9. Mai 1988

Ansprache bei der Jahresversammlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz in Köln

 

Ein Land, das - wie die Bundesrepublik Deutschland -nur über geringe Rohstoffe verfügt, ist mehr als andere auf Können und Begabung seiner Bürger angewiesen: auf Kreativität, Fleiß und Leistungsbereitschaft. Sie sind der größte Reichtum unseres Landes. Gerade eine freiheitliche Demokratie braucht Leistungseliten -vor allem auch in der Wissenschaft. Wissenschaftlich-technische Innovationen sind der Lebensnerv einer modernen und weltoffenen Volkswirtschaft, und sie entscheiden maßgeblich mit über Wohlstand und sozialen Halt für unsere Bürger.

Gleichzeitig kann und muss der wissenschaftliche Fortschritt die humane Qualität unseres Landes fördern. Er kann zur geistigen Orientierung beitragen, er kann vielen Menschen Sorgen abnehmen und neue Hoffnung schenken - Kranken zum Beispiel, die vielleicht in Zukunft geheilt werden können, oder Ehepaaren, die sich bislang vergeblich ein Kind wünschten.

Aber - und dies spüren wir heute mehr denn je: Die Wissenschaft führt uns auch an Grenzen, die wir nicht überschreiten dürfen. Wir wollen die Chancen des wissenschaftlichen Fortschritts nutzen, soweit wir dem Wohl der Menschen damit dienen können, und gleichzeitig müssen wir vorausschauend den Risiken begegnen, so- weit es der Schutz von Menschenleben und Menschenwürde erfordert. Die Verantwortung, beiden Aufgaben gleichermaßen gerecht zu werden, stellt höchste Anforderungen an Wissenschaftler wie an Politiker. Vor diesem Hintergrund muss sich das Zusammenwirken von Wissenschaft und Politik bewähren - im gemeinsamen Dienst für eine moderne und menschengerechte Lebensumwelt.

Es ist kein Wunder, dass in diesem Zusammenhang kritische Fragen gestellt werden, dass es auch immer wieder Berührungsängste gibt. Die Dimension der gemeinsamen Herausforderung ist zu groß, als dass sie nicht da und dort zwiespältige Gefühle wecken würde. Und doch: Es liegt auf der Hand, dass wir ohne eine enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik die Zukunft für unser Land nicht gewinnen können. Dies gilt um so mehr, als es doch - bei aller Unterschiedlichkeit der spezifischen Verantwortungsbereiche - zahlreiche Berührungspunkte gibt. Wissenschaftliches Forschen auf der einen Seite, politisches Handeln und Entscheiden auf der anderen entfalten sich zum Teil durchaus unter vergleichbaren, ja ähnlichen Bedingungen und Gegebenheiten.

So sind Wissenschaft und Politik Partner, die - wenn auch auf unterschiedliche Weise - letztlich demselben Ziel dienen sollen: Beiden ist aufgegeben, zum Wohle der Menschen zu wirken und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Entwicklung der Gesellschaft beizutragen. Das heißt: Sowohl die Politik als auch die Wissenschaft trägt Verantwortung für die Gemeinschaft. Natürlich gibt es hier wesentliche Unterschiede, die nicht verwischt werden dürfen: Anders als dem vom Volk gewählten Politiker ist dem Wissenschaftler diese Verantwortung nicht unmittelbar übertragen worden - aber auch er kann sich ihr nicht entziehen.

Die Vorstellung, man könne sich in den Elfenbeinturm einer sich selbst genügenden wissenschaftlichen Betätigung zurückziehen, ist heute als Illusion erwiesen, und jeder Versuch, im Geist der „Physiker" Dürrenmatts aus der Verantwortung zu fliehen, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Der Einsicht in die Verantwortung folgt notwendigerweise die Frage nach den ethischen Maßstäben. Es ist bezeichnend, dass gerade diese Frage in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt von jungen Leuten, immer drängender gestellt wird und dass sie sich vor allem an die handelnden Politiker wie an die Wissenschaftler richtet. So sind Wissenschaft und Politik aufgerufen, in einem intensiven Dialog die Maßstäbe zu definieren, an denen sie ihr Handeln ausrichten. Ebenso stehen sie in der Pflicht, öffentlich Rechenschaft darüber abzulegen.

Freiheit und Verantwortung, Öffentlichkeit und Transparenz sind Schlüsselbegriffe - für die Politik ebenso wie für die Wissenschaft. Sie bedingen einander und schaffen Grundlagen für einen offenen, möglichst vorurteilsfreien Austausch von Meinungen oder Erkenntnissen. So wie sich ein demokratischer Meinungsbildungsprozess nur vollziehen kann, wo diese beiden Voraussetzungen gewährleistet sind, so kann auch der wissenschaftliche Dialog - unverzichtbarer Bestandteil allen wissenschaftlichen Forschens - nur dort wirklich fruchtbar werden, wo er frei und öffentlich geführt wird.

