9. März 1978

Rede in der 78. Sitzung des Deutschen Bundestages anlässlich der Aussprache über den Bericht zur Lage der Nation

 

Dr. Kohl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren. Der Herr Bundeskanzler hat zu Beginn seines Berichts zur Lage der Nation auf zwei wichtige, uns bewegende Vorgänge hingewiesen. Zunächst einmal ging er auf die Diskussion ein, die gegenwärtig über die offenkundig schlimmen Fehler während der Entführung Hanns Martin Schleyers im Zusammenhang mit den Meldungen aus Erftstadt stattfindet. Herr Bundeskanzler, ich gehe davon aus, ohne irgendwelchen Ermittlungen vorgreifen zu wollen, daß Sie sich ganz persönlich in dieser Sache engagieren und für eine völlige und rückhaltlose Aufklärung dieser Vorgänge eintreten werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich sage das, weil in der bei Ihnen häufig üblichen Weise auf der Suche nach den Schuldigen der erste schon genannt wurde: das föderale System. Die hier unmittelbar angesprochenen Bundes- und Landesminister waren in den betreffenden Wochen unentwegt zusammen. Schon rein optisch konnte man sich eine intensivere Zusammenarbeit überhaupt nicht vorstellen. Deswegen möchte ich davor warnen, die Zusammenarbeit von Bund und Ländern jetzt zunächst zum schuldigen Teil zu erklären, sondern ich bin dafür, daß die Bundesregierung das Notwendige tut, damit die Bürger der Bundesrepublik Deutschland ohne Ansehen von Personen so rasch wie möglich darüber aufgeklärt werden, wie es wirklich war, wie diese Fehler überhaupt möglich waren.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich füge gleich hinzu: Ich bin sicher, daß wir alle im Bundestag - und ich hoffe, daß die Mitglieder der Bundesregierung darin einig gehen - der Auffassung sind, daß man die Schuld nicht auf untergeordnete Dienststellen oder Beamte abschieben darf.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Hier muß klar und deutlich auch die politische Verantwortung gesehen werden.

Deswegen appelliere ich an Sie ganz persönlich, Herr Bundeskanzler, weil Sie ja im Zusammenhang mit den Vorgängen von Stammheim ungewöhnlich drastische und scharfe Formulierungen gewählt haben. Das, was wir jetzt befürchten müssen - ich will es so formulieren -, übersteigt natürlich in seiner Bedeutung bei weitem das, was in Stammheim ganz gewiß unliebsam und unerfreulich war. Ich gehe auch von der Erwartung aus, da ja die Bundesregierung im Darstellen ihrer Tätigkeit in Dokumentationen Erfahrungen hat, daß sie auch diesen Vorgang der Öffentlichkeit lückenlos dokumentieren wird, damit jeder nachlesen kann, was wirklich war.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

Sie sollten nicht lange zuwarten, denn die Erregung innerhalb der Bundesrepublik, die erregenden Fragen: „Könnte Hanns Martin Schleyer noch leben, hätte er eine Chance gehabt, wenn solche Fehler nicht vorgekommen wären?", diese Fragen müssen beantwortet werden, und zwar im Interesse aller Beteiligten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie haben einige Ausführungen zur wirtschaftlichen Lage gemacht, Herr Bundeskanzler. Wir haben hier vor wenigen Tagen eine ausführliche Debatte über dieses Thema gehabt. Deswegen will ich nur einen Teil Ihrer Ausführungen ansprechen, nämlich Ihre Ausführungen zu den jetzt laufenden Streiks, Streikdiskussionen und Urabstimmungen. Sie haben in einem mir nicht ganz verständlichen Satz auf die Gefährdung der Tarifautonomie hingewiesen. Ich wäre Ihnen, Herr Bundeskanzler, sehr dankbar, wenn Sie dem Hause mitteilen könnten, wer in der Bundesrepublik die Tarifautonomie gefährdet, wer die Absicht hat, etwa die Tarifautonomie abzuschaffen, einzuschränken oder in irgendeiner Form diese wichtige Voraussetzung der lebendigen Verfassung der Bundesrepublik, ja, auch der funktionierenden Sozialen Marktwirtschaft zu gefährden.

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Herr Abgeordneter Kohl, Sie gestatten die Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?

Dr. Kohl (CDU/CSU): Bitte!

Wehner (SPD): Herr Kollege Dr. Kohl, darf ich aus dieser Ihrer Feststellung, wie Sie sie treffen, entnehmen, daß Sie das nicht decken, was z.B. der Herr Kollege Dollinger hier in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht in bezug auf Tarifautonomie in der Weise gesagt hat, die, so habe ich es verstanden, der Bundeskanzler kritisch betrachtet hat?

Dr. Kohl (CDU/CSU): Herr Kollege Wehner, es mag sein, daß Sie das so verstanden haben. Wenn Sie aber den Text der Dollingerschen Rede nachlesen - und ich habe sie durchaus genauso wie Sie hoffentlich in Erinnerung -, dann müssen Sie mir zustimmen, daß Herr Dollinger etwas gesagt hat, von dem ich hoffe, daß es auch Ihre Billigung findet, denn er sprach von der Gesamtverantwortung der Tarifpartner. Wer Ja sagt zur Tariffreiheit, Tarifhoheit, wer so formuliert - und Sie stimmten mir ja zu -, wie ich es eben tat, kann doch nicht die Gesamtverantwortung der Tarifpartner für das gesamtwirtschaftliche Geschehen der Bundesrepublik Deutschland leugnen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn beispielsweise - ich will das ganz offen ansprechen - jetzt eine Diskussion aufkommt, Herr Kollege Wehner, über die Tarifüberlegungen im öffentlichen Dienst, dann ist das ja nicht irgendein Teil der wirtschaftlichen Branchen der Bundesrepublik,

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

sondern hier sind Bund, Länder und Gemeinden ganz direkt involviert. Das ist doch unstreitig. Wenn etwa in dieser Runde Führungsfunktionen hinsichtlich der Höhe und der Ausgestaltung der Tarifverträge von der öffentlichen Hand übernommen würden, hat das eine enorme Auswirkung auf das gesamtwirtschaftliche Geschehen. Das hat Dollinger angesprochen, das habe auch ich immer wieder angesprochen, wobei ich ganz offen auch hier im Bundestag erkläre, daß im öffentlichen Dienst ein bemerkenswerter zusätzlicher Punkt hinzukommt, daß nämlich die Qualität des Arbeitsplatzes, nämlich des sicheren Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst, ein sehr eigenes Gewicht in einem Augenblick hat, in dem wir über eine Million Arbeitslose in der Bundesrepublik zählen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Kollege Wehner, ich hatte mich eigentlich schon gefreut, als Sie sich zu Wort meldeten, weil ich die Hoffnung hatte, daß Sie die einzige mir bekannte Äußerung, die in die Tarifhoheit eingreift, ansprechen wollten, nämlich die Äußerung des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, des Kollegen des Herrn Bundeskanzlers im Amt des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, Hans Koschnick. Denn Koschnick hat ja in diesem Zusammenhang gesagt, die Unternehmer führten in der aktuellen Lohnauseinandersetzung einen - ich zitiere wörtlich - „nackten, brutalen Klassenkampf von oben".

