9. Juni 1997

Rede anlässlich des Festaktes zum 125-jährigen Jubiläum der Dresdner Bank auf Schloß Pillnitz bei Dresden

 

Lieber Herr Röller, lieber Herr Sarrazin,
Herr Oberbürgermeister, Frau Oberbürgermeisterin,
Herr Staatsminister, meine Damen und Herren Abgeordnete,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

I.

bevor ich zum eigentlichen Anlaß unseres heutigen Hierseins spreche, möchte ich zuerst Ihnen, lieber Herr Sarrazin, auch im Namen meiner Frau ein herzliches Wort des Dankes für den großzügigen Beitrag sagen, mit dem Sie die Arbeit der Hannelore-Kohl-Stiftung unterstützen. Dieses Geld ist gut angelegt. Sie helfen damit Menschen in Not, ein Stück ihres schweren Lebensschicksals zu meistern. Dafür, daß Sie den Geburtstag der Dresdner Bank zum Anlaß für diese großherzige Entscheidung genommen haben, nochmals sehr herzlichen Dank!

Meine Damen und Herren, auf meinem Weg hierher habe ich mich an meinen ersten und bisher einzigen Besuch in Schloß Pillnitz Mitte der 80er Jahre erinnert. Damals lag für mich - und dies geht den meisten von Ihnen sicher ebenso - die Vorstellung, daß wir heute hier das 125jährige Jubiläum der Dresdner Bank feiern würden, in weiter Ferne. Im Jahre 1990 haben wir Deutschen das Geschenk der Wiedervereinigung unseres Landes erfahren. Natürlich denke ich auch zurück an meinen Besuch in Dresden im Dezember 1989. Die Deutsche Einheit ist unverändert ein Anlaß zur Freude. Das Dresdner Barockorchester und der Dresdner Kammerchor haben dieses positive Lebensgefühl in ihrer musikalischen Ouvertüre zum Klingen gebracht.

Aufsichtsrat, Vorstand sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Dresdner Bank gratuliere ich sehr herzlich zum 125jährigen Gründungsjubiläum ihres Bankhauses. Herr Sarrazin hat mit uns soeben einen Streifzug durch die Geschichte unternommen - angefangen am 1. Dezember 1872, dem Tag der Schalteröffnung mit 30 Mitarbeitern, bis zum heutigen Tag, dem Geburtstag einer deutschen Großbank mit über 46000 Beschäftigten in Deutschland und Europa.

Die Geschichte der Dresdner Bank spiegelt die Geschichte Deutschlands mit allen Höhen und Tiefen wider: der rasche Aufstieg unseres Landes zur Industrienation im letzten Jahrhundert, Weltwirtschafts- und Bankenkrise in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, die Katastrophe zweier Weltkriege, nach 1945 sowjetische Besetzung und kommunistische Diktatur im Osten unseres Landes, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder im freien Teil Deutschlands. Die Deutschen in Ost und West sind in den fünf Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs getrennte Lebenswege gegangen - trotzdem sind sie ein Volk geblieben. Die Pflicht derjenigen, die auf der Sonnenseite deutscher Geschichte aufgewachsen sind, ist es, ihren Beitrag für möglichst rasch einander annähernde Lebensbedingungen in ganz Deutschland zu leisten.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die im positiven Sinne ungeheure Tat der ehemaligen Kriegsgegner, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem geschlagenen Deutschland die Hand gereicht und unser Land wieder aufgenommen haben in die Gemeinschaft der Völker. Natürlich denke ich dabei zuallererst an den Marshall-Plan, dessen 50. Jahrestag wir vor wenigen Tagen gefeiert haben. Große Staatsmänner wie Harry S. Truman und George C. Marshall haben uns nach dem Ende der Nazi-Barbarei zugerufen: Wir helfen euch, krempelt die Ärmel hoch, ihr werdet es schaffen. Die Gründergeneration hat diese großartige Chance genutzt und Westdeutschland wiederaufgebaut. Unsere Aufgabe ist es heute, den Menschen in den neuen Bundesländern das zu gewähren, was Stalin ihnen vor fünf Jahrzehnten verwehrt hat anzunehmen: Hilfe zur Selbsthilfe beim Aufbau Ost.

