Gerade auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik muß die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anstehenden erneuten Erweiterung der Union - durch eine größere Effizienz der Entscheidungsverfahren sowie eine wirk- samere Umsetzung der Beschlüsse erhöht werden. Hierzu schlagen wir vor:

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Der Europäische Rat bestimmt die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Er könnte auch deren prioritäre Bereiche definieren. Hieraus folgt aus unserer Sicht eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu gemeinsamem Handeln und zu politischer Solidarität bei der Umsetzung europäischer Aktionen und damit zugleich zu einem Verzicht auf ein gegenläufiges Vorgehen.

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Darüber hinaus sollten Maßnahmen zur Lockerung des Konsensprinzips vorgesehen werden. Wir sollten deshalb auch im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verstärkt auf Mehrheitsentscheidungen zurückgreifen; insbesondere bei Durchführungsbeschlüssen sollten diese zur Regel werden. Der Europäische Rat, der den höchsten politischen Willen der Union repräsentiert, sollte jedoch auch künftig Entscheidungen grundsätzlich im Konsens treffen. Dies gilt gleichermaßen für Grundsatzentscheidungen des Rates und generell für die Bereiche Sicherheit und Verteidigung.

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Wir sind uns der Schwierigkeiten bewußt, hier die erforderlichen Abgrenzungen festzulegen und praktikable Regelungen zu finden. Deshalb sollte die Regierungskonferenz hierzu möglichst praktische und nachvollziehbare Lösungsansätze ausarbeiten.

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Die Entscheidungsfindung könnte auch durch die grundsätzliche Übereinkunft weiter vereinfacht werden, daß eine "Enthaltung" im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine Beschlußfassung auch in den Fällen nicht verhindert, in denen nach wie vor Einstimmigkeit vorgeschrieben ist. Jeder Mitgliedstaat könnte durch diese sogenannte "konstruktive Enthaltung" seine Vorbehalte gegen bestimmte Entscheidungen zum Ausdruck bringen, ohne daß gemeinsames europäisches Handeln verhindert würde.

(3) Wir brauchen darüber hinaus mehr Kontinuität sowie ein "Gesicht" und eine "Stimme" für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Unsere Partner in der Welt haben oft Zweifel, wer ihr "Ansprechpartner" in der Europäischen Union bei außenpolitischen Fragen ist. Wir schlagen deshalb vor, daß die Regierungen der Mitgliedstaaten mit dieser Aufgabe einvernehmlich eine Persönlichkeit betrauen, die über die erforderlichen politischen Qualifikationen verfügt. Sie wäre dem Rat verantwortlich, dem sie regelmäßig - sowie auf Verlangen auch dem Europäischen Rat - Bericht erstatten würde.

Diese Persönlichkeit würde den Rat in allen Fragen der GASP unterstützen und die gemeinsame Arbeitseinheit leiten. Sie würde in enger Zusammenarbeit mit der Präsidentschaft und dem für die Außenbeziehungen zuständigen Kommissar in den Fällen, in denen der Rat, gegebenenfalls der Europäische Rat, ihr ein präzises Mandat erteilt, die Außenvertretung der Europäischen Union sicherstellen. Zugleich nähme diese Persönlichkeit an den Sitzungen aller relevanten EU-Gremien mit Rederecht teil und könnte eventuell auch den Vorsitz im Politischen Komitee führen.

Unser Vorschlag der Berufung einer Persönlichkeit für die GASP bedeutet nicht, daß neue Institutionen außerhalb der bestehenden Strukturen geschaffen werden sollen. Aus unserer Sicht sollte über zwei verschiedene Möglichkeiten nachgedacht werden:

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entweder die Schaffung einer spezifischen Funktion, wobei die Persönlichkeit, der sie übertragen wird, ihre Tätigkeit in engem Zusammenwirken mit dem Generalsekretär des Rates ausüben würde;

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oder die Übertragung der Leitung des Generalsekretariats des Rates an die Persönlichkeit. In diesem Fall wären der Status und die Aufgabenbereiche des Generalsekretärs neu zu definieren und dessen klassische Aufgaben einem Stellvertretenden Generalsekretär zu übertragen.