(Zustimmung des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD]. - Dr. Marx [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Wer so redet - und wer dazu noch Beifall gibt; aber von Ihnen habe ich nichts anderes erwartet, Herr Kollege -, der verteufelt doch in dieser schwierigen gesamtwirtschaftlichen Lage einmal mehr Unternehmer und Gewinne, der gießt Öl ins lodernde Feuer der lohnpolitischen Auseinandersetzung, der dient nicht dem inneren Frieden der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, ich hätte es sehr begrüßt, wenn Sie die Gelegenheit Ihres Eingehens auf diesen Fragenbereich dazu benutzt hätten, deutlich zu sagen, daß Sie mit derartigen Äußerungen, wie sie Herr Koschnick machte, nichts im Sinn haben und daß das in der Tat die Tarifautonomie in der Bundesrepublik gefährdet. Denn jeder weiß doch, daß gerade bei diesen lohnpolitischen Auseinandersetzungen niemand, dem es um die Sicherheit der Arbeitsplätze geht, aus den Augen verlieren darf, daß unsere wichtigsten Probleme in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung die Wiederherstellung der Investitionsfähigkeit der Unternehmen, eine einsichtsvolle Tarifpolitik und die Rückkehr zu Wachstum und Vollbeschäftigung sind.

Dann gibt es noch einen Punkt, wo ich eigentlich - Lage der Nation, Herr Bundeskanzler, das heißt doch auch, sich mit den Grundvoraussetzungen und Prinzipien der Politik zu beschäftigen - von Ihnen gern ein Wort gehört hätte. Ich denke nicht daran, hier in die aktuelle Auseinandersetzung um lohnpolitische Leitlinien im Druck- und Zeitungsgewerbe einzutreten. Ich habe viel Verständnis, wir alle haben angesichts der enormen Umstellungsprozesse im technischen Bereich, im Druckgewerbe, bei den Zeitungen viel Verständnis für die Angst um die sicheren Arbeitsplätze in den Druckhäusern. Aber auch und gerade wenn wir uns von diesem Pult aus in die lohnpolitischen Auseinandersetzungen nicht einmischen wollen, bleibt doch die Feststellung erlaubt, daß ein Bestreiken von Zeitungen nicht ein Vorgang in irgendeinem gewerblichen Bereich ist, sondern daß zutiefst die Meinungsfreiheit, die Meinungsvielfalt und damit eine Grundvoraussetzung der Demokratie angesprochen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn dies richtig ist, muß die Frage öffentlich gestellt werden - sie muß erlaubt sein -, ob es wirklich nur - ich unterstreiche: nur - tarifpolitische Entscheidungen sind, wenn jetzt ganz bestimmte Zeitungen und ganz bestimmte Verlage weiter bestreikt werden. Es drängt sich doch die Frage auf - das wäre schon ein Thema für die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler -, ob hier nicht ganz bestimmte Verlage, ganz bestimmte Zeitungen, die ganz bestimmte Richtungen der Politik, vor allem der Gesellschaftspolitik vertreten, getroffen werden sollen, ob sie gar, weil sie gegen bestimmte systemverändernde Ideologien stehen, von bestimmten Ideologen zum Schweigen gebracht werden sollen. Das ist eine der Grundfragen, vor denen wir in diesen Wochen stehen. Ich erwarte eigentlich, daß aus Ihrem Munde, Herr Bundeskanzler, in diesen Tagen auch dazu ein klärendes Wort über Ihre eigene Position kommt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Herr Abgeordneter Kohl, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?

Kohl (CDU/CSU): Bitte.

Wehner (SPD): Herr Abgeordneter Dr. Kohl, meinen Sie damit den Süddeutschen Verlag, die „Süddeutsche Zeitung"?

(Lachen bei der CDU/CSU.)

Dr. Kohl (CDU/CSU): Herr Abgeordneter Wehner, ich kann Ihnen jetzt alle Verlage aufzählen. Da finden Sie schon einen inneren Zusammenhang, wie ich vermute.

(Wehner [SPD]: Ach so! Schönen Dank!)

Und aus Ihrer Frage und aus Ihrer bewußten Freundlichkeit der Fragestellung entnehme ich, daß Sie diesen gleichen Zusammenhang sehr wohl kennen.

(Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, das eigentliche Thema dieser Debatte „Bericht zur Lage der Nation" ist die Lage im geteilten Deutschland. Herr Bundeskanzler, wer Ihren langen, sehr detaillierten Bericht aufmerksam verfolgt hat,

(Zuruf von der SPD.)

wird mir zustimmen - das war ja in jeder Weise zu merken -, daß Sie hier eher widerwillig und verlegen eine unangenehme Pflichtübung absolviert haben. Das ist das erste, was dazu zu sagen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

In allen Fällen, wo Ihnen die Beweise für Ihre Thesen, Ihre Behauptungen fehlen, greifen Sie wie immer in die alte Klamottenkiste mit Unterstellungen und Ausfällen gegen die Opposition. Herr Bundeskanzler, es ist nicht Ihres Amtes, hier Ablenkungsmanöver durchzuführen. Sie haben als Bundeskanzler Rechenschaft zu geben. Das ist der Sinn dieses Berichtes zur Lage der Nation.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn ich nun diesen Rechenschaftsbericht - ich darf ihn so nennen - mit der Realität vergleiche, dann ist er in der Tat mager. Ihr Bericht beweist doch ähnlich wie das Verhalten in den letzten Monaten, daß es unübersehbar ist, daß die Provokationen durch die SED-Führung zugenommen haben, während Sie und Ihre zuständigen Minister und Mitarbeiter sich in aufgeregter Untätigkeit ergehen. Daß sich die oppositionellen Strömungen in der DDR und in der SED verstärken, wird von der Bundesregierung nicht zur Kenntnis genommen oder in einer gänzlich unverständlichen Weise heruntergespielt.

Ich will ein Beispiel nennen, das für viele steht und das kaum in der Öffentlichkeit beachtet wurde. Vor wenigen Tagen erst wurden positive Ergebnisse von Meinungsumfragen zur Frage der Wiedervereinigung in allen westeuropäischen Ländern veröffentlicht. Wenn Sie die beinahe indignierte - man muß das angesichts des Staatssekretärs im zuständigen Amt so formulieren -

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

Erklärung des zuständigen Staatssekretärs dazu hören oder lesen, dann kann man nur sagen: Wieweit haben Sie sich eigentlich von der Wirklichkeit des Lebens in der Bundesrepublik und in Europa entfernt?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Diejenigen, Herr Bundeskanzler, die dann diese Dinge beim Namen nennen, werden in gewohnter Manier von Ihnen als Scharfmacher, als Aufheizer und was weiß ich denunziert.

