9. Januar 1996

Bundeskanzler Kohl zum Tode von François Mitterrand

 

Ich trauere um François Mitterrand. Europa hat einen großen Staatsmann verloren.

François Mitterrand war mein Freund. Ein guter Freund.

Bis zu dem Tag, an dem ich Kanzler wurde, dem 1. Oktober 1983, kannten wir uns kaum. Unmittelbar nach Vereidigung des Bundeskabinetts am 14. Oktober setzte ich mich ins Flugzeug und flog nach Paris - um 17 Uhr stieg ich die Treppe zum Präsidentenpalast Elysee hinauf ...

Seitdem führten François und ich zahllose Gespräche. Wir sind gemeinsam gewandert, in vielen Gegenden Frankreichs, in Deutschland. Dabei haben wir uns natürlich nicht nur über Politik unterhalten. François Mitterrand war ein hochgebildeter Mann, sehr an Geschichte und Kultur interessiert. Wir haben uns oft über die deutsch-französischen Kriege und über die Geschichte des deutschen Widerstands unterhalten. Einige Male besuchten wir gemeinsam den hochbetagten Schriftsteller Ernst Jünger.

François Mitterrand hatte wie ich die Neigung, aus dem festen Rahmen des Protokolls auszubrechen. Wenn ich in Paris war und wir unsere amtlichen Geschäfte erledigt hatten, haben wir uns hin und wieder ganz unprotokollarisch selbständig gemacht und sind noch einmal essen gegangen. In ganz normale Lokale, beispielsweise da, wo Studenten hingehen. In München waren wir einmal zu später Stunde im "Franziskaner", tranken Weißbier und aßen Weißwurst.

Es wurde für uns selbstverständlich, am persönlichen Schicksal des anderen Anteil zu nehmen. Ich werde nie vergessen, wie François Mitterrand mich sofort im Krankenhaus angerufen hat, als mein Sohn Peter so schwer verunglückt war. Ich wurde in ein Nebenzimmer gerufen, am Telefon war der französische Staatspräsident, sprach mir Mut zu.

Unvergessen bleibt mir, wie ich mit François Mitterrand Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun stand. Wir vollendeten damals, was Adenauer und de Gaulle mit ihrer Umarmung in der Kathedrale von Reims 1962 besiegelt hatten: die deutsch-französische Versöhnung.

François Mitterrand und ich sind nach Verdun gegangen, weil wir dort sehr persönliche Bezugspunkte hatten. Mein Vater hatte im 1. Weltkrieg vor Verdun in Stellung gelegen und war verwundet worden. Ein solches Schicksal war auch Mitterrand widerfahren - im 2. Weltkrieg. Danach war er in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten.

Einmal erzählte er mir ein Erlebnis aus dieser Zeit: Er war nach einem Fluchtversuch aus der Kriegsgefangenschaft von deutscher Militärpolizei wieder festgenommen worden. Von Polizisten eskortiert, ausgehungert und durstig schritt er durch die Straßen. Plötzlich kam eine ältere Frau auf ihn zu, gab ihm Brot und Wasser und sagte auf französisch: "Monsieur, glauben Sie bitte nicht, daß alle Deutschen schlecht sind."

Unvergessen bleiben wird mir auch die große Rede des schon sehr kranken, scheidenden Präsidenten im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt am 8. Mai 1995. In einer großen Geste wahrer Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern sagte er: "Ich bin nicht gekommen, um einen Sieg zu feiern. Ich weiß, welche Tugenden das deutsche Volk besitzt ... Nun gibt es eine unauflösbare Verbindung ..."

Mein damals fast 80jähriger Freund zog die Summe seines Lebens, seiner Gefühle, seiner Einsichten, voller Gedankenreichtum und Tiefenschärfe. Als seine Botschaft, sein Vermächtnis, nannte er die Rückbesinnung Europas auf sich selbst. Er appellierte an uns alle, den Bau des vereinten Europa zu vollenden. Nur so werden Frieden und Freiheit auch im 21. Jahrhundert gesichert sein.

Mein Freund François Mitterrand war ein großer Europäer. Sein Vermächtnis verpflichtet uns alle.

 

Quelle: "Kanzler Kohl: Ich trauere um einen guten Freund", in: "Bild" vom 9. Januar 1996.