(4) In diesem Zusammenhang sollten wir auch darüber nachdenken, ob eine gestärkte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht auch eine Reform beim System der "Troika" erfordert, die nach unserem Vorschlag in ihrer bisherigen Form nicht fortbestehen kann. Die Außenvertretung der Europäischen Union könnte künftig nach einem neuen Schema auf der Grundlage einer engen Zusammenarbeit zwischen der Präsidentschaft, der mit GASP-Aufgaben betrauten Persönlichkeit und dem für die Außenbeziehungen zuständigen Kommissar wahrgenommen werden. Die folgende Präsidentschaft wäre jeweils in vollem Umfang zu beteiligen. Zugleich sollte die Möglichkeit bestehen, daß die Außenvertretung der Europäischen Union - je nach Fragestellung oder aktuellem Bedürfnis und den jeweiligen Zuständigkeiten jeder Institution - auch in veränderter Zusammensetzung wahrgenommen wird.

Um die Kohärenz der Außenpolitik insgesamt sicherzustellen, wird die Kommission an der Ausarbeitung und Umsetzung der GASP in vollem Umfang beteiligt. Dementsprechend würde sie ihren vollen Beitrag zur Umsetzung der Entscheidungen des Europäischen Rates und des Rates in diesem Bereich einbringen.

(5) Weitere wichtige Anliegen sind uns die Entwicklung gemeinsamer Strukturen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich sowie die stufenweise Annäherung einer operativ gestärkten WEU an die Europäische Union mit dem Ziel ihrer schrittweisen Integration in die Europäische Union. Hierfür sollten wir schon bei der Regierungskonferenz im Rahmen eines Phasenansatzes klare Zieldaten für bestimmte Schritte fest vereinbaren.

Als erste Schritte hierzu schlagen wir die Einfügung einer allgemeinen politischen Solidaritätsklausel in den EU-Vertrag, die unterhalb der Schwelle einer militärischen Beistandsklausel liegen sollte, sowie die Verankerung der sogenannten "Petersberg-Aufgaben" der WEU auch im EU-Vertrag vor. Ferner sollte eine Leitlinienkompetenz des Europäischen Rats gegenüber der WEU festgeschrieben werden. Auch in diesem Bereich könnte die Einführung der "konstruktiven Enthaltung" für gemeinsame Maßnahmen zu mehr Effizienz und Handlungsfähigkeit führen.

 

III.

Die Fortschritte, die wir sowohl im Bereich des Inneren wie in der Außenpolitik vorschlagen, eröffnen die Perspektive einer erheblich gestärkten Rolle der Europäischen Union. Damit die Union diese so gut wie möglich ausfüllen kann, ist es vor allem vor dem Hintergrund der anstehenden Erweiterung unverzichtbar, die institutionellen Regelungen der Union fortzuentwickeln.

Wir sind uns bewußt, daß dieser schwierige Fragenkomplex in den kommenden Monaten noch eingehender Erörterung bedarf. Im Vordergrund werden dabei folgende Fragen stehen, die aus unserer Sicht für die künftigen Diskussionen besonderes Gewicht haben dürften und für die wir im folgenden erste Anregungen unterbreiten wollen:

(1) Der Rat

Um die Entscheidungsfindung innerhalb der Union effizienter zu machen, sollte der Rat, soweit möglich, auf Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit zurückgreifen, wenn er über ihm vorliegende Vorschläge entscheidet. Über begrenzte Ausnahmen hiervon, die enumerativ aufgeführt werden sollten, müßte in den kommenden Monaten noch im einzelnen gesprochen werden.

Ferner sollte die Stimmengewichtung im Rat - gerade auch im Hinblick auf die anstehende Erweiterung - mit dem Ziel überprüft werden, ein repräsentatives Gleichgewicht der Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

(2) Die Kommission

Auch für die Kommission gilt es, ihre Handlungsfähigkeit und Effizienz sicherzustellen. Deshalb halten wir es im Hinblick auf die Erweiterung der Union nicht für denkbar, das jetzige System ihrer Zusammensetzung beizubehalten. Die künftige Größe der Kommission sollte sich an ihren wesentlichen Aufgaben orientieren; sie sollte jedenfalls weniger Mitglieder haben, als es der Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union entspricht.

