9. Mai 1984

Rede auf dem 32. CDU-Parteitag in Stuttgart

 

Herr Parteitagspräsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Meine lieben Freunde!

„Deutschland als moderne und humane Industrienation": Das ist das Thema und das ist die Zielsetzung unserer Politik, die wir auf diesem 32. Bundesparteitag in Stuttgart erarbeiten wollen.

Die Bilanz dieses ersten Jahres dieser Legislaturperiode kann sich sehen lassen. Nach einer schwierigen Zeit der Stagnation und Rezession befindet sich die deutsche Wirtschaft wieder eindeutig auf Wachstumskurs. Wir haben nicht nur vom Aufschwung geredet, der Aufschwung ist da.

Meine Damen und Herren, ein Blick zurück zeigt, daß dies nicht von allein gekommen ist. Wir haben dafür hart gearbeitet. In ein paar Sätzen will ich doch daran erinnern, wie es war, damals, im Oktober 1982.

Innerhalb von zwei Jahren war die Zahl der Arbeitnehmer ohne Beschäftigung um über eine Million gestiegen. Die Zahl der Arbeitsplätze hatte um 800.000 abgenommen. Statt Wirtschaftswachstum gab es bereits im zweiten Jahr eine Schrumpfung des erarbeiteten Sozialprodukts. Die Preisstabilität war verlorengegangen. Und am bedrückendsten war: Es gab kaum eine Aussicht auf eine Umkehr dieser verhängnisvollen Entwicklung. Das war in der Tat die Erblast, die wir übernommen haben. Liebe Freunde, wir sollten das ein Jahr danach nicht vergessen. Wir sollten es auch vor allem deswegen nicht vergessen, weil die Unverfrorenheit, mit der führende deutsche Sozialdemokraten über diese Zeit sprechen, nur noch von Frechheit zu überbieten ist.

Wir wollen uns nicht lange bei dem Thema „Gestern" aufhalten. Aber es mutet einem schon seltsam an, wenn man in Wochenzeitungen etwa die Ratschläge kluger Leute liest, die ich gern in vielen Punkten beherzige, zu denen ich nur die einzige Frage habe, liebe Freunde: Warum hat der Mann das alles nicht getan, als er auf dem Stuhl saß, auf dem jetzt ich sitze?

Heute hat sich das Bild gewandelt. Die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft hat eine unübersehbare Trendwende herbeigeführt. Aus Schrumpfung ist wieder reales Wirtschaftswachstum geworden. Die Investitionen haben deutlich zugenommen. Alle Prognosen signalisieren die Fortsetzung des Aufschwungs. Die Pleitewelle ist gebrochen. Die Zahl der Unternehmensgründungen wächst. Nach Jahren schleichender Geldentwertung durch hohe Inflationsraten haben wir wieder stabile Preise.

Liebe Freunde, dieser Stabilitätsgewinn hat den Bürgern im Jahre 1983 eine Kaufkraft in Höhe von 20 Milliarden DM gesichert. Das ist ganz konkrete Sozialpolitik. Diese Summe hat mehr zur Ankurbelung der Wirtschaft beigetragen als jedes denkbare sozialistische Sonderausgabenprogramm.

Politik für stabile Preise ist immer das sicherste Fundament erfolgreicher Wirtschaftspolitik.

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Rückgang der Beschäftigung sind zum Stillstand gekommen. Wir sind noch lange nicht über den Berg - um es deutlich zu sagen -, aber diese Entwicklung ist ermutigend, vor allem wenn man auch bedenkt, daß nach allen Erfahrungen bei jedem Konjunkturaufschwung der Arbeitsmarkt erst mit Verzögerung auf die verbesserte Wirtschaftslage reagiert hat. Die Kapazitäten unserer Industrie sind wieder spürbar besser ausgelastet. Eine halbe Million ehemaliger Kurzarbeiter bezieht inzwischen wieder vollen Lohn. Es werden mehr Stellen angeboten. Mit einem Wort: Der Arbeitsmarkt ist in Bewegung geraten.

Besonders erfreulich, liebe Freunde, ist der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit um rund 14 Prozent. Unser Engagement für mehr Lehrstellen war ein voller Erfolg.

Um das törichte Gerede von der Lehrstellenlüge ist es still geworden. Wenn all jene, die damals junge Leute aufgehetzt haben, sich selbst um Lehrstellen bemüht hätten, wäre die Zahl der Lehrstellen noch viel größer geworden.

Die Zunahme des Angebots um 50.000 auf die Rekordhöhe von über 700.000 Ausbildungsplätze hat alle Erwartungen übertroffen. Das ist ein großartiges Beispiel patriotischer Gesinnung. Ohne den Knüppel des Staates, ohne Gesetze, ohne Verordnungen, ohne Druck, aus der Überzeugungskraft der Idee der Solidarität der Generationen haben zigtausende Handwerker, Unternehmer, Betriebsräte, Einzelhändler, Leute aus den freien Berufen - um nur ganz wenige zu nennen - ihren Beitrag geleistet. Wir sollten dafür dankbar sein und sie bitten, in den kritischen Jahren 1984 und 1985 noch einmal zu einer solchen Tat bereit zu sein.

Insgesamt zwei Millionen junge Leute erhalten gegenwärtig eine qualifizierte Ausbildung in den Betrieben der Bundesrepublik Deutschland. Unter ihnen sind die Meister von morgen. Auf diese Leistung unseres dualen Systems der Berufsausbildung können wir stolz sein. Das gibt es nirgendwo auf der Welt, auch nicht in Japan, auch nicht in den USA.

Bevor wir die Regierungsverantwortung übernahmen, hatten viele - vor allem ältere Mitbürger - Angst um die soziale Sicherheit. Heute erinnert sich kaum mehr einer an diese Zeit. Unsere sozialen Sicherungssysteme - Renten, Krankenkassen, Arbeitslosenversicherung, Sozialleistungen - sind wieder tragfähig und zuverlässig. Wir leben nicht mehr über unsere Verhältnisse, und wir werden nicht zulassen, daß derart liederliche Verhältnisse wieder einkehren.

Liebe Freunde, der Kehraus war sehr schwierig. Wir mußten unseren Mitbürgern und uns selbst Opfer zumuten. Wir haben dies getan; wir haben vor einer Wahl darüber gesprochen. Viele, die gerade in diesen Tagen aus ganz anderen Gründen die demokratische Gesinnung bemühen, sollten einmal die Frage beantworten, wer je vor uns vor einer Bundestagswahl ohne Wenn und Aber mit dem Bürger über die notwendigen Opfer gesprochen hat und nach meiner festen Überzeugung deswegen die Wahl gewonnen hat.

Unsere Bürger waren zu diesen Opfern bereit. Mehr als 30 Milliarden DM mußten eingespart werden. Mehr als 30 Millionen Menschen sind von der Kürzung der Sozialleistungen betroffen. Das ist uns nicht leichtgefallen. Es war aber im wohlverstandenen Interesse des Ganzen notwendig. Wir haben dies tun müssen, um die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates sicherzustellen. Die Anhänger der reinen Lehre sagen uns: Ihr hättet noch ganz anders zuschlagen müssen oder - um dieses schreckliche Wort zu gebrauchen - noch viel tiefer in das Fleisch schneiden müssen. Ich habe kürzlich auf einer Tagung von Unternehmern gesagt: Wer etwa darüber spricht, was man bei den Beamten noch alles hätte tun können, sollte an einem Montag früh einfach einmal daheim bleiben und warten, bis sein Briefträger kommt. Er sollte mit diesem Beamten der Besoldungsgruppe A4 einmal darüber sprechen, wie dessen persönliche Opfer aussehen.