Die Dresdner Bank gehörte - noch vor der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands - zu den Rückkehrern der ersten Stunde. Nur 54 Tage nach dem Fall der Berliner Mauer hat Ihr Bankhaus, lieber Herr Sarrazin, als erste deutsche Bank in der Geburtsstadt Dresden ein eigenes Büro eröffnet. Die besondere Verbundenheit der Dresdner Bank mit "ihrer" Stadt zeigt sich auch in dem sehr großzügigen Engagement beim Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche. Dafür möchte ich an dieser Stelle ein besonderes Wort des Dankes sagen. Der Wiederaufbau dieses Bauwerks ist ein optimistisches Signal des Aufbruchs Dresdens in eine gute Zukunft.

II.

Meine Damen und Herren, Deutschland befindet sich wenige Jahre vor Beginn des neuen Jahrtausends inmitten tiefgreifender Veränderungen in der Welt. Wir werden die Zukunft gewinnen, wenn wir die Zeichen der Zeit erkennen und die notwendigen Konsequenzen ziehen. Wir müssen uns zum Beispiel einstellen auf die zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft. Die Gewichte im Welthandel verschieben sich, andere Länder holen auf. Dynamische Volkswirtschaften in Asien und in Lateinamerika entwickeln sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten.

Auch vor unserer Haustür, in Mittel- und Osteuropa, wachsen - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - neue Wettbewerber heran. Es gehört zu unseren elementaren Interessen, daß diese Länder - einschließlich Rußland, der Ukraine und der anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion - sich unwiderruflich auf den Weg machen in Richtung Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft. Die Alternative wäre - dies muß jedem klar sein - ein Rückfall in totalitäre Gesellschaftsformen der Vergangenheit. Die Folge wären neue Bedrohungen und neue Diskussionen über Raketenstationierungen. Wir wollen kein Zurück in diese Zeiten des Ost-West-Gegensatzes. Wir wollen Werke des Friedens tun. Dresden ist ein besonders geeigneter Ort für diese Botschaft.

Die Globalisierung wird noch verstärkt durch den umwälzenden technischen Fortschritt zum Beispiel in der Informationstechnik. Entlegene Standorte gewinnen neue Anziehungskraft durch die Möglichkeit des sekundenschnellen Datenaustauschs rund um den Globus. Die damit verbundenen Veränderungen erfüllen viele Menschen mit Sorgen, zum Beispiel um ihren Arbeitsplatz. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen. Zugleich gilt es aber, immer wieder auf die Chancen dieser Entwicklungen hinzuweisen. Neue Hochtechnologien, zum Beispiel der Telekommunikationsbereich, sind Wachstumsmärkte der Zukunft. Es geht dabei nicht zuletzt um Arbeitsplätze von morgen für diejenigen Dresdner, die heute noch gar nicht geboren sind.

Die zentralen Herausforderungen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert sind die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und das rechtzeitige Einstellen auf den tiefgreifenden demographischen Wandel in unserer Gesellschaft. Natürlich stehen wir in diesem Zusammenhang vor neuen und schwierigen Problemen. Dennoch haben wir keinen Anlaß zur Resignation. Die Frauen und Männer der ersten Stunde nach dem Zweiten Weltkrieg haben unter ungleich größeren Schwierigkeiten den Neuanfang geschafft. Wir - die Kinder und Enkel der Gründergeneration - haben heute alle Chancen für einen guten Start ins neue Jahrhundert, wenn wir jetzt entschlossen handeln.

Deutschland hat gute Voraussetzungen im internationalen Wettbewerb der Standorte. Wir haben eine ausgezeichnete Infrastruktur, die Arbeitnehmer in Deutschland sind hochqualifiziert. Das Wissen und Können der Menschen ist unser wichtigster Rohstoff. Das duale System der Berufsausbildung ist entscheidende Voraussetzung dafür, daß dies auch in Zukunft so bleibt. Unser Berufsausbildungssystem ist weltweit anerkannt - dies erfahre ich immer wieder bei meinen vielen Besuchen im Ausland.