Schließlich müssen auch beide- Wissenschaft und Politik - die Begrenztheit menschlichen Wirkens anerkennen. So wie wir immer wieder die Möglichkeit eines Irrtums mit in Rechnung stellen müssen, so müssen wir auch bereit sein, unsere eigenen Erkenntnisse, unsere Theorien und Entscheidungen zu überprüfen und notfalls zu korrigieren. Wo diese Bereitschaft nicht besteht, wird Wissenschaft zur Ideologie und - nach allen Erfahrungen - zum Wegbereiter der Tyrannei. Aus der Einsicht in die eigene Unvollkommenheit dagegen erwachsen Bescheidenheit und Toleranz - gerade auch im Umgang miteinander.

Wichtig ist, dass sich Wissenschaft und Politik gegenseitig nicht überfordern, sondern die eigenen Grenzen wie die Grenzen des jeweils anderen erkennen und respektieren. Zum Beispiel muss die Wissenschaft Verständnis aufbringen, wenn ihre Lösungsmodelle nicht ohne weiteres übernommen und in politische Entscheidungen umgesetzt werden können. Der Politiker hat gerade in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft wie der unseren nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, in seine Entscheidungen auch andere als wissenschaftliche Aspekte einfließen zu lassen - zumal auch wissenschaftliche Gutachten oft nur eine Facette eines Problems beleuchten können.

Der Wissenschaftler kann dem Politiker die Entscheidung nicht abnehmen -ja, er darf es nicht einmal wollen. Für den handelnden Politiker heißt das: Er darf sich auch bei komplexen und schwer zu überschauenden Problemen nicht hinter dem Expertenwissen verschanzen. Er muss sich die Freiheit der Entscheidung bewahren und dafür auch die Verantwortung übernehmen - so schwer dies im Einzelfall sein mag.

Die Wissenschaft kann bei der Lösung von Problemen wertvolle Hilfen geben, aber sie kann keine Patentrezepte anbieten. Der Politiker darf sich solche Patentrezepte auch gar nicht erhoffen. Gleichzeitig muss er aber auch der entgegen gesetzten Gefahr begegnen: Er muss der Versuchung widerstehen, sich die Wissenschaft zur Verteidigung seiner eigenen Position einseitig dienstbar zu machen, sozusagen sie zu Propagandazwecken zu „instrumentalisieren" .

Ich weiß, dass diese Gefahr besteht und dass hier und da auch Gutachten veröffentlicht werden, die nichts anderes darstellen als die wissenschaftliche Verbrämung einer vorgefassten - oder vorgegebenen - Meinung. Ich bin aber überzeugt, dass eine solche Praxis im Miteinander von Wissenschaft und Politik die Ausnahme bildet. Die Wissenschaft hat bei uns die Freiheit, sich unseriösen Forderungen aus dem Bereich der Politik zu widersetzen - und sie nutzt diese Freiheit auch durchaus selbstbewusst. Weder der Politik noch der Wissenschaft ist gedient, wenn sich die Wissenschaft durch „Gefälligkeitsgutachten" als ernst zu nehmender Partner und Ratgeber der Politik diskreditiert.

Nach diesen Feststellungen - oder Vorbehalten, wenn Sie so wollen, - möchte ich aber ebenso deutlich erklären: Gerade die Politik ist auf eine unvoreingenommene und sachkundige wissenschaftliche Unterstützung angewiesen. Die enge Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ist für die Politik unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten nicht nur wichtig, sondern unverzichtbar. Ich will dies an vier Beispielen darlegen:

Die Politik braucht die Wissenschaft - ebenso wie Signale aus dem Bereich der Kunst - als eine Art Frühwarnsystem. Oft erkennen Wissenschaftler gesellschaftliche Entwicklungen erheblich früher als andere, und in der Regel wissen sie als erste um neue Entwicklungen etwa im Bereich der Technik oder der Medizin. Aus diesem Informationsvorsprung erwächst die Pflicht, frühzeitig auf Gefahrenquellen aufmerksam zu machen -aber auch auf die Chancen, die es zum Wohle der Menschen zu nutzen gilt. Ich erinnere nur an die Warnungen vor einer Schädigung der Ozonschicht in der Erdatmosphäre durch bestimmte chemische Substanzen. Wie Sie wissen, haben diese Warnungen weltweit Bemühungen ausgelöst, Produktion und Verwendung dieser Substanzen immer weiter einzuschränken.