Wir haben die Solidarität des Ganzen herausgefordert, wir haben sie erhalten, aber wir wissen: Das war nicht einfach. Der Abschied von leichtfertigen Zusagen früherer Jahre war unumgänglich, wenn das soziale System als Ganzes gerettet werden sollte. Als wir anfingen, liebe Freunde, waren die Staatsfinanzen zerrüttet. Wir haben sie noch nicht ganz in Ordnung gebracht, aber wir sind, wie jeder weiß, auf einem guten Weg. Mit dem Geld des Bürgers wird wieder solide gewirtschaftet. Daß wir auf einem guten Weg sind, können Sie psychologisch am leichtesten daran erkennen, daß schon wieder sehr viele den Kopf plötzlich hochhalten und sagen: Wir sind ja eigentlich aus dem Dreck schon heraus. Jetzt können wir uns wieder dieses oder jenes leisten und wieder mehr ausgeben. - Wir sind noch nicht am Ende des Weges der Konsolidierung angelangt.

Liebe Freunde, damit dies ganz klar ist: Eine Regierung, die meinen Namen trägt, wird nicht von unserem Kurs abweichen. Wir bleiben bei der vom Wähler als richtig approbierten Linie unserer Politik.

Diejenigen, die mit dem Wort vom Kaputtsparen durch das Land zogen, sehen heute, daß diese konsequente Politik der Gesundung der Staatsfinanzen den wirtschaftlichen Aufschwung überhaupt erst ermöglicht hat, daß dadurch Verbraucher, Unternehmer - alle - wieder Vertrauen gewonnen haben. Wir haben vor allem mit einem Schluß gemacht - wir sollten das draußen viel deutlicher sagen -, nämlich damit, unsere heutigen Probleme zu Lasten der Generationen unserer Kinder und Enkel zu lösen. Dies war eine zutiefst unmoralische Politik.

Diese Bilanz, die ich Ihnen hier in wenigen Zügen vorlege, ist heute im In- und Ausland ganz und gar unbestritten. Dennoch sage ich an unsere eigene Adresse ganz nachdenklich: Liebe Freunde, trotz dieser guten Ergebnisse und der Tatsache, daß wir auf einem guten Weg sind, sind wir noch nicht über den Berg. Fehlentwicklungen vieler Jahre - etwa auf dem Arbeitsmarkt - lassen sich nicht über Nacht korrigieren. Die unübersehbare Wirtschaftswanderung vom Norden in den Süden unseres Vaterlandes mit einer zunehmenden Strukturschwäche etwa an Rhein und Ruhr, in den Küstenländern, in den Hansestädten ist nicht über Nacht gekommen und kann nicht über Nacht abgebaut werden. Sie muß aber abgebaut werden, wenn wir gemeinsam bundesstaatliche Gesinnung üben wollen.

Dies scheint mir besonders wichtig: Wir sehen die Statistiken, wir sehen die Zahlenwerke. Wir sind die Christlich Demokratische Union. Wenn wir von den Arbeitslosen in Bremen, Dortmund, Duisburg oder Neunkirchen lesen und hören, so ist das für uns nicht eine anonyme Anzahl von Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Jeder von ihnen hat sein menschliches Gesicht, seine sehr persönliche Erfahrung, seine Familie und sein Schicksal. Deswegen müssen wir alles tun, um diese Heimsuchung Nummer 1 unseres Landes, die Arbeitslosigkeit, zu stoppen und abzubauen, damit möglichst viele die Chance bekommen, ein sinnerfülltes Leben zu führen.

Eine nachhaltige Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt verlangt Verantwortungsbewußtsein und Augenmaß. Das gilt auch für die Tarifpartner. Ich brauche zu dem in diesen Tagen vieldiskutierten Thema hier nichts hinzuzufügen. Ich habe so oft dazu gesprochen, daß jeder meine Meinung kennt. Ich will nur dies sagen: Wir müssen die Weichen so stellen, daß der konjunkturelle Aufschwung in einen langanhaltenden Wachstumsprozeß übergehen kann. Die Erhaltung unserer Wettbewerbsfähigkeit als Exportnation ist die elementare Voraussetzung für alles. Ein Land, das rund ein Drittel seiner Güter in den Export gibt, kann nur existieren, wenn es preiswerte und qualitativ hochwertige Produkte anbietet. Alles andere führt in die Irre.

Nur mit neuen Ideen, mit neuen Produkten, mit neuen Erfahrungen auf den Märkten und mit ganz neuen Erfindungen können wir unsere Zukunft finanzieren.

Darüber werden wir morgen sicher streitig diskutieren. Und das, was morgen zu diskutieren ist, ist eine Zwischenstation. Die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes bleibt nicht stehen; die Herausforderung der Sozialen Marktwirtschaft bleibt. Vieles von dem, was ich als Schüler und Student von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, um die Großen der Sozialen Marktwirtschaft zu nennen, gelernt und erfahren habe, ist heute prinzipiell noch genauso richtig, aber die Antwort muß in dem oder jenem Punkte anders gegeben werden als noch in jenen Tagen.

Ich fasse die Politik dieses Teils kurz zusammen: Wir wollen mehr Raum für Eigeninitiative, mehr Raum für persönliche Verantwortung. Auf Grundlagen und Rahmenbedingungen staatlichen Handelns müssen sich die Bürger und vor allem jene, die in der Wirtschaft Verantwortung tragen, dauerhaft verlassen können. Politik muß wieder ein verläßlicher Partner werden. Wir müssen damit aufhören, daß die Novellierung von Gesetzen in dem Moment beginnt, in dem die alten Gesetze gerade in der Druckerschwärze trocken geworden sind. Dies ist kein Zustand, der beim Bürger Vertrauen schafft.

Wir wollen einen Staat, der handlungsfähig ist. Deswegen brauchen wir den demokratischen Rechtsstaat, der Autorität hat und in Anspruch nimmt. Deswegen müssen wir an einer Politik der Gesundung der Staatsfinanzen festhalten. Wir wollen soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit. Dies ist die Voraussetzung für den inneren Frieden unseres Landes. Wir wollen und müssen den notwendigen Strukturwandel anregen. Ich habe hier an die Landschaft an der Ruhr erinnert, und ich kann hier noch an viele andere Gegenden unseres Landes erinnern. Dazu gehören aber freier Wettbewerb und - ganz wichtig für uns - freier Welthandel und Kampf dem Protektionismus auf allen Märkten der Welt. Mit den Stuttgarter Leitsätzen zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft geben wir unsere Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit für eine moderne und humane Industrienation.

Liebe Freunde, die von mir geführte Regierung hat im vergangenen Jahr eine schwierige außen- und sicherheitspolitische Debatte bestehen müssen. Es ging darum, ein gegebenes Wort der Vernunft einzulösen, das mein Vorgänger für die Bundesrepublik Deutschland - auch mit unserer Unterstützung - im Atlantischen Bündnis gemeinsam mit allen anderen Mitgliedern verabredet hatte.

Wir haben uns die Entscheidung über die Stationierung nicht leicht gemacht. In engsten Konsultationen mit unseren amerikanischen Freunden und mit unseren europäischen Partnern haben wir alles, was für uns möglich war, alle unsere Kraft eingesetzt, um in Genf zu einem Verhandlungsergebnis zu kommen. Dieses Ziel hatte für uns Vorrang. Wir wollen nicht noch mehr Nuklearwaffen in Europa: weder sowjetische noch amerikanische. Wir wollen Frieden schaffen mit immer weniger Waffen. Das bleibt das Ziel unserer Politik!

Der NATO-Doppelbeschluß wird jetzt aber durchgeführt. Solange Moskau nicht bereit ist, an den Verhandlungstisch zurückzukehren und ein Verhandlungsergebnis auszuhandeln, bleibt diese Politik.

Meine Damen und Herren, wenn die sowjetische Führung ständig von gleicher Sicherheit spricht, dann muß sie wissen, daß nicht sie, die sowjetische Führung, darüber bestimmen kann, was unseren, den deutschen, Sicherheitsinteressen entspricht. Es darf und wird auch in Zukunft für uns in Europa keine Zone minderer Sicherheit geben.