Der Standort Deutschland verfügt - auch dies ist ein wichtiger Pluspunkt für unser Land - über eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand. Nicht zuletzt sind wir ein wirtschaftlich stabiles Land mit einem guten sozialen Klima. Natürlich gibt es auch Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Verbänden der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Dies ist ein ganz selbstverständlicher Bestandteil gelebter Tarifautonomie. Es zählt zu den besonders guten Erfahrungen der Sozialen Marktwirtschaft, daß Tarifangelegenheiten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in eigener Verantwortung ausgehandelt werden. Mein Wunsch ist allerdings, daß sich die Verhandlungspartner gelegentlich daran erinnern, daß unter den Tarifverträgen ihre Unterschriften stehen und deshalb Vertragsinhalte, die dem einen oder anderen unangenehm sind, nicht anschließend der Politik als Fehler zugeschoben werden können.

Meine Damen und Herren, die Wirtschaftsperspektive in der Mitte des Jahres 1997 hat sich spürbar verbessert. Das Konjunkturklima erwärmt sich. Das Wachstum im ersten Quartal ist ein erfreulicher Auftakt für das Jahr 1997. Dennoch: Das Konjunkturtempo ist noch zu gemächlich. Dies sage ich vor allem mit Blick auf die Arbeitslosigkeit. Zwar ist die Zahl der Arbeitslosen im Mai gesunken, doch dieser Rückgang ist noch zu gering. Deshalb müssen wir jetzt alle Kräfte darauf konzentrieren, dieses zentrale innenpolitische Thema gemeinsam anzugehen.

Die anziehende Konjunktur wird die künftige wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land positiv beeinflussen. Die meisten Konjunkturexperten erwarten 1997 ein reales Wachstum in ganz Deutschland von zweieinhalb Prozent. Der Aufschwung steht auf einem soliden Fundament. Mit einer jährlichen Inflationsrate von eineinhalb Prozent haben wir faktisch Preisstabilität erreicht. Die Zinsen befinden sich auf einem historisch niedrigen Niveau. Die Weltkonjunktur entwickelt sich lebhaft - dies wird unsere exportorientierte Wirtschaft beflügeln. Hinzu kommt, daß sich die exportbelastende D-Mark-Aufwertung vom Frühjahr 1995 inzwischen zurückgebildet hat. Den Zusammenhang von D-Mark-Wechselkurs und Exportbilanz - dies möchte ich an dieser Stelle gleich anfügen - sollten vor allem diejenigen genau studieren, die jetzt öffentlich davon reden, daß man den Euro verschieben sollte.

Zu den positiven Entwicklungen in Deutschland zähle ich auch, daß die Tarifabschlüsse zuletzt mehr Rücksicht auf Wachstum und Beschäftigung genommen haben. In der Chemieindustrie haben die Tarifpartner am 3. Juni 1997 Öffnungsklauseln beschlossen, die Betrieben in schwierigen Zeiten die notwendige Luft zum Atmen geben und ihnen für eine Übergangszeit die Möglichkeit einräumen, betriebliche Sonderregelungen zu treffen. Natürlich hätte ich mir gewünscht, daß solche Regelungen schon vor einigen Jahren möglich gewesen wären. Ich setze darauf, daß dieses gute Beispiel weitsichtiger Gewerkschafter und Arbeitgeber auch in anderen Branchen schnell Anhänger findet.

Die gemeinsame Pflicht aller, die für Beschäftigung Verantwortung tragen, ist es, die Bedingungen für neue Arbeitsplätze weiter zu verbessern. Ich bekenne mich ausdrücklich zu dem gemeinsam mit Wirtschaft und Gewerkschaften im Januar 1996 vereinbarten Ziel, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 zu halbieren. Daß dies möglich ist, haben wir in der zweiten Hälfte der 80er und zu Beginn der 90er Jahre gezeigt. Von 1983 bis 1992 sind in Westdeutschland insgesamt drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden. Auch heute gibt es in Westdeutschland trotz des Beschäftigungsrückgangs der letzten Jahre noch fast zwei Millionen mehr Arbeitsplätze als 1983. Damals wie heute gilt: Wir werden neue Arbeitsplätze gewinnen, wenn wir handeln!

Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften haben am 22. Mai 1997 in Berlin einen weiteren Schritt getan und eine gemeinsame Initiative für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland verabschiedet. Unser Ziel ist eine neue Schubkraft für den Aufbau Ost mit mehr Investitionen und damit zusätzlichen Arbeitsplätzen. Parallel dazu hat die Bundesregierung vor zwei Wochen ihr mittelfristiges Förderkonzept für den Aufbau Ost im Zeitraum 1999 bis 2004 beschlossen. Die Unterstützung für die neuen Bundesländer wird - wie angekündigt - auf hohem Niveau fortgeführt. Zugleich wird die Förderung auf diejenigen Unternehmen konzentriert, die sich besonders im internationalen Wettbewerb behaupten müssen, das heißt vor allem Industrie und produktionsnahe Dienstleistungen.

Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle meine Dankbarkeit darüber zum Ausdruck bringen, daß die deutsche Kreditwirtschaft an der gemeinsamen Aktion für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland mitwirkt. Das Kreditgewerbe hat Initiativen zugesagt, um Unternehmen in Schwierigkeiten rasch und wirksam zu helfen sowie Existenzgründer und Jungunternehmer bei der Beschaffung von Wagniskapital zu unterstützen. Gerade in den neuen Bundesländern sind aufstrebende mittelständische Unternehmen besonders angewiesen auf zuverlässige Partner in der Kreditwirtschaft. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Gründerzeit des vorigen Jahrhunderts und an den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals haben die Banken als Partner der Industrie einen wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Neubeginn gehabt. Heute werden sie besonders in den neuen Bundesländern gebraucht, um Innovationen zu finanzieren und unternehmerischen Wagemut zu fördern.

Die Verabschiedung der gemeinsamen Initiative für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland zeigt, daß in Deutschland die notwendige Bereitschaft zum konstruktiven Miteinander in entscheidenden nationalen Fragen vorhanden ist. Gesprächsfähigkeit und gemeinsames Handeln sind - ungeachtet aller notwendigen Auseinandersetzungen des Tages - eine unverzichtbare Voraussetzung, um die Herausforderungen der Zukunft in Deutschland zu meistern. Ich denke dabei zum Beispiel an das Thema Ausbildung. In diesem Jahr suchen 630000 Jugendliche eine Lehrstelle. Dies sind 13000 mehr als in den vergangenen Jahren. Bis zum Jahr 2005 wird die Zahl der Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, noch weiter steigen. Unternehmen, Gewerkschaften, Politik - alle sind gefordert, damit junge Frauen und Männer in Deutschland auch in Zukunft eine Lehrstelle erhalten, wenn sie dies wollen und die notwendigen Voraussetzungen erfüllen.

Bundesregierung und neue Bundesländer haben Mitte Mai ein Aktionsprogramm Lehrstellen-Ost 1997 beschlossen. Damit werden in diesem Jahr 15000 zusätzliche Ausbildungsplätze gefördert, da ein Ausgleich auf dem ostdeutschen Lehrstellenmarkt noch nicht aus eigener Kraft möglich ist. Die Anpassung der Berufsbilder an geänderte Anforderungen der Arbeitswelt wird mit Hochdruck vorangetrieben. Die Tarifpartner des privaten Bankgewerbes haben vereinbart, in diesem Jahr sieben Prozent mehr Lehrstellen als im Vorjahr bereitzustellen. Die Privatwirtschaft hat in eigener Verantwortung zusätzliche Initiativen für mehr Ausbildungsplätze ergriffen - auch im Bankgewerbe. All dies sind gute und wichtige Hilfen, um die Lage auf dem Lehrstellenmarkt wesentlich zu verbessern.

Eine wichtige Voraussetzung für Jugendliche, eine Lehrstelle zu finden, ist eine gute Schulbildung. Beim Rückblick auf die Vielzahl bildungspolitischer Reformen in den vergangenen Jahrzehnten müssen wir feststellen, daß sich nicht alles bewährt hat. Ich denke zum Beispiel daran, daß heute rund zehn Prozent der Schulabgänger aufgrund ihres Ausbildungsstandes nicht in der Lage sind, eine Lehrstelle anzutreten. Es handelt sich dabei wohlgemerkt um Schüler ohne geistige oder körperliche Behinderung. Sie müssen in Sonderlehrgängen nachgeschult werden, für die die Bundesanstalt für Arbeit jährlich 500 Millionen D-Mark ausgibt. Diese Entwicklung ist ein schlechtes Zeugnis der bestehenden Verhältnisse an deutschen Schulen. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen.