Max Frisch, von Ihnen, meine Damen und Herren, auf Ihrem letzten Hamburger Parteitag stürmisch gefeiert, Ihr Weggenosse auf manchen Reisen, Herr Bundeskanzler, hat das schöne Wort gesprochen: „Die Lüge beginnt im Verschweigen!" Das, meine Damen und Herren, ist das Thema, das hier anzusprechen ist. Ihre Deutschlandpolitik, Herr Bundeskanzler, stolpert von Zwischenfall zu Zwischenfall.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn Ihnen das so abstrakt erscheint, nun, dann erinnern Sie sich doch an die Reise des Herrn Staatsministers Wischnewski nach Ost-Berlin.

(Sehr gut! von der CDU/CSU.)

Sie war der Inbegriff der Planlosigkeit und der Erfolglosigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU. Würzbach [CDU/CSU]: Aber hochprozentig! - Lachen bei der CDU/CSU.)

Außer Ihnen und Herrn Friedrich von der SPD gibt es sicher keinen in diesem Saal, der darin einen Erfolg erblicken kann. Ich glaube, nicht einmal die Mehrheit des Kabinetts ist dieser Auffassung, und sie muß doch an sich von Amts wegen dieser Auffassung sein.

Meine Damen und Herren, dies macht die wirkliche Lage deutlich. Es macht deutlich, welch weiten Weg diese Bundesregierung zurückgelegt hat vom Aufbruchspathos Willy Brandts 1969, als noch von der historischen Versöhnung zwischen Ost und West die Rede war, bis hin zur Ankündigung einer Erbfeindschaft zwischen DDR und Bundesrepublik in der Kanzleramtsstudie des Jahres 1976, bis hin - ich sage es noch einmal - zu einer verlegenen routinemäßigen Erledigung des Berichts zur Lage der Nation.

Wer diesen Weg noch einmal nachvollzieht, Herr Bundeskanzler, der versteht das Ausmaß Ihrer Ratlosigkeit in dieser Frage. Die Interpretationskünste, die Sie dabei aufwenden, kann man nur mit dem Psychologenbegriff des Wirklichkeitsverlustes erklären. Das ist die einzige Erklärung, die ich habe. Die Auseinandersetzung um die Deutschlandpolitik der vergangenen Jahre, um Ihre Fehler und Ihre Versäumnisse, um Ihre Unausgewogenheit und Leichtfertigkeit hat die gemeinsam bindenden und verpflichtenden Grundlagen aller Parteien in der Deutschlandpolitik in den Hintergrund gerückt. Ich finde, es ist an der Zeit, den Grundlagen und Prämissen unserer Deutschlandpolitik - ich sage bewußt: unserer Deutschlandpolitik - wieder ihren historischen und angemessenen Rang zu geben.

Ich will jetzt von dem reden, was uns doch gemeinsam bindet. Uns bindet gemeinsam der Auftrag des Grundgesetzes. Den Auftrag unseres Grundgesetzes, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, hat schon Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung vom 21. Oktober 1949 ganz präzise formuliert, als er sagte:

„In der Sowjetzone gibt es keinen freien Willen der deutschen Bevölkerung. Das, was jetzt dort geschieht, wird nicht von der Bevölkerung getragen. Die Bundesrepublik Deutschland stützt sich dagegen auf die Anerkennung durch den frei bekundeten Willen von rund 23 Millionen stimmberechtigter Deutscher."

Uns bindet gemeinsam der Deutschlandvertrag von 1954;

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Das dürfen wir nicht vergessen!)

uns bindet gemeinsam das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 und vom 7. Juli 1975

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Gut, daß es noch einmal gesagt wird!)

und die gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 zu den Ostverträgen.

(Beifall bei der CDU/CSU. - Wehner [SPD]: Das ist aber ein komisches Ragout!)

Herr Wehner, für mich ist das kein Tabu.

(Wehner [SPD]: Kein Tabu, sondern ein komisches Ragout! - Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Typisch, diese Abwertung durch Wehner!)

Ich weiß nicht, Herr Wehner, warum Sie jenes Stück Weg, das wir doch gemeinsam gingen, jetzt als komisch empfinden. Ich empfinde es als peinlich, daß Sie es als komisch empfinden.

(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, das sind Grundlagen deutscher Politik

- ich sage es noch einmal, Herr Wehner -, die uns alle in diesem Hause verpflichten. Sie sollen und sie können und sie dürfen von niemandem in Frage gestellt werden. Herr Bundeskanzler, wenn Sie sich in Ihrer Politik unmißverständlich auf diesen Grundlagen einrichten, werden Sie uns auf Ihrer Seite finden.

Politik darf sich nicht nur auf die Definition ihrer Grundlagen und Prämissen beschränken, sie bedarf auch der Kunst der Verwirklichung. Deswegen fordern wir nachdrücklich, die gemeinsamen Grundlagen der Deutschlandpolitik aktiv umzusetzen. Das heißt doch, meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit den Verträgen ganz konkret: Wir müssen im Interesse unserer Mitbürger sicherstellen, daß die Verträge nicht nachträglich zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland uminterpretiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir müssen die Lebensfähigkeit West-Berlins erhalten, und wir müssen die Absichtserklärungen der Verträge endlich politische Wirklichkeit werden lassen und ohne Wenn und Aber auf ihrer Einlösung bestehen.

Dies sind die konkreten Aufgaben. Herr Bundeskanzler, packen Sie diese Aufgaben an, statt um die entscheidenden Punkte herumzureden. Dann finden Sie die Unterstützung des ganzen Hauses.

(Beifall bei der CDU/CSU. Zuruf des Abg. Dr. Marx [CDU/CSU])

Dann habe ich eine herzliche Bitte - ich will es so freundlich formulieren -: Machen Sie doch endlich Schluß damit, immer wieder die Schlachten von gestern zu schlagen. Wir haben gar keinen Grund, gerade nach den Erfahrungen mit Ihrer Politik in den letzten Jahren, unsere Kritik an den von Ihnen geschaffenen Verträgen zurückzunehmen. Aber - und das ist sehr wesentlich - Sie sollten doch endlich damit aufhören - Sie als Bundeskanzler, der das Interesse der ganze Bundesrepublik Deutschland vertreten muß -, unsere Kritik an Ihrer Politik zum Anlaß oder zum Vorwand zu nehmen, um damit unsere Vertragstreue in Frage zu stellen. Sie schaden damit nicht der Opposition, Sie schaden der Bundesrepublik Deutschland. Das ist der Punkt, den ich Ihnen vorwerfe.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler und Herr Kollege Wehner, Verträge sind kein Privateigentum einer Partei, sondern Verträge der Bundesrepublik Deutschland. Diese Ostverträge sind gegen unseren Willen zustande gekommen, aber sie sind rechtskräftig. Wir haben immer wieder erklärt, daß wir selbstverständlich auf der Grundlage dieser Verträge Politik machen müssen.