Unsere Freiheit, unsere Sicherheit ist bedroht, unsere internationale Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel, wenn wir uns von militärischen und politischen Drohungen unseres mächtigen Nachbarn im Osten erpressen lassen. Liebe Freunde, wem könnten wir denn noch in Europa und weltweit ein glaubwürdiger Partner sein, wenn wir nicht einmal unsere eigenen Interessen durchsetzen, weil wir dem Druck der Straße oder Drohungen unserer Gegner nachzugeben bereit sind?

Wir werden unsere Verteidigungsanstrengungen aufrechterhalten, ja verstärken, solange Moskau nicht bereit ist, seine Aufrüstung einzustellen und konkrete Schritte zur Abrüstung und Rüstungskontrolle zu vereinbaren. Darin sind wir mit allen unseren Partnern einig.

Das Bündnis ist aus dieser Debatte gestärkt hervorgegangen, weil es gerade zwischen uns, den amerikanischen und kanadischen Freunden und den europäischen Partnern, eine beispielhafte, eine verläßliche Form von gegenseitiger Konsultation gegeben hat. Das sollte jede amerikanische Regierung auch in Zukunft sehr ermutigen, auf diesem Weg fortzufahren, mit den Europäern so frühzeitig und so intensiv wie nur möglich Kontakt aufzunehmen. Dies nutzt uns allen: den Europäern und den Vereinigten Staaten von Amerika. Dann wird die Sowjetunion auch in Zukunft keine Chance haben, die europäische Sicherheit von der amerikanischen abzukoppeln und das Bündnis zu spalten.

Ich will auch von dieser Stelle ein Wort an die sowjetische Führung sagen - ich habe dies im Juni des vergangenen Jahres Generalsekretär Andropow und jetzt vor einigen Monaten Generalsekretär Tschernenko gesagt -: Wir, die Bundesrepublik Deutschland, werden keine Politik verfolgen, die einzelne Mitglieder des Warschauer Paktes gegeneinander ausspielt. Wir verlangen aber auch, daß die Sowjetunion endlich begreift, daß es sinnlos ist, die Europäer gegen die Amerikaner auszuspielen. Wir Europäer wissen selbst, welche Interessen wir im Bündnis vertreten. Wir können uns durchaus auch gegen amerikanische Freunde durchsetzen, wenn dies nötig ist.

Liebe Freunde, die Erfolge der Vergangenheit gaben uns Recht. Es ist uns nicht nur gelungen, unsere amerikanischen Freunde zu überzeugen, weiterführende Vorschläge bei den Genfer Verhandlungen einzubringen. Wir haben gemeinsam auch die KSZE-Folgekonferenz in Madrid zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht und damit die Voraussetzung geschaffen, daß im Januar dieses Jahres die Konferenz für Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen in Stockholm ihre Arbeit aufnehmen konnte. Die Vorschläge, die der Westen dort eingebracht hat, sind von uns maßgeblich mitbestimmt worden.

Wir brauchen also keine Belehrungen darüber, wie wir unser Verhältnis zu unserem wichtigsten Freund und Partner zu gestalten haben. Zwischen den beiden Regierungen in Washington und Bonn besteht heute wieder ein tiefes Vertrauensverhältnis. Ich werde alles tun, daß dies so bleibt. Ich bin glücklich, daß ich genau das gleiche für das Vertrauensverhältnis zwischen Paris und Bonn sagen kann.

Mit dem Signal des NATO-Rats von Brüssel vom Dezember letzten Jahres hat das Atlantische Bündnis deutlich gemacht, daß Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa auf Dauer nur über Verhandlungen gewährleistet werden können. Wir haben es nicht bei Worten belassen. In Stockholm haben wir konkrete Vorschläge eingebracht. Vor wenigen Wochen hat der Westen in Wien zum Truppenabbau in Mitteleuropa Vorschläge unterbreitet.

Liebe Freunde, wir haben stets betont - ich wiederhole es -, daß wir bereit sind, die Verhandlungen über die nuklearen Systeme aller Art wann und wo auch immer fortzusetzen. Die Vorschläge des Westens liegen auf dem Tisch. Die amerikanische Regierung hat mit unserer nachdrücklichen Unterstützung in Genf einen Vertrag über ein weltweites Verbot chemischer Waffen vorgelegt. Damit hat das Bündnis unter der Führung des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan die weitestgehenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollvorschläge der Geschichte auf allen Ebenen erarbeitet und der Sowjetunion angeboten. Wir sind der Sowjetunion entgegengekommen. Es liegt jetzt an der sowjetischen Führung, die ausgestreckte Hand zu ergreifen.

Liebe Freunde, wir haben auch einseitig abgerüstet: 2400 Nuklearwaffen sind aus Europa - nicht zuletzt aus der Bundesrepublik - abgezogen worden, ohne daß Moskau bis zum heutigen Tage positiv darauf reagiert hätte. Wenn die sowjetische Führung dennoch ständig von angeblichen Kriegsvorbereitungen der NATO spricht und an 1941 als Schreckensjahr erinnert, so mag das der Rechtfertigung ihrer eigenen massiven Aufrüstung gegenüber ihren Bürgern und Bündnispartnern dienen, mit der Wirklichkeit Europas unserer Tage hat dies in Tat und Wahrheit nichts zu tun. Die sowjetische Führung muß wissen, daß sie ihre eigene Glaubwürdigkeit untergräbt, wenn sie gegenüber den Europäern und Amerikanern ihre Bereitschaft zum Dialog und zur Abrüstung erklärt, während sie gleichzeitig weiter aufrüstet.

Meine Damen und Herren, die sowjetische Erklärung, zum Dialog bereit zu sein, steht ja auch in einem klaren Widerspruch zu der jüngsten Entscheidung, die Olympischen Sommerspiele in Amerika zu boykottieren. Wer zum Dialog Ja sagt, muß auch zu den sportlichen Spielen der Jugend der Welt Ja sagen. Wir bedauern zutiefst diese Entscheidung!

Ich habe in meinen beiden Regierungserklärungen - nach meiner Wahl zum Kanzler und nach meiner Wiederwahl zum Kanzler nach der Bundestagswahl am 6. März - unterstrichen, daß wir auf der Grundlage der bestehenden Verträge und Abkommen die Beziehungen auf breiter Ebene mit der Sowjetunion als unserem wichtigsten Nachbarn im Osten und mit den anderen Warschauer-Pakt-Staaten entwickeln wollen. Wir wollen zuverlässige, berechenbare, stetige Beziehungen zur sowjetischen Führung. Ich selbst habe in diesem Sinne mit Generalsekretär Andropow wie mit seinem Nachfolger, Generalsekretär Tschernenko, gesprochen.

Trotz aller Rückschläge und trotz der ständigen Versuchung Moskaus, eine Politik der Nadelstiche wieder aufzunehmen, sind wir fest entschlossen, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, die Ost-West-Beziehungen so konstruktiv wie möglich zu gestalten. Wir sind dabei keine Vermittler oder gar Schiedsrichter zwischen Washington und Moskau; aber wir können im Rahmen unserer begrenzten Möglichkeiten dazu beitragen, Spannungen abzubauen und gegenseitiges Vertrauen zu fördern. Das werden wir mit Nachdruck tun.

Liebe Freunde, in unserem Verhältnis zur DDR haben wir versucht, zu praktischen Lösungen zu kommen. Auch damit erfüllen wir unsere nationale Verpflichtung: Wer Ja sagt zur Einheit der Nation, muß auf unsere Landsleute im anderen Teil Deutschlands zugehen, muß zu ihnen gehen, muß die Chance des Miteinander nutzen.

Wir wissen, mit wem wir es bei diesen Gesprächen zu tun haben, wenn wir mit der Führung der DDR sprechen. Wir - das gilt, liebe Freunde, in ganz besonderem Maße auch für mich selbst - vergessen dabei keinen Augenblick, daß es sich dort um eine kommunistische Diktatur handelt, die fortdauernd die Menschenrechte unserer Landsleute in der DDR verletzt.