Natürlich müssen wir auch unser duales System der Berufsausbildung fit machen für die Zukunft. Dazu gehört für mich zum Beispiel, die Berufsschulzeiten vernünftiger zu organisieren. Das starre Festhalten an zwei Berufsschultagen pro Woche über die saisonalen Schwankungen des Jahres hinweg ist für viele Betriebe nicht zu verkraften. Mehr Flexibilität, zum Beispiel durch das Zusammenfassen von Berufsschultagen in Blockunterricht über mehrere Wochen, schafft zugleich die Möglichkeit, künftige Lehrlinge besser, qualifizierter und intensiver auszubilden. Entscheidend für mich ist es, jungen Menschen mit einer qualifizierten Ausbildung das Tor zu einer guten Zukunft zu öffnen. Dies ist nicht zuletzt eine Frage an die moralische Kraft unseres Volkes. Wir erwarten von den Jugendlichen ganz selbstverständlich, daß sie gegenüber Staat und Gesellschaft ihre Pflicht tun, die jungen Männer zum Beispiel bei der Bundeswehr oder im Zivildienst. Umgekehrt ist die Gemeinschaft verpflichtet, ihnen die grundlegenden Voraussetzungen für einen guten Start ins Berufsleben zu geben.

III.

Meine Damen und Herren, Umdenken und Handeln für Deutschlands Zukunft heißt, notwendige Reformen jetzt durchzusetzen. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren wichtige Maßnahmen für mehr Wachstum und Beschäftigung vorangetrieben. So sind zum Beispiel Bahn und Post unwiderruflich auf den Weg der Privatisierung gebracht worden. Der Börsengang der Telekom war ein voller Erfolg. Dies hat nicht zuletzt zu einer Belebung der Aktien- und Wagniskapitalkultur in Deutschland beigetragen. Wir werden den Finanzplatz Deutschland auch in Zukunft weiter stärken. Noch vor der Sommerpause wird die Bundesregierung das Dritte Finanzmarktförderungsgesetz beschließen. Damit wollen wir insbesondere mittelständischen Unternehmen den Weg an die Börse ebnen, den Zugang zu Wagniskapital erleichtern und die Rolle der Aktie gerade auch als ergänzende Säule der Altersvorsorge stärken.

Natürlich ist die Wagnisbereitschaft nicht allein eine Frage von Verordnungen und Gesetzen. Wir brauchen eine neue Kultur der Selbständigkeit in Deutschland. Es ist doch ein Alarmsignal, wenn zum Beispiel mehr als 50 Prozent aller Hochschulabsolventen in Deutschland in den Öffentlichen Dienst streben, aber keine 15 Prozent ein eigenes Unternehmen gründen wollen. Mit einem solchen Sicherheitsdenken werden wir die Herausforderungen in Zukunft nicht bestehen.

Gefragt sind mehr denn je junge Frauen und Männer, die sich etwas zutrauen und ja sagen zur Selbständigkeit. Sie sind es vor allem, die in unserer Gesellschaft für Innovation, Dynamik und Arbeitsplätze sorgen. Dafür verdienen sie unsere Anerkennung und Ermutigung. Wir dürfen es nicht zulassen, daß diejenigen, die sich gerne selbständig machen würden, von Bedenkenträgern in ihrer Umgebung demotiviert werden. Mit einem Wort: Wir brauchen in Deutschland wieder ein gesellschaftliches Klima, das junge Menschen anspornt, etwas zu wagen und zu gewinnen!

Meine Damen und Herren, in diesen Tagen und Wochen stehen weitere wichtige Zukunftsentscheidungen für mehr Wachstum und Beschäftigung auf der Tagesordnung. Ein zentrales Vorhaben ist es, die Steuerlast für Bürger und Unternehmen zurückzuführen und die Investitionskraft der Betriebe zu stärken. Ziel der großen Steuerreform, die wir uns vorgenommen haben, ist es, die Einkommen- und Körperschaftsteuersätze auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zurückzuführen. Dies hat nichts damit zu tun - wie es in manchen absurden Parolen heißt -, die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen. Es geht schlicht und einfach darum, Investoren wieder stärker für den Standort Deutschland zu gewinnen. Es kann uns doch nicht gleichgültig lassen, wenn Nachbarregionen in den Niederlanden oder in Österreich investierende Unternehmen aus Deutschland abwerben mit dem Hinweis auf die viel niedrigeren Steuersätze in ihrem Land. Mit einem Machtwort des Bundeskanzlers ist diese bedenkliche Entwicklung nicht aufzuhalten. Entscheidend ist es, Tatsachen zu schaffen, damit Investitionen in Deutschland sich wieder stärker lohnen.