Darüber hinaus sollte die Autorität des Präsidenten gegenüber seinen Kollegen gestärkt werden.

(3) Das Europäische Parlament

Die jetzige Zahl der Verfahren der Beteiligung des Europäischen Parlaments sollte reduziert werden; die Verfahren sollten dabei unbedingt vereinfacht werden.

Darüber hinaus sollten wir auch prüfen, inwieweit das Verfahren der Mitentscheidung auf weitere Bereiche ausgedehnt werden kann.

(4) Einbeziehung der Nationalen Parlamente

Zur Verbesserung der demokratischen Verankerung der Europäischen Union halten wir es auch für notwendig, die Nationalen Parlamente stärker als bisher in den europäischen Integrationsprozeß einzubeziehen. Hierzu sollte im revidierten Vertrag eine Regelung getroffen werden. Dies gilt vor allem für die Bereiche, die bisher in erster Linie von den Nationalen Parlamenten mitgestaltet werden.

Wir sind bereit, alle hierzu vorliegenden Vorschläge zu prüfen, die auf eine gemeinsame Assoziierung zielen, wie sie zum Beispiel erst jüngst von der Konferenz der Europaausschüsse der Nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Europäischen Parlaments (COSAC) unterbreitet wurden. In diesem Zusammenhang sollte auch geprüft werden, ob nicht die Bildung eines gemeinsamen Ausschusses, bestehend aus einer gleichen Zahl von Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der Nationalen Parlamente, eine geeignete Lösung sein könnte.

 

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,

Deutschland und Frankreich wollen mit diesen gemeinsamen Überlegungen dazu beitragen, die Verhandlungen der Regierungskonferenz in zwei entscheidenden Bereichen im Sinne einer weiteren Vertiefung und Stärkung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten voranzubringen. Unsere Bürger erwarten zu Recht, daß wir gemeinsam bei der Regierungskonferenz Antworten auf drängende Fragen der Zeit geben - unseres Erachtens gehören die Bereiche der inneren und äußeren Sicherheit sowie der institutionellen Reformen hierzu in besonderem Maße. Wenn wir in diesen Bereichen nicht zu gemeinsamen Entscheidungen finden, setzen wir das gesamte Einigungswerk großen Gefahren aus und werden unserer Verantwortung für die kommenden Generationen nicht gerecht.

Selbstverständlich müssen wir neben den Schlüsselthemen innere und äußere Sicherheit sowie institutionelle Reformen auch andere, für die Fortentwicklung der Europäischen Union ebenso wichtige Themen fest im Auge behalten.

Für die Zukunft des europäischen Einigungswerks sind aus unserer Sicht insbesondere die weitere Konkretisierung und Stärkung des Subsidiaritätsprinzips sowie die Verbesserung der demokratischen Verankerung und Bürgernähe in der Europäischen Union unverzichtbar. Darüber hinaus halten wir die Vereinbarung von Möglichkeiten zu mehr Flexibilität und verstärkter Zusammenarbeit von mehreren Mitgliedstaaten für unbedingt notwendig. Wir begrüßen in dieser Hinsicht die Debatte, die die Präsidentschaft auf Grundlage der deutsch-französischen Vorschläge hierzu eingeleitet hat.

Wir dürfen Ihnen, Herr Vorsitzender, nochmals versichern, daß Deutschland und Frankreich diese Vorschläge unterbreiten, um einem rechtzeitigen Abschluß der Regierungskonferenz bis Ende Juni 1997 mit substantiellen Ergebnissen für unsere gemeinsame Sache sicherzustellen. Unsere beiden Regierungen werden auch in Zukunft bereit sein, gemeinsam alles zu tun und mitzutragen, was dazu beiträgt, die Europäische Union weiter voranzubringen.

Wir erlauben uns, diese Botschaft auch den übrigen Mitgliedern des Europäischen Rats zuzuleiten.

Wir bitten Sie, Herr Vorsitzender, die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung entgegenzunehmen.

 

Dr. Helmut Kohl

Jacques Chirac

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 102. 11. Dezember 1996.