9. November 1990

Erklärung anlässlich der - gemeinsam mit dem Präsidenten der UdSSR, Michail S. Gorbatschow, in Bonn vollzogenen - Unterzeichnung des Vertrags über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR

 

Wir haben uns hier im Palais Schaumburg zusammengefunden, um gemeinsam den Höhepunkt Ihres Besuchs zu erleben: Wir unterzeichnen den ersten politischen Grundsatzvertrag, den das geeinte Deutschland schließt, den „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Wir haben dafür einen würdigen Rahmen gewählt, der die Kontinuität unserer Beziehungen widerspiegelt. Hier in diesem Raum stand bis Mitte der siebziger Jahre der Tisch des Bundeskabinetts. Hier wurde 1955 unter unserem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion beschlossen und 1970 unter Bundeskanzler Brandt der Moskauer Vertrag verabschiedet.

Der umfassende Vertrag, den wir jetzt unterzeichnen, manifestiert in dreifacher Weise unseren gemeinsamen politischen Willen:

Erstens: Wir ziehen einen Schlussstrich unter die leidvollen Kapitel der Vergangenheit und machen den Weg frei für einen Neubeginn. Dabei knüpfen wir an die guten Traditionen in langen Jahrhunderten gemeinsamer Geschichte unserer Völker an.

Zweitens: Wir eröffnen den Weg für eine umfassende Zusammenarbeit unserer Staaten und verleihen dadurch ihrem Verhältnis eine neue Qualität - eine Qualität im Interesse unserer Volker und im Interesse des Friedens in Europa.

Drittens: Wir verständigen uns, gemeinsam den großen Herausforderungen, die sich heute und an der Schwelle zum dritten Jahrtausend stellen, gerecht zu werden:

- Wir wollen jeden Krieg, ob nuklear oder konventionell, vermeiden und den Frieden wahren und gestalten.
- Wir wollen den Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik gewährleisten.
- Wir wollen das Unsere dazu beitragen, das Überleben der Menschheit zu sichern und für die Erhaltung der natürlichen Umwelt zu sorgen.
- Wir wollen nicht zuletzt den Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten in den Mittelpunkt unserer Politik stellen.

Unser Vertrag setzt diese hohen Ziele in ganz konkrete Verpflichtungen um:

- Zur Achtung der territorialen Integrität aller Staaten in Europa,
- zum Verzicht auf Androhung oder Anwendung von Gewalt,
- zur friedlichen Konfliktlösung und zum Nichtangriff,
- zu Abrüstung und Rüstungskontrolle und
- zu intensiven, umfassenden Konsultationen.

Unsere wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit hat angesichts der Reformprozesse in Ihrem Land herausragende Bedeutung. Dies wird unterstrichen durch den ebenfalls heute zu unterzeichnenden „Vertrag über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik". Dieser Vertrag ist der völkerrechtliche Rahmen für die Tatsache, dass das vereinte Deutschland - als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft - auch der größte Wirtschaftspartner der Sowjetunion sein wird. Auch für unsere Zusammenarbeit im Arbeitsund Sozialwesen wird heute eine neue vertragliche Grundlage gelegt. Mit besonderer Befriedigung erfüllt es mich, dass unser umfassender Vertrag auch die Menschen - jeden einzelnen unserer Bürger -anspricht:

- Dieser Vertrag eröffnet den Weg zu umfassender Begegnung, insbesondere der jungen Generation, und zu verstärktem kulturellen Austausch;
- er ermöglicht es den sowjetischen Bürgern deutscher Nationalität ihre Sprache, Kultur und Tradition zu wahren, und gibt uns die Chance, ihnen dabei zu helfen,
- und nicht zuletzt erfüllt unser Vertrag das zutiefst menschliche Anliegen, Gräber der Toten, wo sie auch liegen mögen, zu besuchen und zu pflegen.

So ist dieser Vertrag nicht nur eine umfassende Verständigung unserer Staaten und Regierungen, sondern auch Appell an alle unsere Bürger, ihren Beitrag zur Aussöhnung zu leisten.

Doch dieser Vertrag geht nicht nur unsere Länder und Völker an. Nach der abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland setzen wir damit einen weiteren Eckstein für die Friedensordnung in Europa.

Wir freuen uns über den gleichgerichteten Vertrag, den die Sowjetunion mit Frankreich soeben unterzeichnet hat, sowie über noch abzuschließende Verträge mit anderen westeuropäischen Partnern.

In zehn Tagen werden wir auf dem Pariser KSZE-Gipfel weitere historische Dokumente unterzeichnen, die die Abrüstung und Vertrauensbildung europaweit voranbringen und übergreifende Sicherheitsstrukturen scharfen. Kurzum: wir sind auf gutem Wege zu einem Europa des Friedens, der guten Nachbarschaft und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit.

In diesem Geist wollen wir diesen Vertrag unterzeichnen.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 133 (15. November 1990)