Wir haben in einer Vielzahl von Fragen konkrete Fortschritte für die Menschen in beiden Staaten in Deutschland erreichen können. Sie erinnern sich noch alle an die Schwarzmalerei der SPD vom Kalten Krieg in den innerdeutschen Beziehungen nach einem Regierungswechsel. Heute spricht niemand darüber. Ich lade Sie alle ein, jede nur denkbare Gelegenheit zu nutzen, selbst nach Leipzig und nach Dresden, nach Ost-Berlin, nach Potsdam und nach Rostock zu fahren und das Urteil unserer Landsleute über unsere Politik zu hören. Dann werden Sie hören, daß man dort begriffen hat, daß wir in der Sache und in den Prinzipien entschieden sind und ohne Wenn und Aber die Grundpositionen deutscher Politik im Sinne unseres Grundgesetzes, im Sinne auch der Urteile des Bundesverfassungsgerichts vertreten, daß wir aber ebenso entschieden dafür sind, im Bewußtsein der Einheit der Nation wo immer möglich auf unsere Landsleute zuzugehen und die Chance offener Gespräche zu finden und zu nutzen.

Die Beziehungen bleiben zerbrechlich, wenn nicht beide Seiten weiterhin bemüht sind, ihrer Verantwortung für die Entwicklung dieser Beziehungen und damit ihrer Verantwortung für mehr Stabilität in Ost und West insgesamt gerecht zu werden.

Ich habe die Einladung an Generalsekretär Honecker wiederholt. Wir erwarten seinen Besuch. Wir wollen ihn um der Menschen willen nutzen.

Wir stellen mit tiefer Genugtuung fest, daß unsere Politik gegenüber der DDR und unser ganz selbstverständliches Bekenntnis zur Einheit der Nation wieder eine große internationale Beachtung findet. Liebe Freunde, wir nehmen aber auch aufmerksam zur Kenntnis, daß die Führung der DDR gegenwärtig in einem noch viel stärkerem Umfang, als es bislang zu verzeichnen war, bemüht ist, die deutsche Geschichte umzudeuten und sie sich so anzueignen. Hinter dem gesamtdeutschen Geschichtsbild der DDR steht die Idee eines sozialistisch-kommunistischen Gesamtdeutschlands. So soll ein national-kommunistisches Selbstverständnis geschaffen und als Legitimitätsersatz für ein Gemeinwesen dienstbar gemacht werden, dessen Theorie, Praxis und Wirklichkeit von den Deutschen in der DDR in freien Wahlen nie angenommen wurden und nie angenommen werden würden.

Wir lassen uns davon nicht beirren. Wir im freien Teil unseres Vaterlandes nehmen die deutsche Geschichte an, wie sie wirklich war - mit ihren großartigen, glanzvollen und mit ihren düsteren Kapiteln. Die deutsche Nation ist Wirklichkeit im Bewußtsein der Deutschen. Wir finden uns mit der Teilung nicht ab. Die Geschichte spricht kein letztes Wort, sie schafft keinen endgültigen Zustand. Wir bleiben unseren Landsleuten in der DDR verpflichtet.

Deshalb ist uns auch jeder willkommen - das sage ich in manche zeitgenössische Diskussion hinein -, der von den Behörden der DDR die Genehmigung erhält, in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln.

Es ist für uns doch ganz selbstverständlich, daß wir unsere Landsleute herzlich aufnehmen.

Die Härte der Teilung Deutschlands abzubauen und die Teilung im Rahmen einer stabilen europäischen Friedensordnung zu überwinden, das bleibt Ziel unserer Politik. Für uns, liebe Freunde, sind Deutschlandpolitik und Europapolitik wie zwei Seiten einer Medaille. Auch deshalb lassen wir uns in unserem Einsatz für die Einigung Europas von niemandem übertreffen.

Die Christlich Demokratische Union Deutschlands - das gilt auch für die Christlich-Soziale Union Bayerns - hat sich seit den Tagen Konrad Adenauers immer als die Europa-Partei Deutschlands verstanden.

Es ist wahr: Die Gipfel von Athen und Brüssel waren für uns, für die europäische Öffentlichkeit eine herbe Enttäuschung. Ich teile diese Empfindung vollauf. Nur, liebe Freunde, ist das kein Grund zur Resignation. Die Römischen Verträge sind vor gut 25 Jahren unterzeichnet worden. Zuvor war Europa jahrhundertelang von nationalstaatlichem Denken beherrscht. Niemand kann doch ernsthaft erwarten, daß diese Hypothek in einer einzigen Generation abgetragen wird.

Hier in Stuttgart haben wir uns vor einem Jahr auf dem Europäischen Gipfel in den wichtigsten Fragen, die zu lösen sind, auf die Bündelung eines Pakets geeinigt. Wir wollten damit erreichen, daß kein Mitgliedsland seine eigenen Forderungen, so berechtigt sie auch sein mögen, vor den Bestand und den Ausbau der Gemeinschaft stellt. Dies ist unsere Politik und gilt für die Bundesrepublik Deutschland.

Bei allem, was die Enttäuschungen über Athen und Brüssel ausmachen muß, dürfen wir nicht übersehen, daß es gelungen ist, den größten Teil der in Stuttgart gestellten Aufgaben zu lösen.

Liebe Freunde, noch immer aber geht es darum, ob Europa fähig ist, angesichts einer komplizierten weltpolitischen Lage, militärischer Bedrohungen, wirtschaftlicher und ökologischer Probleme die Interessen seiner Nationalstaaten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und sich zu einigen. Diese Einigung - daran darf für uns kein Zweifel aufkommen - muß endlich stärker politisch ausgeformt werden. Wir müssen lernen, mit einer Stimme zu sprechen, auch im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, Die Frage der kommenden Monate und Jahre - wir werden diese Frage stellen und auf Antwort drängen - wird darum sein: Ist jeder Partner in der Europäischen Gemeinschaft auch in schwierigsten Zeiten bereit, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft als unwiderruflich, als irreversibel zu betrachten? Wir sind es! Sind alle Partner bereit, ohne Wenn und Aber den Weg zur Politischen Union Europas zu beschreiten? Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind es! Ich hoffe, daß unsere Partner in der Gemeinschaft diese beiden klaren und entscheidenden Fragen ebenso klar und entschieden beantworten wie wir.

Liebe Freunde, ich habe hier in einigen Zügen eine Bilanz über die neunzehn Monate unserer Regierungsarbeit gezogen. Ich denke, wir können uns mit dieser Bilanz sehr wohl sehen lassen.

Aber - Sie kennen mich und verstehen, wenn ich dies so sage - es wäre nicht richtig, wenn wir auf diesem Parteitag nur selbstzufrieden unser Werk betrachten und dann zu den Aufgaben des Tages zurückkehren würden. Ich halte es für zwingend notwendig, daß wir gerade auch im Erfolg nachdenklich bleiben.

Wir müssen als CDU mehr leisten, als uns nur mit aktuellen Fragen des Regierungsalltags zu befassen. Dabei bitte ich Sie, dieses „nur" nicht als abwertend zu betrachten. Aber ich denke, gerade für eine Regierungspartei ist es wichtig, ihre Parteitage auch für eine geistige Standortbestimmung zu nutzen. Deshalb möchte ich mich im zweiten Teil meiner Ausführungen diesen mehr grundsätzlichen Fragen zuwenden.

Liebe Freunde, in der Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Zeit und den Herausforderungen der Zukunft vertrauen wir auf die schöpferische Kraft des Menschen. Diese Zuversicht, dieser Optimismus sind mehr als irgendeine Stimmungslage; sie sind Ausdruck unserer Lebenseinstellung; sie sind Ergebnis unseres christlichen Glaubens und unserer christlichen Überzeugung, unseres christlichen Menschenbildes.

Wir wissen: Politik und Parteien sind kein Religionsersatz, und politische Programme können Hilfen sein, aber niemals die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten. Als Christen wissen wir uns in der Verantwortung vor Gott, und wir wissen uns in seiner Obhut. Christliche Zuversicht steht gegen die aus Glaubensverlust entstandene Lebensangst in unserer Zeit. Mit Resignation und Zukunftspessimismus kann niemand auf die Dauer leben. Wir würden Gefahr laufen, uns selbst zu lähmen.