(Wehner [SPD]: Aber was für eine!)

Hören Sie also doch damit auf, uns Entspannungsfeindlichkeit vorzuwerfen. Damit arbeiten Sie doch nur jenen im Bereich des Ostblocks in die Hände, die geradezu darauf warten, Vorwände für ihre strikte Politik der Abgrenzung, um ihre inneren Probleme bewältigen zu können, zu erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe auch den Eindruck, Herr Bundeskanzler, Sie tun das überhaupt nur deshalb, weil Sie Feindbilder brauchen. Sie bauen, um Ihr Versagen in wesentlichen Teilen der deutschen Politik etwas vernebeln zu können, hier wieder solche Pappkameraden - ich sage es einmal so drastisch - auf, die mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun haben.

Ich selbst habe, wie viele meiner Freunde, in den letzten Jahren Gelegenheit gehabt, mit einer großen Zahl der wichtigsten Staats- und Parteiführer im kommunistischen Bereich Mittel- und Osteuropas zu sprechen, ob das Herr Kossygin, Herr Gierek oder Ceausescu, Kadar, Schiewkoff oder Tito war. Alle haben eines gesagt - es ist gar nicht überraschend, daß sie das gleiche sagten; denn es ist vernünftig -, sie seien daran interessiert, mit der ganzen Bundesrepublik Deutschland zusammenzuarbeiten und nicht mit 50 % der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Sie glauben doch nicht, Herr Bundeskanzler, daß sich Regierungen dieser Art, die oft genug zu unserem Nachteil beweisen, daß sie eine lange Sicht der Dinge haben, in ihrer Politik von einer Bundesregierung und einem Kanzler abhängig machen, der bei entscheidenden Abstimmungen um eine Stimme Mehrheit beben muß.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das Ziel der Verständigung und der Normalisierung der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn liegt doch im Interesse aller Bürger der Bundesrepublik Deutschland, ist ein Ziel von uns allen und muß zwischen allen Deutschen unbestreitbar bleiben. Das gleiche, Herr Bundeskanzler, gilt für eine Politik der Bemühungen um schrittweise menschliche Erleichterungen. Sie tun heute so, als sei das Ihre Erfindung. Es war ja zum Teil abenteuerlich, was wir hören mußten. Sie haben es als eine Leistung Ihrer Regierung dargestellt, daß die Menschen im anderen Teil Deutschlands unsere Fernsehprogramme sehen können. Herr Bundeskanzler, wir können dieses Thema, angefangen von technischen Umsetzern entlang der Zonengrenze bis zu vielen anderen Dingen, sehr detailliert diskutieren. Bloß, damit haben Sie in der Tat gar nichts zu tun, daß das öffentlich-rechtliche System Gott sei Dank in der Lage ist, sein Programm auch in wichtige Teile der DDR auszustrahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Konrad Adenauer hat doch demonstriert, daß es allen Demokraten in Deutschland darum geht, menschliche Erleichterungen zu erreichen. Er hat nicht nur davon gesprochen, sondern das auch in die Tat umgesetzt, wenn ich an die Heimführung von Tausenden deutscher Kriegsgefangener erinnern darf. Sie müssen darüber hinaus doch auch wissen, daß etwa der damalige Bundesminister Rainer Barzel einer der ersten war - das war im Frühjahr 1963 -, der die menschenmöglichen Wege, die damals möglichen Wege, aufzeigte und beschritt, um politische Häftlinge aus der DDR freizubekommen. Das ist doch nun wahrlich kein parteipolitisches Programm. Das ist ein Programm selbstverständlicher Menschlichkeit, und das sollten wir uns nicht einseitig als Verdienst anrechnen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe von den gemeinsamen Verpflichtungen und Bindungen gesprochen. Ich will aber auch jene Punkte deutlich machen, in denen offensichtlich Gemeinsamkeit nicht möglich ist, obwohl ich gerne zugebe, daß einige Ihrer Ausführungen heute durchaus befriedigend waren. Ich stelle fest, daß wir die völkerrechtliche Anerkennung der DDR ablehnen, daß die Frage der Staatsangehörigkeit kein Gegenstand von Verhandlungen mit der DDR sein kann. Herr Bundeskanzler, das, was Sie heute sagten, findet durchaus unsere Zustimmung. Sorgen Sie bitte nur dafür, daß in Zukunft nicht Mitglieder Ihres eigenen Kabinetts durch ungewöhnlich törichte Äußerungen in der deutschen Öffentlichkeit einen völlig anderen Eindruck erwecken.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die DDR ist rechtlich für die Bundesrepublik Deutschland nicht Ausland. Die innerdeutsche Grenze bleibt für uns eine staatsrechtliche Grenze besonderer Art. Wir werden jedes Abkommen und jeden Vertrag mit der DDR ablehnen, der diese Rechtsposition in Zweifel zieht.

Wir sind nicht bereit - das ist offensichtlich ein elementarer Dissens zwischen uns -, dem kommunistischen Regime in Ost-Berlin in seiner schwierigen Lage zur Hilfe zu eilen, eine Hilfe, Herr Bundeskanzler, die die - Sie zitieren ja gern internationale Zeitungen; ich darf das dann auch einmal tun - doch ganz gewiß unverdächtige „Neue Zürcher Zeitung" als Stabilitätshilfe der Bundesregierung bezeichnet hat. Wollen Sie wirklich glauben, daß diese Zeitung von Kalten Kriegern beherrscht wird? Das sind nüchterne Leute, die das Weltgeschehen beobachten. Und das ist der Eindruck, den Ihre Politik im Ausland macht. Dann ist es doch mehr als berechtigt, daß wir über diese Politik miteinander diskutieren. Dabei muß eben die sehr ernste Frage gestellt werden, ob es nicht gerade - ich verwende den Ausdruck - durch eine solche Stabilitätshilfe zu einer Allianz mit dem SED-Regime gegen unsere Mitbürger in der DDR kommt. Wir sollten diesen Punkt ohne Vorurteil und frei von Emotionen diskutieren.

Eine sachliche Analyse der Situation in der DDR und ihrer Entwicklungsperspektiven bleibt die Grundvoraussetzung für die Entscheidung darüber, welche Politik wir, die Bundesrepublik, gegenüber Ost-Berlin verfolgen wollen.