Das Gesetzgebungsverfahren für die große Steuerreform befindet sich voll im Zeitplan. Der Deutsche Bundestag wird über den Gesetzentwurf Ende dieses Monats beschließen, der Bundesrat wird dies noch vor der Sommerpause tun. Anschließend wird darüber im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat zu beraten sein. Das mögliche Ergebnis ist Gegenstand einer Fülle von Spekulationen in der Presse. Was immer Sie, meine Damen und Herren, tagtäglich in der Presse lesen: Wir werden in diesem Jahr die große Steuerreform verabschieden. Natürlich wird sie nicht in allen Punkten - dies liegt im Wesen von Kompromissen - meinen Vorstellungen entsprechen. Dennoch wird diese Reform ein bedeutender Fortschritt sein. Entscheidend ist für mich, möglichst rasch Klarheit zu schaffen, weil dies die beste Voraussetzung dafür ist, daß Investitionen schnell getätigt werden und neue Arbeitsplätze sobald wie möglich entstehen. Ich werde auch nicht in meinem Einsatz dafür nachlassen, vor allem die unternehmensbezogenen Steuern möglichst schon ab 1. Januar 1998 zu senken.

Meine Damen und Herren, das zweite große Vorhaben der Bundesregierung ist es, unser System der sozialen Sicherung auf eine dauerhaft tragfähige Grundlage zu stellen und die Lohnzusatzkosten langfristig zu begrenzen. Der Altersaufbau unserer Bevölkerung wird sich in den nächsten Jahrzehnten dramatisch verändern. Es ist für mich immer wieder erstaunlich festzustellen, daß in dieser zentralen Frage für die Zukunft unserer Gesellschaft wichtige Fakten nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden. Tatsache ist: Deutschland gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa. Gleichzeitig steigt - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen. Darüber hinaus wächst der Anteil der älteren Menschen in unserer Bevölkerung. Ich nenne stellvertretend für diese Entwicklung nur ein einprägsames Beispiel: Die Zahl der Menschen, die 100 Jahre und älter sind, hat sich von gut 1000 im Jahre 1980 auf über 4500 im vergangenen Jahr mehr als vervierfacht.

Es ist unsere Pflicht, bereits heute die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen, zum Beispiel in unserem Gesundheitssystem. Die Kosten in diesem Bereich sind in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Die Aufwendungen für Kuren - ich nenne nur dieses Beispiel - sind im Zeitraum von 1990 bis 1996 im Bereich der Rentenversicherung um über 50 Prozent gestiegen, im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung lag der Kostenzuwachs sogar noch höher. Dies zwingt dazu, die Eigenverantwortung in diesen und in anderen Bereichen der sozialen Sicherungssysteme zu stärken, und zwar ohne das Grundprinzip der Solidarität in Frage zu stellen.

Für mich ist klar: Wer angesichts der sich abzeichnenden demographischen Herausforderung und der zunehmenden Kosten auch in Zukunft ein leistungsfähiges Gesundheitssystem mit einem Zugang gerade auch älterer Menschen zu moderner Medizin und mit dem Grundsatz der freien Arztwahl erhalten will - und dies will ich -, der muß zwingend auch ein Stück mehr Verantwortung in diesem Bereich akzeptieren. Dies gilt im übrigen ebenso für unser System der Alterssicherung. Wir streben eine Reform an, die den Rentnern auch in Zukunft eine lohn- und beitragsbezogene Rente sichert, den Beitragszahlern in den kommenden Jahren eine Belastung gewährleistet, die kalkulierbar und tragfähig ist, und die Investoren ein verläßliches Signal gibt, daß die Entwicklung der gesetzlichen Lohnzusatzkosten längerfristig begrenzt wird.

IV.