Wir glauben an unsere Fähigkeit, eine bessere, eine menschliche Zukunft zu gestalten. In verantworteter Freiheit sein Leben und die Welt zu gestalten, ist Gabe und Aufgabe für den Menschen. - So schreibt es unser Grundsatzprogramm als Auftrag nieder. Es ist ein Auftrag, den wir angenommen haben.

Liebe Freunde, Optimisten machen es sich nicht leicht. Sie nehmen Verantwortung an. Sie messen die Welt nicht allein am Wünschbaren, sondern auch am Möglichen. Sie wissen sich immer in der Kontinuität der Geschichte.

Die Mehrheit der Bürger unseres Landes teilt unseren Optimismus. Umfragen zeigen dies nicht nur bei Unternehmern und Wirtschaftsexperten, sondern nicht zuletzt auch bei der jungen Generation. Auf uns setzen heute viele ihr Vertrauen. Im Bündnis mit Mehrheit und Mitte unseres Volkes halten wir an unserem Kurs fest. Unser Ziel, liebe Freunde, ist die Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, in der es sich zu leben und zu arbeiten lohnt. Ich füge hinzu: Ein Vaterland, auf das die Menschen stolz sind, eine Heimat, in der sie sich geborgen fühlen. Wir sind wieder dabei, die großen Reserven an geistig-moralischer und materieller Kraft unseres Landes neu zu mobilisieren. Und darauf kommt es an: Die Wirkung der Politik reicht weiter als der Arm des Staates. Politik prägt auch das Lebensgefühl, das Selbstverständnis der Bürger, und sie bestimmt dadurch auch, ob der Bürger im Staat die eigene Sache sieht, ob er sich als betreutes Objekt fühlt oder als handelndes Subjekt.

Es ist eine schlechte Politik, und es überzieht den Staat mit Ansprüchen, die er letztlich nicht erfüllen kann, wenn sie beim Bürger Haltungen herausfordert, die das Gemeinwesen auflösen. Dieser Diskussion stehen wir gegenüber; der Diskussion um Wertneutralismus und Egoismus, Anspruchshaltung und Versorgungsdenken, Angst und Anmaßung. Wir wissen auch aus leidvoller Erfahrung, daß dies lange Zeit die Partitur war, nach der die Republik dirigiert wurde. Dies verdirbt nicht nur den Stil und die Sitten, dies schadet der Substanz freiheitlicher Demokratie.

Unsere Politik orientiert sich an einem Bild vom Bürger, der Mitverantwortung trägt und Solidarität übt. Wir wollen die Selbständigkeit, wir wollen die Selbstverantwortlichkeit, wir wollen Vielfalt und Wettbewerb, und wir setzen auf Lebensmut, Lebenswillen und damit immer auch auf Leistungswillen und -bereitschaft. Davon will ich jetzt sprechen.

Erstens: Wir stehen ein für die Werte unseres Grundgesetzes.

Sie bilden das Fundament der freiheitlichen Ordnung unseres Landes. Sie begründen die Freundschaft mit den westlichen Demokratien. Werte anerkennen, liebe Freunde, heißt sich binden. Ohne ethische Grundlagen gibt es keine dauerhafte menschliche Ordnung, keine stabile politische Allianz. Gemeinsames Werteverständnis schafft Zusammengehörigkeit.

Zwischen Diktatur und Freiheit und Demokratie gibt es keinen Mittelweg. Wir wissen, wo wir stehen: Immer auf der Seite der Freiheit.

Für uns hat die Bewahrung der Freiheit Vorrang vor allen anderen Zielen; sie bleibt auch in der nationalen Frage Maßstab unseres Tuns. Freiheit kann nicht der Preis der Einheit sein. Wir sind immun gegen jede Versuchung, unser Heil in einem neutralistischen Sonderweg für die Bundesrepublik Deutschland zu suchen.

Die Bindung an die freiheitliche Demokratie gehört zu unseren Staatsgrundlagen. Mit den demokratischen Rechtsstaaten teilen wir unsere Grundwerte und unsere politische Kultur. Sie und wir gehören deshalb zusammen. Unsere Einbindung in die atlantische Wertegemeinschaft ist irreversibel, und zur Einigung Europas - beides gehört zusammen - gibt es für uns keine Alternative.

Um die Grundwerte geht es auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung um das Thema Ehe und Familie. Die Familie verkörpert jene Werte, die unserem Gemeinwesen seine menschliche, seine kulturelle und seine geschichtliche Identität vermitteln. Aber, liebe Freunde, wie keine andere Institution haben Ehe und Familie in den letzten eineinhalb Jahrzehnten unter den Ideologien der Linken zu leiden gehabt. Der Vorrang der familiären Erziehung wurde in Frage gestellt. Die Ehe wurde nur noch als eine unter anderen Formen menschlicher Lebensgemeinschaft behandelt. Die Familie wurde materiell vernachlässigt und ideologisch verunsichert. Die Leistung der Mütter für ihre Kinder, der wichtigste Dienst schlechthin in unserer Gesellschaft, wurde bewußt herabgesetzt.

Heute gilt unser Land als familien- und kinderfeindlich. Heute haben wir mit die höchste Scheidungsrate, sind wir das geburtenärmste Land der Welt. Mit Besorgnis - auch das muß man aussprechen - beobachten wir, daß immer mehr Eltern mit materieller Großzügigkeit abgelten wollen, was sie ihren Kindern an Zeit und Zuwendung, an Autorität und Vorbild schuldig geblieben sind.

Liebe Freunde, gegen diese Entwicklung setzt die CDU Deutschlands ihr klares Bekenntnis zum Vorrang der Familie.

Sie muß wieder Mittelpunkt unseres staats- und gesellschaftspolitischen Denkens und Handelns werden. Wichtig ist die materielle Besserstellung der Familien durch die Steuerreform, beim Kindergeld, beim Mutterschaftsgeld und im Rentenrecht. Das haben wir zugesagt, das werden wir einhalten.

Aber es wäre kurzsichtig zu glauben, die Lösung der Probleme wäre ausschließlich auf finanziellem Wege möglich. Was wir wollen und was wir brauchen, ist eine Renaissance der Familie in unserem Land. Sie muß ausgehen von den Familien, von den Menschen. Familiensinn, liebe Freunde, kann nur in der Familie selbst wachsen.

Vor allem aber wollen wir die Verantwortung der Eltern für die Erziehung stärken. Kinder brauchen die Liebe, die Autorität, das Vorbild der Eltern. Sie haben ein Anrecht darauf, weil sie ja nur so zu selbständigen Persönlichkeiten heranreifen können, die an Werten und menschlichen Bindungen festen Halt finden.

Die Gesellschaft mit menschlichem Gesicht muß sich zuallererst als kinder- und familienfreundlich erweisen.

Kinder müssen sich in unserem Land mit offenem Herzen aufgenommen fühlen.

Und es ist ein gutes Zeichen, daß viele von denen, die in den letzten Jahren Ehe und Familie als altmodisch abgelehnt hatten, sich mittlerweile eines Besseren besinnen. Es ist offenkundig: Das Experiment der bindungsarmen Beziehung ist gescheitert. Ehe und Familie kommen zu neuem Glanz. Gerade die junge Generation beginnt zu verstehen, daß Liebe und Treue keine altmodischen Begriffe sind, sondern daß sie Bindungen zwischen Menschen Halt und Dauer geben.

Zweitens. Wir wollen eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, in der jeder auch für seinen Nächsten einsteht und nicht nur jeder für sich selbst.

Unser Grundsatzprogramm formuliert das prägnant. Dort heißt es:

Die Gemeinschaft steht für den einzelnen ein. (...) Das ist sein Recht auf Solidarität. Der einzelne steht aber auch für die Gemeinschaft aller ein. Das ist seine solidarische Pflicht.

Solidarität aus christlichem Verständnis, liebe Freunde, meint etwas ganz anderes als die Kampfgemeinschaft derer, die ein gemeinsames Interesse gegen andere vertreten.