Ich will ein anderes Beispiel anführen: Auch für die Wirtschaftspolitik sind Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes eine notwendige Entscheidungshilfe. Wenn es um die Lösung einmal erkannter Probleme geht, ist der Wissenschaftler als wertvoller Ratgeber gefragt. Er kann durch seine Analysen einen komplexen Zusammenhang nicht nur durchschaubar machen und so zu einem besseren Verstehen beitragen. Ebenso kann und muss er selbst Lösungsmodelle entwickeln, unter Umständen auch verschiedene Entscheidungsszenarien vorstellen. Eine solche Mitwirkung der Wissenschaft an politischen Entscheidungsprozessen ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland längst alltäglich geworden. Kaum ein wichtiges Vorhaben in der Politik wird heute noch durchgeführt, ohne dass zuvor der Rat von Experten eingeholt worden wäre. Projekte vom Umfang der Steuerreform, der Reform des Gesundheitswesens, der Rentenreform oder der Reform des Post- und Fernmeldewesens sind ohne vorbereitende und begleitende Arbeit von Sachverständigenbeiräten oder Expertenkommissionen gar nicht mehr vorstellbar.

Ich will nur ein Beispiel für eine solche - meiner Meinung nach besonders geglückte - Mitwirkung aus dem Bereich der Hochschulpolitik nennen: Bei der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes waren die Vorschläge der Expertenkommission unter Leitung von Professor Knopp eine wesentliche Hilfe, und auf vielfältige Weise sind diese Vorschläge ja auch in das Gesetz eingeflossen.

Die Wissenschaft ist aber nicht nur als „technischer" Ratgeber für ein mehr oder minder effektives politisches Management gefragt. Sie ist meiner Überzeugung nach vor allem auch gefordert, wenn es um die ethischen Maßstäbe unseres Handelns geht. Im Zusammenhang mit der Diskussion über Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin hat sich zum Beispiel gezeigt, wie wichtig es ist, rechtzeitig den Blick für die Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu schärfen - gerade dort, wo es um den Schutz der Menschenwürde geht.

Die Wissenschaft kann - neben anderen - gleichermaßen als moralische Instanz wie als Wegweiser geistiger Orientierung wirken. Hier sehe ich eine zentrale Aufgabe der Geisteswissenschaft, deren Bedeutung für die Entwicklung unseres Landes häufig unterschätzt wird. Für eine gute Zukunft brauchen wir gleichermaßen den Beitrag der Natur- wie der Geisteswissenschaften. So kann uns gerade die Geschichte helfen, uns unseren Standort zu vergegenwärtigen und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. So ist es zum Beispiel die Kenntnis der nationalsozialistischen Diktatur, die vielen, nicht zuletzt in der jungen Generation, den Wert der Freiheit erst richtig bewusst werden lässt - und auch die Notwendigkeit, sie im Inneren wie nach außen zuverlässig zu schützen. Das Wissen um die Geschichte unseres Volkes ist außerdem eine unabdingbare Voraussetzung, um das Bewusstsein für die Einheit der Nation zu bewahren und zu schärfen - im Sinne des Auftrags unseres Grundgesetzes.

Schließlich ist die Wissenschaft auch ein aufmerksamer Beobachter und Kommentator des politischen Geschehens. Sie rüstet uns theoretisch, um politische Ereignisse besser verstehen und einordnen zu können. Sie kritisiert und zeigt Schwachstellen auf. Sie hilft, Begriffe zu klären, die in der politischen Diskussion manchmal missverständlich, manchmal auch in einem völlig unterschiedlichen Sinne gebraucht werden -denken wir nur an den Begriff „Demokratie".

Vor allem kann die Wissenschaft dazu beitragen, für eine breite Öffentlichkeit Politik transparenter zu machen. Sie hat damit eine wichtige Vermittlerfunktion und wirkt als notwendige Ergänzung zu einem zwangsläufig schnelllebigen, manchmal leider auch zu oberflächlichen Journalismus. Ich wiederhole es: Wissenschaft, die sich diesen Aufgaben im Bewusstsein ihrer Verantwortung stellt, ist ein wichtiger und unverzichtbarer Partner für die Politik. Auf dieser Basis, im Wissen um Gemeinsamkeiten wie im Respekt vor den vorgegebenen und zu achtenden Grenzen, kann sich die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik für uns alle segensreich entwickeln.

Politik ist nicht einfach die Schlussfolgerung aus Demoskopie. Politik ist auch nicht einfach der Vollzug wissenschaftlicher Erkenntnisse - sie kann es nicht sein. Politik muss immer auf einer Zusammenschau beruhen. In diesem Sinne plädiere ich dafür, Berührungsängste weiter abzubauen - soweit sie bestehen. Das Miteinander von Wissenschaft und Politik sollte mehr und mehr selbstverständlich werden, damit Wissenschaftler und Politiker in gemeinsamer Pflichterfüllung dem Wohl unseres Landes und seiner Menschen dienen.