Meine Damen und Herren, bei allen ökonomischen Herausforderungen, vor denen wir unbestreitbar stehen, liegt der Schlüssel für eine gute Zukunft Deutschlands vor allem in der Sicherung von Frieden und Freiheit in Europa. Vor einem Jahrzehnt haben wir uns in Europa - ich denke ich diesem Zusammenhang an manches Gespräch mit Margaret Thatcher - darüber auseinandergesetzt, ob wir in Deutschland die Kurzstreckenrakete Lance einführen. Ich habe mich damals strikt geweigert, diese Rakete in Deutschland zu stationieren, weil sie im schlimmsten Fall Ostdeutschland getroffen hätte. Dieser Rückblick macht deutlich, welche gewaltige Wegstrecke wir seither zurückgelegt haben. Heute können wir feststellen, daß wir zum ersten Mal in der Geschichte der Deutschen gleichzeitig gute und herzliche Beziehungen unterhalten zu Washington und Paris, zu London und Moskau.

Vor zwei Wochen, am 27. Mai 1997, haben wir in Paris die Grundsatzakte zwischen NATO und Rußland unterzeichnet. Wer, meine Damen und Herren, hätte dies noch vor drei Jahren für möglich gehalten? Am 8. und 9. Juli 1997 werden wir beim NATO-Gipfel in Madrid Grundsatzentscheidungen zur Öffnung für neue Mitglieder treffen und die Namen erster Beitrittskandidaten nennen. All diese Schritte bringen uns dem Bau des Hauses Europa einen großen Schritt näher. Wir wollen - ich beziehe es an dieser Stelle auf unseren nordöstlichen Nachbarn -, daß Polen Mitglied der NATO und der Europäischen Union wird - vorausgesetzt natürlich, daß unsere polnischen Nachbarn die notwendigen Voraussetzungen für den Beitritt erfüllen. Wir wollen, daß die Grenze zwischen Deutschland und Polen, an Oder und Neiße - eine Grenze, die sich tief und bitter ins Gedächtnis von Polen und Deutschen eingegraben hat -, dieselbe alltägliche Normalität gewinnt wie die deutsch-französische Grenze zwischen Kehl und Straßburg, zwischen Landau und Weißenburg.

Deutschland als Land in der Mitte Europas hat ein vitales Interesse, auf dem ganzen Kontinent den Frieden zu festigen und die Freiheit zu sichern. Wir sind das Land mit den meisten Nachbarn. Und wir sind das Land mit der größten Bevölkerung und der stärksten Wirtschaftskraft in Mitteleuropa. Wir sollten gelegentlich zur Kenntnis nehmen, daß uns dies bei unseren Nachbarn nicht nur Zuneigung einträgt. Ich sage dies besonders an die Adresse derjenigen in unserem Land, die sich gegenüber anderen in Europa in den vergangenen Jahren gelegentlich als Primus hervorgetan haben. Als Folge machen wir heute die Erfahrung, die wir alle aus unserer Schulzeit kennen: Wenn der Primus schlechte Noten heimbrachte, dann freute sich stets die ganze Klasse.

Meine Damen und Herren, die Fortsetzung des europäischen Einigungswerks ist nicht allein eine Frage von Frieden und Freiheit. Wir brauchen Europa auch aus ganz praktischen Gründen, zum Beispiel im Bereich der inneren Sicherheit. Das internationale Treiben der organisierten Kriminalität, ich nenne nur die Drogenmafia, macht ein gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene unerläßlich. Deshalb brauchen wir eine europäische Polizei, die EUROPOL, die dem Treiben internationaler Verbrechersyndikate Einhalt gebietet. Die Bürger Europas haben einen Anspruch darauf, daß ihre Sicherheit auch in Zukunft gewährleistet bleibt.

Dies ist - dies füge ich sogleich hinzu - kein Ruf nach dem starken Europa, das alles und jedes regelt und letztendlich an einem Übermaß an Bürokratie erstickt. Ich plädiere leidenschaftlich für ein bürgernahes Europa. Das Prinzip der Subsidiarität muß umgesetzt und gesichert werden. Entscheidungen sollen so nah wie möglich bei den Betroffenen fallen. Dazu gehört für mich, daß die Gemeinde als erste und wichtigste Einrichtung für den Bürger auch in Europa ihren eigenen Rang erhält.