Für uns bedeutet Solidarität Mitverantwortung für das Ganze. Wir müssen deshalb als Starke für die Schwachen eintreten. Menschen in Sorge und Bedrängnis brauchen vor allem Menschen, die ihnen beistehen, nicht nur Behörden, die ihren „Fall" verwalten. Sie wollen mitmenschliche Zuwendung in ihrem Lebensalltag ganz praktisch erfahren. Das ist nicht nur eine Frage materiellen Wohlergehens.

Nicht der Grad der Güterversorgung - so schrieb Alexander Solschenizyn - bestimmt das Glück der Menschen, sondern die Beziehungen der Herzen zueinander und unsere Einstellung zum Leben.

Liebe Freunde, in unserem Land muß niemand verhungern. Doch es kann sehr wohl vorkommen, daß ein Mensch in seiner Wohnung stirbt und Wochen vergehen, bevor es die Nachbarn überhaupt bemerken. - Wir müssen wieder aufmerksamer werden und sensibler - im Umgang mit dem anderen.

Hier denke ich an unsere Landsleute, die aus Osteuropa, die aus Rußland nach vielen Jahren und Jahrzehnten wieder in ihre alte Heimat kommen können. Hier denke ich an unsere ausländischen Mitbürger. Und hier denke ich an die vielen Älteren in der Bundesrepublik Deutschland. Das Ziel unserer Politik muß sein, daß niemand an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt wird. Der Dienstleistungsbereich und der Handel, kulturelle und soziale Einrichtungen, die Medien und auch die Politik werden sich mehr als bisher auf die Erwartungen und Hoffnungen dieser wachsenden Gruppe von Menschen einstellen müssen.

Ich weiß: Für manche ist es nicht einfach, aus dem Berufsleben auszuscheiden und in den Ruhestand zu treten. Dies war einer der wichtigen Diskussionspunkte im Zusammenhang mit der Vorruhestandsregelung. Die meisten der Betroffenen fühlen sich eben nicht alt im herkömmlichen Sinne. Sie sind vital, sie wollen aktiv bleiben. Der Gewinn an Ungebundenheit, an Zeit für Familie, für Freunde, für Hobbies wiegt keineswegs immer auf, was verlorengeht und was auch als Verlust erlitten wird - erlitten im tieferen Sinn des Wortes: Verlust an Herausforderungen und Verantwortung, an Chancen zur Gestaltung, zur Bewährung und persönlicher Erfüllung. - Diese Menschen haben es durch ihre Lebensleistung verdient, daß wir ihnen auch in dieser neuen Lebensphase Solidarität beweisen: nicht nur durch materielle Sicherung und gesundheitliche Betreuung, sondern natürlich auch durch aufmerksame Anteilnahme im täglichen Dasein, durch größere Offenheit für das Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach - und nicht zuletzt dadurch, daß wir ihnen mehr Felder für eine sinnerfüllte Tätigkeit erschließen.

Unsere Gesellschaft wäre ärmer ohne die Beiträge der Älteren, ihre Urteilsfähigkeit und ihren Schatz an Lebenserfahrung. Und ohne Achtung vor dem Alter, seinem Wert, vor seiner Gestaltung in Freiheit, Würde und persönlicher Verantwortung fehlt einer Gesellschaft ein entscheidendes Stück Humanität.

Solidarität, liebe Freunde, beweist sich nicht allein im engsten Lebensbereich; Solidarität ist auch geboten in den Beziehungen der Völker zueinander, bei der Überwindung von Hunger, Armut und Not in den Ländern der Dritten Welt. Es darf uns nicht gleichgültig sein und ist uns nicht gleichgültig, daß Hunderte von Millionen Menschen Hunger leiden, daß Jahr für Jahr über 10 Millionen Kinder sterben, weil sie die einfachsten Lebensvoraussetzungen nicht besitzen. Es ist doch für einen christlichen Demokraten ganz und gar unerträglich, daß ein Teil der Menschheit im Überfluß lebt und ein anderer in steigendem Elend.

In der Pflicht zur Solidarität stehen wir, liebe Freunde, auch gegenüber der nachwachsenden Generation. Ich will am Beispiel des Schatzes der Natur, die uns doch nicht ausgeliefert, sondern anvertraut ist, sagen: Wer der Umwelt Schaden zufügt, wird am Ende selber Opfer seines Tuns. - Aber Umweltschäden treten eben keineswegs nur dort auf, wo die Ursachen gesetzt werden. Den ökologischen Preis - und dies zeigt das Waldsterben in der Bundesrepublik - zahlen wir alle. Und an den Folgekosten werden noch die zu tragen haben, die heute noch gar nicht leben.

Deshalb haben wir uns nach Übernahme der Regierungsverantwortung entschieden, zügig und verantwortlich zu handeln, obwohl der Zeitpunkt für diese notwendigen Eingriffe, allgemein wirtschaftlich gesehen, ganz gewiß nicht günstig war. In einer labilen gesamtwirtschaftlichen Lage mußten wir im vergangenen Jahr Regelungen im Bereich der Luftverschmutzung durch Kraftwerke und Industrieanlagen beschließen. Und wir werden mit der Einführung von bleifreiem Benzin ab 1986 in Europa eine Pilotfunktion übernehmen und, wie ich hoffe, damit einen weiteren wirksamen Schritt gegen das Waldsterben einleiten.

In den nächsten Monaten findet die internationale Konferenz über Umweltschutzfragen in München statt. Ich bin froh, daß viele Länder aus Ost und West zu dieser Stunde bereits zugesagt haben.

Liebe Freunde, ich begrüße es auch, daß wir in unserer Partei viele Anstöße auf diesem Gebiet gegeben haben, daß sinnvolle Vorschläge ausgearbeitet und diskutiert worden sind, alles unter der Überschrift, eine menschengerechte Umwelt in einer lebenswerten Zukunft zu sichern.

Drittens. Die humane Industrienation braucht den selbständigen, den mündigen Bürger.

Die ausufernde Betreuung der Bürger durch den Staat in den vergangenen Jahren hatte zwangsläufig zur Folge, daß immer mehr Leute bevormundet wurden. Vielen, vor allem auch aus der jungen Generation, ist diese Reglementierung ein Ärgernis. Sie machen häufig die Erfahrung, daß Leistung, Initiative und eigenverantwortliches Handeln ins Leere laufen, ja bestraft werden. Aber - und das muß man hinzufügen - gleichzeitig erwarten immer mehr, daß ihnen der Staat bei der Bewältigung ihres Daseins möglichst viele Risiken abnimmt. Das reicht in unseren Tagen bis hin zu der Forderung, der Staat habe dafür einzustehen, daß der einzelne den einmal eingeschlagenen Berufs- oder Lebensweg auf alle Fälle erfolgreich zu Ende führen könne. Oft sind es doch dieselben, die auf der einen Seite ein Übermaß an staatlicher Bevormundung kritisieren, aber auf der anderen Seite immer neue Aufgaben entdecken, für deren Erfüllung sie den Staat verantwortlich machen.

Wir halten es für wichtig - und wir werden dies tun -, den Staat wieder auf seine eigentlichen Aufgaben zu beschränken. Wir müssen auf dem Weg vorankommen, öffentliche Dienstleistungen, die sich dazu eignen, in private Hände zu übergeben. Wir werden weitere Staatsanteile an Bundesunternehmen privatisieren. Und wir werden alles tun, um den Prozeß der Entbürokratisierung weiterzuführen, damit die Gesetze verständlicher und einfacher werden.

Liebe Freunde, diese Selbstbescheidung des Staates geht nicht ohne mehr Selbständigkeit des Bürgers. Wir werden Anspruchs- und Versorgungsdenken nur überwinden, wenn die Bürger die Chancen zu Selbständigkeit, zu Eigeninitiative, zu Eigenverantwortlichkeit auch tatsächlich nutzen. Der Staat der Daseinsvorsorge hat zu viele Aufgaben an sich gezogen, denen er sich immer weniger gewachsen zeigt. Damit aber der Staat den wirklich Hilfsbedürftigen wirksam helfen kann, müssen wir uns neu darüber verständigen, was ausgleichende Gerechtigkeit in unserer Zeit bedeutet.