Meine Damen und Herren, wir erleben heute in der DDR einen dynamischen Entwicklungsprozeß. Er dokumentiert sich nicht nur in einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise, die das Regime zwingt, Großimporte westlicher Industrie- und Konsumgüter durchzuführen und die D-Mark als zweite Währung zu dulden. Die nervöse und hektische Reaktion der SED-Führung auf das Manifest einer mutmaßlichen Opposition, die Ausweisung zahlreicher Intellektueller, die Repressalien gegen die Bürgerrechtler von Riesa, um nur einige Beispiele zu nennen, zeugen doch von einem gesellschaftspolitischen Gärungsprozeß, dessen Wirkungen wir bisher nur ahnen können.

Es ist doch unübersehbar: Der Autoritätsverfall des SED-Regimes schreitet voran, und die Westorientierung vieler Bürger in der DDR und ihr ganz besonderer Bezug, ihre persönliche Beziehung zum freien Teil Deutschlands hat eben nicht nachgelassen, sondern ist, wie wir wissen, intensiver geworden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, die DDR-Gesellschaft ist keine statische Gesellschaft, sowenig wie die Gesellschaft der Bundesrepublik. Sie ist in Bewegung. Erstarrt ist lediglich die SED in ihren Herrschaftsstrukturen, in ihren Lenkungsmethoden. Für uns muß das doch Schlußfolgerungen haben. Das sind insbesondere Schlußfolgerungen, die dann auch Konsequenzen beinhalten. Wir müssen diesen Entwicklungsprozeß in der DDR sorgfältig beobachten und unser Verhalten darauf einstellen.

Ich frage mich: Wer tut das eigentlich? Eine ganz einfache Frage: Wer tut das heute in der Bundesregierung? Tut es Herr Franke in seinem Ministerium, dann sind seine Äußerungen dazu haarsträubend. Tut es jene Gruppe in Ihrem Kanzleramt, die die Studie über die Erbfeindschaft verfaßt hat, so braucht man darüber kein Wort zu verlieren.

Ich frage Sie ernsthaft: Wer tut das heute eigentlich bei Ihnen in der Bundesregierung, diesen unübersehbaren dynamischen Entwicklungsprozeß in der DDR sorgfältig zu beobachten, um darauf vernünftig reagieren zu können?

Wir müssen das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit wachhalten und fördern. Wir müssen unsere eigenen Positionen offenhalten.

Wer wie Sie jetzt, Herr Bundeskanzler - etwas anderes klang nicht aus Ihrer Rede -, zur Unterstützung des Status quo in der DDR bereit ist, wer sich als Krisenhelfer betätigt, wer die Stabilität des gegenwärtigen Regimes - das war doch Ihr Vorwurf an uns - über alles stellt, der betreibt wirklich eine reaktionäre Politik ohne jede Zukunftsperspektiven.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Entweder können Sie nicht - dann müßten wir die Gründe kennen - oder wollen Sie nicht den Wandel zur Kenntnis nehmen, der sich jetzt im anderen Teil Deutschlands vollzieht. Wer das Manifest - dieser Satz existiert doch - als Provokation bezeichnet, lebt an der Realität in Deutschland vorbei.

Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sind angetreten mit der Politik des „Wandels durch Annäherung". Heute vollzieht sich ein Wandlungsprozeß in der DDR. Aber Sie in der SPD sind hilflos, weil sich dieser Wandel in der DDR an den SED-Machthabern vorbei entwickelt. Sie sollten doch einmal darüber nachdenken, auf welche Seite der Entwicklung sich einige von Ihnen in ihren öffentlichen Äußerungen gestellt haben,

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

wenn sie in dieser Form das gegenwärtige Regime abstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Damit dies - das klang bei Ihnen an, Herr Bundeskanzler - nicht herumgedreht werden kann, muß auch das andere deutlich gesagt werden: Ich rede nicht einer leichtfertigen Einflußnahme auf die innere Entwicklung der DDR das Wort.

(Wehner [SPD]: Hört! Hört!)

Wir wissen sehr genau, Herr Wehner, wohin dort Entwicklungen führen können, welche Reaktionen bei den kommunistischen Machthabern in Ost-Berlin und - was viel wichtiger ist - in anderen Teilen der Welt möglich sind.

Aber so richtig dieser Satz ist, kann das doch nicht heißen, daß wir diese Entwicklung in der DDR nicht zur Kenntnis nehmen oder gar gegen sie arbeiten, indem wir das gegenwärtige Regime abstützen. Das ist doch eine völlig andere Frage.

Unsere Aufgabe muß es jetzt sein, über unsere politischen Ziele in der Deutschlandpolitik nicht nur zu sprechen, sondern geistig Einfluß zu nehmen und Zusammengehörigkeit überall dort zu dokumentieren, wo die Chance gegeben ist, daß die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands eines Tages in eine gemeinsame Entwicklung mündet. Deswegen müssen wir öffentlich laut und deutlich darüber sprechen, was die Einheit der Nation, die Freiheit und die Selbstbestimmung und die Menschenrechte ausmacht und daß die Machthaber der SED Tag für Tag gegen die persönlichen Freiheitsrechte und die politischen Grundrechte ihrer Bürger verstoßen, obwohl sie in der UNO-Charta, in der Menschenrechtsdeklaration von 1948, in den Menschenrechtspakten von 1966 und in einer großen Zahl anderer internationaler Vereinbarungen, nicht zuletzt in der KSZE-Schlußakte von Helsinki, niedergelegt sind und mit Brief und Siegel auch von der DDR-Führung unterfertigt wurden.

Gerade das aus der DDR kommende Manifest zur deutschen Frage hat aufs neue die Wechselwirkung der Diskussen zwischen beiden Teilen Deutschlands deutlich gemacht. Herr Bundeskanzler, ich stimme Ihnen zu: Wir haben in manchen Teilen der Bürgerschaft unserer Bundesrepublik einen Nachholbedarf an Beschäftigung mit der deutschen Frage. Aber auch diese Verbesserung ist nur möglich, wenn unsere Mitbürger erkennen, daß die politische Führung - und zwar in allen demokratischen Parteien - dies auch weiterhin für die zentrale Frage und den zentralen Auftrag deutscher Politik hält.

(Beifall bei der CDU/CSU. - Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Das muß einmal gesagt werden!)

Diese Diskussion beweist, wo sich das Lager der Reaktion befindet. Die geistige Bewegung, der wirtschaftliche Fortschritt, die Dynamik der kulturellen und der politischen Entwicklung gehen doch von der freien Welt aus, vom freien Europa und den demokratischen und pluralistisch verfaßten Gesellschaften. Die Reaktion, das System der Erstarrung, des bewegungslosen Bürokratismus, der repressiven und der direkten Gewalt finden wir im Ostblock, vor allem in der DDR.

Ich sage es noch einmal: Eingedenk unserer jüngsten Geschichte fordern wir keine leichtfertige oder unüberlegte Einflußnahme auf die innere Entwicklung der DDR. Niemand von uns hat die Geschehnisse, die Toten und die Verurteilten vom 17. Juni, von 1956 und von 1968 vergessen. Wir kennen die Grenzen unserer Möglichkeiten. Sie sind klar bestimmt.