Ein zentraler Baustein für das gemeinsame Haus Europa ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Ich widerspreche entschieden der von Margaret Thatcher immer wieder vertretenen These, eine gehobene europäische Freihandelszone sei ausreichend. Die gemeinsame europäische Währung - der Euro - ist eine wichtige und notwendige Ergänzung des europäischen Binnenmarktes. Zugleich schaffen wir die Voraussetzungen dafür, daß Europa weiter zusammenwächst.

Wir wollen, daß die Währungsunion - wie vereinbart - pünktlich am 1. Januar 1999 beginnt. Und wir wollen eine dauerhaft starke gemeinsame Währung. Die Entscheidung über den Kreis der Teilnehmer fällt voraussichtlich im Mai 1998. Bis dahin werden Sie noch viele Mutmaßungen und Spekulationen selbsternannter Gurus in den Zeitungen lesen. Lassen Sie sich davon nicht beeindrucken. Ich erinnere nur an manche gewagte Prognose von Vertretern dieser Zunft im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit, die von der Realität widerlegt und von den Urhebern alsdann stillschweigend begraben worden ist.

Wir haben in Europa für die Einführung der gemeinsamen Währung eindeutige Stabilitätskriterien und einen klaren Zeitplan vereinbart. Diese Vereinbarung ist im Vertrag von Maastricht festgehalten. Bundestag und Bundesrat haben auf dieser Grundlage ebenso klare Beschlüsse gefaßt. Daran möchte ich bei dieser Gelegenheit all diejenigen erinnern, die den Entschließungen beider Verfassungsorgane zugestimmt haben und die jetzt von einer Verschiebung sprechen, dabei aber verschweigen, welche Schlußfolgerungen sie daraus ziehen. Ich wiederhole noch einmal klipp und klar: Kriterien und Zeitplan gelten. Anstatt darüber zu philosophieren, ob wir die Vorgaben des Maastrichter Vertrages erreichen, sollte besser jeder in unserem Land das Notwendige tun, damit wir sie erreichen.

V.

Meine Damen und Herren, ich bin sicher, wir Deutschen sind in der Lage, die anstehenden materiellen Probleme zu lösen, wenn wir den notwendigen Mut, die Klugheit und den Sachverstand aufbringen. Wir können sie nicht über Nacht lösen, aber wir können sie lösen. Die eigentliche Aufgabe bei den notwendigen Veränderungen unserer Gesellschaft liegt im immateriellen Bereich. Entscheidend ist unsere Werteordnung.

Es gibt Entwicklungen, bei denen wir nicht wegschauen und zu denen wir nicht schweigen dürfen. Steuerhinterziehung, das Erschleichen von Subventionen oder der Mißbrauch von Sozialleistungen: All dies sind keine Kavaliersdelikte, sondern schlimme Vergehen gegen die große Mehrheit der ehrlichen Bürger. Wir müssen Front machen gegen Trittbrettfahrer jeglicher Art, die Leistungen der Gemeinschaft in Anspruch nehmen, ohne selbst etwas beizusteuern.

Klassische Werte wie zum Beispiel Treue zu Person und Sache, Mitmenschlichkeit und Weltoffenheit, Ehrlichkeit und Fleiß sind keine verstaubten Tugenden, sondern unverzichtbarer Kompaß für unsere Gesellschaft auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Für die große Mehrheit der Menschen in unserem Land gehören Pflichten und Rechte ganz selbstverständlich zusammen. Die Hilfsbereitschaft und die Solidarität zum Beispiel vieler junger Menschen mit Blick auf die Länder der Dritten Welt sind Zeichen der Ermutigung. Diese positive Einstellung Jugendlicher mitten in unserer Gesellschaft ist eine solide Grundlage für eine neue Aufbruchstimmung in eine gute Zukunft.

125 Jahre Geschichte der Dresdner Bank ist zugleich die Geschichte vieler Frauen und Männer, die nicht aufgegeben, sondern mit Mut zur Zukunft ihre Ideen, ihre Visionen durchgesetzt haben. Menschen wie diese zählen zu den Leistungseliten unseres Landes, die aus eigener Überzeugung mehr leisten als andere, die Vorbild sind für andere und Verantwortung für andere übernehmen. Mit diesen Tugenden werden wir eine gute Zukunft für unser Land gewinnen. Ich möchte Sie alle herzlich einladen, daran nach Kräften mitzuwirken.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 58. 7. Juli 1997.