Es geht nicht nur darum, den Staat zu entlasten. Es geht vor allem darum, daß das wirtschaftliche, das soziale und das menschliche Klima im Land erhalten bleiben. Es geht um das Verhältnis von Bürger und Staat. Herbert Weichmann hat es uns vor gerade zwei Jahren in einer vermächtnishaften Rede im Bundestag in Erinnerung gebracht, als er uns einen Kernsatz der Demokratie zurief: Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten, und wer Pflichten hat, der hat auch Rechte.

Selbständigkeit, liebe Freunde, meint mehr als die wirtschaftliche Chance desjenigen, der einen Betrieb gründet, ein Geschäft oder ein Büro eröffnet, so wichtig das gerade in unseren Tagen ist. Wir brauchen eine Existenzneugründungswelle, und wir werden alles tun, um dafür die Rahmenbedingungen zu verbessern. Aber es geht um viel mehr.

Wir müssen erreichen, daß der politisch mündige Bürger auch in seiner wirtschaftlichen und sozialen Lebensgestaltung wieder Selbständigkeit übt. Vermögensbildung ist ein Beispiel für einen solchen Weg, der Bürgern mehr wirtschaftliche Sicherheit und damit auch die Chance für mehr personale Selbständigkeit und Unabhängigkeit bringen kann.

Für Selbständigkeit und Eigeninitiative gibt es viele erfolgreiche Beispiele. Betrachten Sie etwa die großen Hilfswerke unserer Kirchen wie „Brot für die Welt" und „Misereor", die Arbeit von vielen Tausenden von Vereinen und Stiftungen in der Bundesrepublik, die vielen tausend Trainer und Betreuer junger Leute in den Sportvereinen, diejenigen, die neue Jugendmusikclubs aufmachen, und vieles andere mehr! Es ist doch eine beglückende Tatsache, daß heute beispielsweise zwei Millionen junge Menschen in der Bundesrepublik aktiv am Musikleben teilnehmen und in Chören und Orchestern mitwirken.

Allerdings - darüber reden wir nicht. Wir reden zu viel über die wenigen und viel zu wenig über die vielen, die hier tätig sind.

Ich denke an die Nachbarschaftshilfe und die ganz persönliche Zuwendung. Diese große eindrucksvolle Hilfsbereitschaft ist doch der Beweis dafür, daß es einfach nicht stimmt, daß die Bundesrepublik Deutschland zu einer Ellenbogengesellschaft denaturiert ist. In einer Gesellschaft, in der so viele bereit sind, anderen zu helfen, Mitverantwortung zu tragen, und dafür persönliche Opfer zu bringen, wird sich auch das Leitbild des Selbständigen, des Eigenverantwortlichen durchsetzen.

Viertens: Unser Land ist auf die Vielfalt und den Wettbewerb von Begabungen und Ideen angewiesen.

Der wichtigste „Rohstoff" der Bundesrepublik Deutschland sind Intelligenz, Talent und Hingabe seiner Bürger. Sie sind die dynamische Kraft, aus der sich die politische, die wirtschaftliche, die soziale und die kulturelle Vitalität unserer Gesellschaft entfaltet.

Im Mittelpunkt dieses Landes, im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch mit seiner geistigen Unabhängigkeit, mit seiner freien Willensentscheidung, seiner ganz einzigartigen, unwiederholbaren Eigenheit. Keiner ist wie der andere. Keiner kann dem anderen gleichgemacht werden.

Darauf gründen sich die Konkurrenz unterschiedlicher geistiger Strömungen, der Wettbewerb politischer Entwürfe, die Auseinandersetzung verschiedener Kräfte. In dieser ganz und gar vitalen Spannung liegt eine beispielhafte Stärke unserer freiheitlichen Gesellschaft. Die Öde der Eintönigkeit überlassen wir sozialistischen und marxistischen Systemen.

Die Arbeitswelt, die Familien- und die Lebensumwelt müssen wir den Menschen und der Vielfalt ihrer Bedürfnisse anpassen; nicht umgekehrt. Mehr Gleichheit gerät gerade hier zu immer mehr Nachgeben auf dem Feld der Freiheit.

Für uns muß der Satz gelten: Im Zweifel für die Vielfalt und gegen die Schablone.

So wollen wir etwa auch die Phänomene der modernen Medientechnik angehen, den Bürgern einen weiten Raum öffnen und die Meinungsvielfalt stärken. Wir sind gegen jede Bevormundung und gegen eine Lenkung der Nachfrage durch eine Verknappung des Programmangebots. Ich füge hinzu, daß wir uns das Tor für die neuen Medien weit aufstoßen wollen. Aber das bedeutet nicht, daß wir uns von dem abwenden, was sich bei uns im öffentlich-rechtlichen System bewährt hat. Ich warne Neugierige, nun alles Heil von den neuen Medien zu erwarten. Ich sage es ganz direkt: Wenn ich manche Druckerzeugnisse von manchen Verlagen beobachte, kann ich nicht glauben, daß die Medienlandschaft dieser Verlage anders als die Druckerzeugnisse sein wird, die sie seit Jahrzehnten geliefert haben.

Die zukunftsweisenden Möglichkeiten des technischen Fortschritts - das scheint mir ein wichtiges Thema noch für dieses Jahr zu sein - sollten wir zu mehr Flexibilität in der Arbeitswelt nutzen. Vor allem Eltern - Mütter oder Väter -, die sich zu Hause mehr ihren Kindern widmen wollen, müssen mehr Chancen erhalten, Beruf und Familie miteinander zu verbinden.

Das starre Festhalten an schematischen Arbeitszeiten ist doch keine menschengerechte Antwort auf die technologischen Strukturveränderungen unserer Zeit.

Bei der Vorruhestands-Regelung ging es mir nicht allein um die Entlastung des Arbeitsmarkts, sondern - ich sage das auch hier deutlich - um ein Stück Solidarität mit jener Generation, die zuletzt und vor allem noch einmal unter der Last der Kriegs- und Nachkriegszeit besonders hart zu tragen hatte.

Überall, liebe Freunde, in der Wirtschaft wird heute damit begonnen, durch flexiblere und personenbezogene Arbeitszeitregelungen neue Freiräume für die Arbeitnehmer zu schaffen. Um diese gute Entwicklung zu fördern, müssen wir schnell jetzt handeln: von befristeten Arbeitsverträgen über die Förderung der Teilzeitarbeit bis zu einer vernünftigen Ausgestaltung der Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes und des Jugendarbeitsschutzes.

Wir werden das in diesem Jahr tun, weil es eine wesentliche Hilfsmaßnahme auch zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist.

Es geht mir darum, daß wir fähig sind, die phantasielosen Arbeitsregeln aufzubrechen. Eine Zukunft, wie wir sie wollen, liebe Freunde, die mehr bieten muß als bürokratische Verwaltung von Mangel und Umverteilung von Defiziten, werden wir nur dann gestalten, wenn Leistung etwas gilt und wenn sich die Menschen auch wieder herausgefordert fühlen, Leistungen zu erbringen.

Den zu bestrafen, der mehr als andere leistet, ist doch kein Erfolgsrezept für eine freie Gesellschaft. Ich denke hier nicht zuletzt an die Familie mit mehreren Kindern und die Lasten, die sie tragen muß.

Bei der anstehenden Reform der Lohn- und Einkommensteuer werden wir die Familien ab 1. Januar 1986 in erheblichem Umfang entlasten und, wo steuerliche Maßnahmen nicht ausreichen oder nicht greifen, durch Anhebung des Kindergelds für eine Besserstellung der Familien sorgen.

Wir lösen damit zu einem möglichst frühen Zeitpunkt unser wichtigstes Versprechen ein: Wer Kinder großzieht, soll weniger Steuern als jene zahlen, die ihren Beitrag zum Generationenvertrag nur finanziell leisten können.