Die Ziele der Freiheit und des Friedens stehen für uns in der besonderen Lage des geteilten Vaterlands vor dem Ziel der Einheit. Wir haben auf die Androhung und die Anwendung von Gewalt verzichtet. Dazu stehen wir.

Wer aber jetzt, wie Sie es tun, Herr Bundeskanzler, die Augen vor den Entwicklungen verschließt und wer jetzt wie Sie Positionen verfestigt, statt sie offenzuhalten, der betreibt nach meiner Überzeugung in der Tat eine Politik des Rückschritts. Sie sind dabei, einen historischen Fehler zu begehen. Wer jetzt - wie Sie - glaubt, das SED-Regime wie einen geschwächten Patienten behandeln zu müssen,

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Der Bundeskanzler liest Akten, statt zuzuhören!)

dem man Stärkungsmittel verabreicht und dessen Nerven geschont werden müssen, begeht einen verhängnisvollen Irrtum.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es muß doch klar und deutlich festgestellt werden: Nicht wegen uns in der Bundesrepublik, meine Damen und Herren, sondern wegen seiner eigenen Herrschaftsmethoden bleibt das SED-Regime in Angst, wie noch jeder Diktator in der Geschichte in seiner Politik von Angst als entscheidendem Antrieb bestimmt war. Das ist der Teufelskreis, aus dem nie ein Unterdrücker in der Weltgeschichte herausgekommen ist und aus dem man auch keinem Unterdrücker heraushelfen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Er muß Angst haben, weil er die Menschen unterdrückt, und er unterdrückt die Menschen, weil er Angst haben muß. Was nützt es, wenn die Machthaber in der DDR diese Angst ausgeredet bekommen sollen, wenn sie eine wirkliche Grundangst vor ihrer eigenen Bevölkerung haben müssen, vor dem Freiheitswillen, vor dem Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit, das den Menschen in der DDR niemals verlorengegangen ist, das gerade in der jungen Generation nicht verlorengegangen ist! Ich finde, das ist ein Dokument, das uns anregen soll, über unsere eigene Position in dieser Frage nachzudenken. Von dieser Grundangst kann und darf das SED-Regime nicht befreit werden. Denn das hieße ja, die Unfreiheit der Deutschen unter seiner Herrschaft zu besiegeln.

Lassen Sie mich unsere Meinung in fünf Punkten zusammenfassen.

Erstens. Im Kern der deutschen Frage geht es für uns um die politische Freiheit unseres ganzen Volkes. Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Pflicht gesamtdeutscher Verantwortung, von der sie sich nicht lösen kann. Jede durch freie Wahl legitimierte deutsche Regierung hat die Pflicht, vor den Völkern der Welt zu garantieren, daß es auch für einen zukünftigen gesamten deutschen Staat keinen anderen Weg als den der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie gibt.

(Schmäle [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Ich nehme an, Herr Kollege Wehner, daß das doch ein Punkt ist, auf den wir uns eigentlich einigen müßten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn das so ist, wenn wir aus dieser Bindung an Freiheit und Volkssouveränität die Einheit der Nation praktizieren wollen, dann besitzen wir eine wesentliche Sicherheit: Dieser Wille zur Nation ist eine Tatsache, die von keiner politischen Führung und von keiner Diktatur - auch nicht von einer kommunistischen - verbannt oder gelöscht werden kann. Dieser Wille zur Nation lebt in den Herzen der Menschen, in den Herzen der Menschen vieler Nationen auf dieser Erde, ganz gewiß auch in den Herzen in beiden Teilen Deutschlands.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Insofern wird und muß der Versuch der Führung der DDR scheitern, den Begriff der Nation mit dem des Klassenkampfes und dem des Sozialismus gleichzuschalten.

(Dr. Carstens [Fehmarn] [CDU/CSU]: So ist es!)

Die sogenannte sozialistische Nation der DDR ist ein Widerspruch in sich. Denn der Klassengedanke und der Nationalgedanke sind unvereinbar. Nur eines von beiden kann das Fundament politischer Ordnungsvorstellungen sein: entweder die Nation oder die Klasse.

Zweitens. Freiheit und Nation sind untrennbar. Dies ist keine neue Erkenntnis, aber es ist an der Zeit, sie wieder deutlicher und auch häufiger auszusprechen. Für uns ist die Forderung, die Sehnsucht nach der Einheit der Nation nicht irgendeine beliebige abstrakte Formel. Sie beschreibt für uns ein wichtiges Stück der Identität unseres Volkes, ein wichtiges Stück der Ortsbestimmung, des Wir-Bewußtseins unserer Mitbürger, sei es in der Bundesrepublik Deutschland, sei es in der DDR. Für unsere Mitbürger in der DDR, meine Damen und Herren, setzt die Forderung nach Einheit der Nation geradezu ein Fanal der Hoffnung. Diese Hoffnung entspringt aus der Erfahrung der deutschen und der europäischen Geschichte, in der die nationalstaatlichen Zielvorstellungen in engem Einklang mit der republikanischen und demokratischen Zielvorstellung standen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Kollege Wehner, das sind doch Sätze, die eigentlich auch von Ihrer Seite mit stürmischem Applaus begleitet werden müßten.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU. - Dr. Marx [CDU/CSU]: Einige von uns haben hier doch auch dem Kanzler durch Beifall zugestimmt!)

Das ist ja einer der Punkte, in denen auch mit Ihnen ein Gespräch möglich sein sollte.

Der Kollege Brandt ist jetzt leider nicht da. Ich will ihn persönlich ansprechen: Ich teile nicht seine Meinung, daß unser Verständnis von Nation auf den Begriff der Kulturnation beschränkt werden darf, wie er das hier im Bundestag vorgetragen hat. Unser Verständnis von Nation muß unauflöslich mit den Prinzipien der Freiheit und der Demokratie verbunden bleiben. Das ist doch die wichtigste Lehre unserer Geschichte.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Viele von uns haben in den letzten Jahren Gelegenheit gehabt, nicht nur hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland mit Rentnern, die zu uns kamen, sondern auch drüben - Herr Bundeskanzler, Sie sprachen aus gutem Grund von Weimar -, mit den Menschen zu sprechen, mit Leuten, die einen auf der Straße erkannten und ansprachen. Und ich kann nur über die Erfahrung berichten, daß in all diesen Gesprächen deutlich wurde, daß gerade die Menschen in der DDR den Zusammenhang von nationaler Freiheit und nationaler Identität ganz und gar begriffen haben - vielleicht mehr als mancher in der Bundesrepublik Deutschland, der in der Entwicklung und in der Bequemlichkeit unserer Wohlstandsgesellschaft über diese langfristigen Notwendigkeiten in der Geschichte unseres Volkes nur selten nachdenkt. Die älteren Bürger und die Kriegsgeneration hüben wie drüben, aber vor allem in der DDR, leben noch mit der geschichtlichen Erfahrung der nationalen und staatlichen Einheit.

