9. November 1992

Ansprache anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde Berlins im Reichstag in Berlin

 

Frau Bundestagspräsidentin,
Frau Präsidentin des Abgeordnetenhauses,
Herr Regierender Bürgermeister,
meine Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestags
und des Berliner Abgeordnetenhauses,
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
lieber Michail Gorbatschow!

 

Ich freue mich, dass ich heute hier die Ehrenbürgerwürde Berlins, der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands, entgegennehmen darf. Ich danke Senat und Abgeordnetenhaus sehr, sehr herzlich für diese mich bewegende Ehrung!

Diese Stadt und ihre Menschen waren mir stets nahe, wiewohl ich aus einem ganz anderen Teil Deutschlands stamme. Dieser Stadt galt immer meine besondere Zuneigung. Gerade am heutigen Tag möchte ich die Berlinerinnen und Berliner meiner ganz besonders herzlichen Sympathie versichern.

Es gibt manche in deutschen Landen, die die Direktheit der Berlinerinnen und Berliner fürchten. Ich habe diese Eigenschaft immer besonders erfrischend und sympathisch gefunden, denn sie ist Ausdruck von Courage, und davon können die Deutschen gar nicht genug besitzen.

Berlin war immer eine Hochburg der Kreativität, ein Ort der Ideen, ein Zentrum der Kultur unseres Vaterlands. So wirkte und wirkt Berlin - und dies wird auch künftig so sein - in die Welt hinaus mit Meisterwerken von Kunst und Kultur, mit wahrlich epochalen Leistungen. Dieses Berlin - ich sage bewusst: unser Berlin - steht zugleich für unsere ganze deutsche Geschichte mit all ihren Höhen und all ihren Tiefen, in ihrer Kontinuität und auch in ihren Brüchen.

Der heutige Tag, der 9. November, symbolisiert dies wie kaum ein anderes Datum deutscher Geschichte. Hier, am Reichstag, rief vor 74 Jahren Philipp Scheidemann die Republik aus. Vor 54 Jahren brannten in Deutschland - auch in Berlin - die Synagogen, und der Terror gegen unsere deutschen Mitbürger jüdischen Glaubens erreichte eine neue, eine grauenhafte Dimension.

[...] Vor drei Jahren feierten hier in Berlin viele Hunderttausende aus Berlin und aus ganz Deutschland den Fall der Mauer. In den Jahrzehnten der Teilung unseres Vaterlands war Berlin Sinnbild des Freiheitswillens aller Deutschen. [...] In diesem Geist demokratischer und freiheitlicher Tradition wird Berlin Hauptstadt und Mittelpunkt des demokratischen Deutschland heute und in Zukunft sein.

Wir wollen, dass diese wiedererstandene deutsche Hauptstadt eine Stadt des vielfältigen, des lebendigen Miteinanders ist und bleibt. Hier soll die Teilung der Gewalten in unserem Rechtsstaat ebenso zum Ausdruck kommen wie das Zusammenwirken von Legislative und Exekutive zum Wohle des Vaterlands. Mit einem Wort: Unser gemeinsames - und ich sage bewusst auch: mein besonderes - Ziel ist es, Berlin als eine liebenswerte Hauptstadt der Deutschen zu gestalten.

Die Wiedererlangung der staatlichen Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 verdanken wir vielen - nicht zuletzt dem Engagement und der Standfestigkeit der Drei Mächte: der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens und Frankreichs.

Wir sahen gerade das Bild, wie am 12. Juni 1987 Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor seine Rede hielt und dabei die sowjetische Führung aufforderte, dieses Tor zu öffnen und die Mauer niederzureißen. Der Adressat jener Forderung ist heute bei uns: Michail Gorbatschow. Und als einer, der Zeuge dieses Weges war, weiß ich aus eigenem Erleben, mit welch einem ungeheuren persönlichen Einsatz und Risiko er die Politik des „neuen Denkens" wagte und so eine Entwicklung einleitete, die zur Überwindung des Ost-West-Konflikts und damit auch zur Überwindung der Teilung Deutschlands führte. Wir - und ich im besonderen - danken Ihnen, lieber Michail.

Auch möchte ich von hier aus einen herzlichen Gruß an Ronald Reagan schicken. Ich habe es ihm in diesen Tagen in einem langen, intensiven Telefongespräch schon sagen dürfen: Ich weiß, wie er ungeachtet vieler anderer Sorgen immer an die Probleme der deutschen Teilung und vor allem, Herr Regierender Bürgermeister, meine Damen und Herren, an Ihr und unser Berlin gedacht hat. Bitte, Mr. Ryan, übermitteln Sie Ronald Reagan unsere ganz herzlichen Grüße!

Unser Dank wäre nicht vollkommen, wenn ich in dieser Stunde nicht auch ein herzliches Wort des Grußes und des Dankes an George Bush schicken würde. Er hat - wie nur wenige andere -in den entscheidenden Jahren 1989 und 1990 uns geholfen - uns, den Deutschen, den Berlinern. Er hat zu keinem Zeitpunkt gezögert, in einer Stunde der Herausforderung das Richtige zu tun. Wir schulden ihm viel, viel Dank.

Die deutsche Teilung ist seit dem 3. Oktober 1990 überwunden, aber - wir alle spüren es - die innere Einheit unseres Vaterlands ist noch lange nicht vollendet. Wir alle in Ost und West müssen uns immer bewusst sein, dass die Vollendung der inneren Einheit unseres Vaterlands weit mehr ist als eine Frage der Ökonomie oder der Sozialpolitik. Zu ihr gehört vor allem, dass wir fähig sind, auch in unseren Herzen die Folgen von über 40 Jahren der Teilung zu überwinden, mehr Verständnis füreinander aufzubringen, weniger übereinander und mehr miteinander zu sprechen, den anderen zu respektieren mit seinem jeweiligen Lebensweg. Die Deutsche Einheit muss im Alltag gelebt werden.

Ich weiß, dass dies gerade für Berlin und seine Menschen eine besondere Herausforderung mit sich bringt. Ich denke, dass dies zugleich aber auch eine große Chance für diese wunderbare Stadt ist: Es ist die Chance, in beispielhafter Weise - beispielhaft für alle Deutschen - durch Solidarität und Gemeinsinn den Boden zu bereiten für eine gute, für eine erfolgreiche Zukunft unseres Vaterlands in Frieden und Freiheit.

Einigkeit und Recht und Freiheit für unser deutsches Vaterland und für seine Hauptstadt Berlin - dafür wollen wir gemeinsam arbeiten.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 121 (11. November 1992).