Mit der größten Steuerreform in der Geschichte unserer Republik wollen wir erreichen, daß sich Leistung wieder lohnt. Wir sind auch deshalb gegen jede Gleichmacherei, weil ohne Anreiz zur Leistung am Ende - das haben wir ja erlebt - nur noch der Mangel zur Verteilung übrig bleibt.

Und, meine Freunde, in dieses Bild gehört: Wir brauchen auch mehr Offenheit und Unterstützung für die Leistungseliten, für jene Spitzenkräfte, die sich durch Talent, durch Unternehmungsgeist, durch ihren ganz persönlichen Einsatzwillen auszeichnen und die mehr als andere zustande bringen und somit auch ein Beispiel für die nachwachsende Generation sind.

Das gilt nicht zuletzt für Spitzenleistungen in der Wissenschaft. Wir müssen fähig sein - wie das einmal in Deutschland selbstverständlich war -, großartige Leistungen auf wissenschaftlichem Feld materiell und immateriell wieder entsprechend anzuerkennen und zu honorieren.

Dazu brauchen wir auch an unseren Universitäten mehr Wettbewerb und einen breiten Spielraum für Eigeninitiative und Durchlässigkeit für Talente und Hochbegabte.

Wenn hervorragende Leistungen auch gesellschaftlich mehr anerkannt, gebührend honoriert und vielleicht auch stärker ausgezeichnet werden, dann sind wir auf dem richtigen Weg, unser Spitzenniveau in Technik und Wissenschaft zu bewahren.

Fünftens. Für die Zukunftschancen unserer Gesellschaft ist es entscheidend, daß wir aus Zuversicht und berechtigtem Selbstvertrauen neue Kraft schöpfen.

Liebe Freunde, wir leugnen die Probleme unserer Zeit nicht. Wir sind ja angetreten, um an ihrer Lösung zu arbeiten. Mit grüblerischer Angst und Mißtrauen wird uns nichts gelingen. Wir setzen gestaltenden Lebensmut gegen lähmende Zukunftsangst. Wir wollen die technischen und materiellen Möglichkeiten unserer Zivilisation in den Dienst der Menschen, in den Dienst unserer Kultur stellen.

Neben der Freiheit der Forschung, die den technischen Fortschritt ermöglicht, steht die ethische Verantwortung für die Anwendung ihrer Ergebnisse. Die Menschen haben einen Anspruch darauf, daß ihnen die Welt nicht immer fremder gemacht wird; denn was die Menschen nicht durchschauen und begreifen, empfinden sie als Bedrohung. Wir alle brauchen die Gewißheit, daß die neuen Technologien unter der Kontrolle unserer Wertmaßstäbe bleiben. Wir müssen mit dem Fortschritt in Technik und Wissenschaft verantwortungsbewußt umgehen - mit wachem Sinn für die Chancen und die Gefahren. Die Frage nach den Grenzen des Machbaren darf niemand leichtfertig übergehen. Der Mensch als Geschöpf Gottes bleibt für uns immer Maß aller Dinge.

Ethische Maßstäbe bei der Einführung neuer Techniken kann aber nur der entwickeln und durchsetzen, der selbst an der Spitze des Fortschritts steht. Die Lebensfrage unserer technischen Zivilisation liegt darin, daß sich Technik und Moral, daß sich Macht und Geist nicht voneinander trennen und niemals in einen unversöhnlichen Gegensatz geraten dürfen.

Meine Freunde, meine Forderung an die Politik, zu einer geistig-moralischen Erneuerung beizutragen, hat viel Aufmerksamkeit erregt und auch manche Gegnerschaft gefunden. Vielleicht auch deshalb, weil ich damit ja in Zweifel gezogen habe, daß es einen Gegensatz zwischen Geist und Macht geben muß. Der Politiker, der gestalten und eben nicht nur verwalten, der die Welt zu seiner Zeit ein Stück verbessern will, braucht einen Wertmaßstab, um sein Ziel bestimmen, um sein Ziel erreichen zu können. Selbstverständlich hat Politik keinen Anspruch auf ein Monopol für geistige Führung. Um ein Wort Robert Musils aufzugreifen: Der Wirklichkeitssinn der Politiker braucht die Auseinandersetzung mit dem Möglichkeitssinn der Intellektuellen.

Unverantwortlicher Rigorismus ist ebenso gefährlich wie eine technokratische Politik, die auf die Bindung ethischer Werte verzichten zu können glaubt. Beides führt zum Untergang der Freiheit, sei es im totalitären Staat, sei es in einer fatalistischen Sinnentleerung. Die Auseinandersetzung zwischen Geist und Macht kann und muß schöpferisch sein. Und darum geht es uns.

Liebe Freunde, wir sind nicht nur angetreten, um den Nachlaß unserer Vorgänger zu ordnen und ihre Schulden abzutragen. Wir wollen nicht nur Erblastverwalter sein. Mit jedem Schritt aus der Krise gewinnen wir neuen Raum für die Gestaltung der Zukunft unseres Landes. Diesen Raum zu nutzen - das ist unsere Chance, und das ist unsere besondere Verantwortung.

Vor gut einem Jahr haben wir das zweitbeste Bundestagswahlergebnis in der Geschichte unseres Landes erreicht. Wir verfügen heute mit der vollen Verantwortung, die das bedeutet, über die Mehrheit im Bundesrat und die relative oder absolute Mehrheit in zwei Dritteln aller kommunalen Gebietskörperschaften der Bundesrepublik Deutschland. In der Bundesversammlung haben wir erneut, zum zweiten Mal, die absolute Mehrheit. Auch das ist ein Vertrauensbeweis der Bürger. In 14 Tagen, liebe Freunde, wollen wir Richard von Weizsäcker gemeinsam zum neuen Bundespräsidenten wählen.

Aber, liebe Freunde, vergessen wir keinen Augenblick: Wir haben Macht, aber wir sind keine Machthaber. Der Staat gehört uns nicht. Wir sind Regierungspartei mit befristetem Wählerauftrag und Verantwortung auf Zeit. Der Wähler hat immer das letzte Wort, und ein Schlußwort spricht er nie. Vertrauen will stets neu erworben werden. Dabei geht es wirklich nicht nur um die sogenannte große Politik - ich mag das Wort nicht -, sondern es geht um die Politik im Ganzen: im Bundestag genauso wie in den Landtagen, vor allem auch draußen in den Städten, in den Dörfern und Gemeinden, in denen Politik ganz direkt erfahren wird und wo jeder bei den Beschlüssen des Gemeinderates sachverständig, kompetent ist und weiß, was etwas kostet. Hier liegen die Wurzeln unserer Demokratie. Hier erfolgt ganz entscheidend das Ringen um geistige und politische Führung. Für uns ist es deshalb ganz selbstverständlich, daß wir uns in den Landtagen ebenso wie im Bundestag, aber besonders in den Gemeindeparlamenten für eine menschengerechte Umwelt der Bürger engagieren.

Liebe Freunde, diese Politik für eine bessere Zukunft wird Erfolg haben, wird zum Erfolg führen, wenn wir zielbewußt und entschieden unsere Prinzipien und Grundsätze vertreten, den Wählerauftrag zuverlässig und glaubwürdig erfüllen und mutig unseren Weg gehen.

Der Prediger im Gottesdienst heute Morgen hat uns, denke ich, das Schlußwort geschenkt. Er erinnert uns an den Zweiten Brief an Timotheus. Ich will es ganz einfach sagen - nicht, weil ich damit den Stuttgarter Leitsätzen einen weiteren hinzufügen will, sondern weil es sich wohl ziemt, das auf einem Parteitag der Christlichen Demokraten noch einmal deutlich auszusprechen -, eben mit diesem Zweiten Brief: Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.

Ich schäme mich nicht, mich zu unserem Herrn zu bekennen. Ich hoffe, daß wir diesem Anspruch gerecht werden.

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 402-431.