Die Westorientierung, die Offenheit der Nachkriegsgeneration - gerade der ganz jungen -, die einem auf Schritt und Tritt in der DDR begegnet, ist doch ein Signal in diese Richtung. Und in dem Manifest - ich zitiere es erneut - wird doch nachdrücklich darauf hingewiesen, daß bis in die Kreise der Führungskader der SED solche Orientierungspunkte im Denken und Handeln bestehen. Lassen Sie mich einmal zynisch sagen: Wenn gelegentlich behauptet wird - ich kann das nicht beurteilen -, daß Teile dieses Manifests vom Staatssicherheitsdienst angereichert seien, dann ist auch das des Nachdenkens wert. Denn das würde doch bedeuten, daß die Sicherheitsorgane der DDR glauben, daß dies ein Thema ist, das die Menschen bewegt. Das ist doch ein zusätzlicher Beweis für die These, die ich hier vertreten habe.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, Sie haben in diesem Zusammenhang von dem Willen der Nation im politischen Alltag und insbesondere in der Auseinandersetzung mit der DDR gesprochen. Ich stimme Ihnen zu. Lassen Sie mich ein konkretes Angebot machen, damit diese Aussprache über die Lage der Nation nicht nur irgendeine Debatte unter vielen Debatten im Bundestag ist! Ich stimme Ihnen zu: Es ist besorgniserregend - ich sage es härter: beschämend -, wie weit die Kenntnisse über die tatsächlichen Verhältnisse, aber auch über die geschichtlichen Gegebenheiten im anderen Teil Deutschlands bei uns gediehen sind. Sie sprachen auch Universitäten und Schulen an. Sie haben oft Besprechungen mit den Ministerpräsidenten der Länder. Regen Sie doch in diesen Gesprächen einmal an - früher haben wir ja Vereinbarungen über Französischunterricht in deutschen Schulen und über andere wichtige pädagogische Fragen getroffen -, daß der Geschichtsunterricht in unseren Schulen unter dem besonderen Gesichtspunkt des einen Deutschland, der Identität der deutschen Nation, verstärkt wird!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, lassen Sie mich als Parteivorsitzender in einer Art Geschäftsführung ohne Auftrag sagen: Sie dürfen sicher sein, daß meine früheren Amtskollegen, die Ministerpräsidenten der CDU/CSU-geführten Länder, Ihnen sofort ohne jede weitere Aussprache zustimmen werden. Dazu gehört beispielsweise, daß wir auf dem Schulbuchmarkt der Bundesrepublik Deutschland endlich wieder Schulbücher haben, die diese geschichtlichen Gegebenheiten berücksichtigen und nicht verfälschend darstellen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. - Dr. Marx [CDU/CSU]: Und nicht Geschichtsfälschung betreiben!)

Aber dann müßte natürlich auch der stellvertretende SPD-Vorsitzende Helmut Schmidt die hessischen Rahmenrichtlinien und die inzwischen in der Schublade verschwundenen Rahmenrichtlinien von Nordrhein-Westfalen kassieren.

(Lachen bei der SPD. - Dr. Marx [CDU/CSU]: Darüber lachen die schon selber!)

Meine Damen und Herren, wollen Sie da wirklich lachen, wo Sie doch jetzt bei der Abstimmung über die Koop-Schule erlebt haben, was die Bürger über Ihre Schulpolitik wirklich denken!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich stimme Ihnen zu, Herr Bundeskanzler, wir müssen den Willen haben, die deutsche Nation zu repräsentieren, und zwar deutlich, nachdrücklich und unmißverständlich.

(Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Das sieht man an der Präsenz der SPD heute!)

Aber ich spüre es nicht an der Politik Ihrer Regierung. Willy Brandt hat einmal gesagt, Nation sei, wenn man sich wiedersehe. Ich halte diesen Satz nicht für falsch. Aber er ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Die Einheit der deutschen Nation darf nicht eine Sache der Privatinitiative werden. Gewiß gehört auch privates Engagement der Bürger dazu, aber für sich allein ist das viel zu wenig. Sie muß sich als Wille aller in staatlicher Willensbildung und in staatlichem Handeln darstellen.

Drittens. Die Einforderung der Menschenrechte bleibt unverzichtbar. In Ihrer Tour d'horizon waren Sie in diesem Punkt bemerkenswert zurückhaltend. Ich will das aber nicht anrechnen; denn wir werden dazu ja eine Debatte haben. Ich hoffe, daß die Bundesregierung in dieser Debatte dann befriedigend Auskunft gibt.

Im geteilten Deutschland befindet sich die Wertordnung unserer Politik mehr als anderswo auf dem Prüfstand. Deswegen kommt unserem klaren Eintreten für die Menschenrechte eine solche signalhafte Bedeutung zu. Wer soll eigentlich für Menschenrechte in Ost und West überzeugter eintreten als die Deutschen in einem geteilten Land, in einem Land, das, wie Sie es richtig formuliert haben, die Heimsuchungen des Alltags an der Absperrung, an Mauer und Stacheldraht mitten in Deutschland, erfahren muß!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Bei der Forderung nach Menschenrechten geht es doch nicht um irgendein Privileg des Westens. Es geht um die Proklamation und die Einhaltung menschlichen Grundverständnisses, das überall seine Gültigkeit hat.

Deshalb, meine Damen und Herren, ist die Solidarität bei der Einforderung von Menschenrechten keine Einmischung in die Politik anderer Staaten.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Die Forderung nach Freiheit kann nicht an Grenzen haltmachen, wo immer die Grenzen liegen mögen. Ob die Diktaturen faschistischer oder kommunistischer Art sind - Diktatur bleibt Diktatur!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Viertens. Herr Bundeskanzler, auf Ihre Rede muß hier noch folgendes gesagt werden. Gegenüber einer DDR-Regierung, die ihre Absichten so offensiv vertritt, ist jeder prinzipiell und grundsätzlich unterlegen, der diskret verschweigt, beschönigt, herunterspielt. Wer Grundsätzliches regeln will, muß Klarheit im Grundsätzlichen vermitteln. Sonst wird Entspannung zur Einbahnstraße, und das ist die fatale Folge Ihrer Politik. Denn damit wird sie für die politische Führung der DDR unkalkulierbar. Die Konzeptionslosigkeit der Regierung zwingt es den Machthabern der DDR ja geradezu auf, Positionsverbesserung auf Positionsverbesserung zu suchen, Nadelstiche und Provokationen auf ihre Wirksamkeit zu testen, die Grenzen der Belastbarkeit in den Beziehungen fortdauernd auszuprobieren. Wie wichtig ein klares und offensiv vertretenes Konzept bei Verhandlungen mit kommunistischen Regierungen ist, hat doch seinerzeit die Diskussion um die Polen-Vereinbarungen ergeben.

Fünftens. Herr Bundeskanzler, auch dies muß noch einmal gesagt werden; denn es fehlte in Ihren Ausführungen: Die Leistungen müssen gegenseitig ausgewogen sein. Verständigung gründet auf der Verläßlichkeit des gegebenen Wortes und auf dem Gleichgewicht der gegenseitigen Leistungen. Ein Partner, der in der Lage ist, seine Interessen einseitig durchzusetzen, wird nur noch in geringem Maße einsehen, daß Rücksichtnahme sinnvoll ist.

Wenn wir das Prinzip der Ausgewogenheit der Leistungen vertreten, dann nicht nur im Rückblick auf die Verträge, sondern auch und gerade im Blick auf zukünftige Verhandlungen und Vereinbarungen: Bei den innerdeutschen Verhandlungen, in der Berlin-Frage, bei der KSZE und in den MBFR-Verhandlungen: überall dort mehren sich die Anzeichen dafür, daß Fehler der vergangenen Jahre wiederholt werden und daß der Blick auf das Mögliche getrübt ist.

Sie haben uns in diesem Zusammenhang attackiert und hier die Diskussion über den Swing eingeführt. Sie haben Ihr Angebot aus einer der letzten Debatten im Januar zu einem Gespräch über die Möglichkeiten von Gegenmaßnahmen wiederholt. Herr Bundeskanzler, es ist nicht unsere Sache, zu einem solchen Gespräch einzuladen. Sie verschieben hier ganz und gar die Verantwortlichkeit. Sie reden dauernd vom Swing, ohne dem Zuhörer zu sagen, daß die Inhalte, wenn Sie die Zeit vor 15 Jahren mit der Zeit von heute vergleichen, elementar anders sind.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Im übrigen - ich sage dies noch einmal -, auch wenn Sie das als taktischen Vorteil empfinden und diese Bemerkung fortdauernd öffentlich wiederholen: Ich glaube nicht, meine Damen und Herren -

(Nordlohne [CDU/CSU]: Der Kanzler hört ja gar nicht zu! - Graf Stauffenberg [CDU/CSU]: Er liest gelangweilt Zeitung!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einen Anspruch darauf, daß der Bundeskanzler bei dieser Debatte persönlich anwesend ist. Auf mehr haben wir keinen Anspruch; alles andere liegt bei ihm und der Art seiner Vorstellung.

(Wehner [SPD]: Was soll denn das? Das ist kein Stil!)

Herr Kollege Wehner, ich reagiere genauso, wie der Bundeskanzler mit Sicherheit reagieren würde, wenn ich hier während seiner Ausführungen in einer so demonstrativen Weise auf meinem Platz säße!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. Zuruf von der CDU/CSU: Er liest immer weiter! - Anhaltendes Händeklatschen bei der CDU/CSU. - Nordlohne [CDU/CSU]: Das ist eine Desavouierung des Parlaments! Seiters [CDU/CSU]: Eine bewußte Provokation!)

Herr Kollege Wehner, ich habe eben so deutlich geantwortet, weil ich sehr wohl das würdige - lassen Sie mich diesen Einschub hier machen -, was vor kurzem der Herr Bundestagspräsident zu Beginn einer Debatte über den Stil unseres Hauses sagte,

(Mattick [SPD]: Das müssen gerade Sie sagen!)

Herr Kollege, warten Sie doch erst einmal den Satz ab; sind Sie denn gar nicht mehr fähig zuzuhören? -

(Beifall bei der CDU/CSU.)

und weil ich auch mich selbst, meine Formulierungen und mein Verhalten sehr wohl daraufhin prüfe, ob ich diesem Anspruch gerecht werde.

(Zurufe von der SPD.)

Da ich nicht selbstgerecht bin, Herr Kollege Wehner, weiß ich, daß ich diesem Anspruch durchaus in einigen Fällen - wie auch andere in meiner eigenen Fraktion - nicht gerecht geworden bin. Aber gerade dann, wenn ich dies so anspreche - und Sie wissen, warum ich dies gerade heute anspreche -, lege ich Wert darauf, daß andere sich ähnlich zu verhalten versuchen. Das ist es, worauf ich Wert legen muß!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, Deutschlandpolitik ist - ich sage es noch einmal - nicht irgendeine Politik. Deutschlandpolitik geht an den Nerv, berührt die geschichtliche Überlieferung unseres Volkes. Deutschlandpolitik verlangt Geduld, Stehvermögen, Mut

- Tugenden, die historische Epochen prägten. Unsere polnischen Nachbarn haben in einer großen Geschichte auch uns gelehrt, welches Durchhaltevermögen möglich und notwendig ist, um das Ziel der nationalen Einheit wieder zu erreichen. Deswegen möchte ich ganz bewußt mit einem Appell an uns alle schließen: Lassen wir die Frage nach dem gemeinsamen Schicksal unseres Volkes nicht zum bloßen Waffenarsenal parteipolitischer Auseinandersetzungen werden.

(Hört! Hört! bei der SPD. - Zuruf des Abg. Mattick [SPD].)

- Können Sie nicht mehr ertragen, daß man in einem solchen Ton über ein solches Thema miteinander spricht?

(Zurufe von der SPD.)

Erfolge für die Menschen in ganz Deutschland müssen uns alle, alle demokratischen, politischen Parteien, mit Befriedigung erfüllen. Mißerfolge müssen uns alle betroffen machen. Wir stehen gerade auch als Opposition in der Lage des geteilten Vaterlandes doch nicht mit Schadenfreude am Wegesrand, wenn die Dinge nicht gedeihen. Wir wollen mit unserer Kritik, mit unserem Beitrag, mit unseren bohrenden Fragen und mit unserem Nachstoßen unsere Perspektive, unseren Beitrag zur Erfüllung des gemeinsamen Grundgesetzauftrages leisten. Wenn wir nicht über die Appelle an die Gemeinsamkeit hinaus auch zur Gemeinsamkeit in der politischen Tat kommen, dann werden sich - diese Gefahr besteht - unsere Mitbürger die Antwort auf die Frage nach der deutschen Nation vielleicht irgendwann bei anderen holen, möglicherweise bei solchen, für die die Freiheit nicht die Voraussetzung der einen Nation ist.

(Jäger [Wangen][CDU/CSU]: Sehr gut! - Liedtke [SPD]: Sie unterschätzen Ihre Mitbürger!)

Wir haben uns mit unserer Politik, ob in Regierung oder Opposition, die auf einen langen Atem angelegt ist und die angesichts des weltpolitischen Hintergrundes möglicherweise auf Generationen angelegt sein muß, dem Urteil schon der nächsten Generation zu stellen. Wer nüchtern sieht und darüber nachdenkt, der weiß: Es bleibt noch viel zu tun, für uns alle viel zu tun, wenn wir uns mit gutem Gewissen dem Urteil der kommenden Generation stellen wollen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Quelle: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 317-337.