9. September 1991

Rede zur Eröffnung der 8. Konferenz mit Repräsentanten der Wirtschaft und der Gewerkschaften im Bundeskanzleramt

 

I.

Seit unserem letzten Treffen am 4. Juni 1991 haben sich die politischen Ereignisse überstürzt: In der Sowjetunion haben die gescheiterten Putschisten - unfreiwillig - die August-Revolution in Gang gesetzt. Als Folge davon haben die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeit zurück gewonnen. [...] Das Ende der alten Sowjetunion ist besiegelt. Jetzt zeichnet sich eine neue Union gleichberechtigter Republiken ab - mit einem einheitlichen Wirtschafts- und Wahrungsgebiet. Gerade dies ist für uns wichtig, weil nur dann die Wirtschaftsreformen mit berechtigter Aussicht auf Erfolg angegangen werden können und westliche Hilfen nicht in einer zersplitterten Union versickern.

II.

In den neuen Bundesländern sind wir in den elf Monaten seit der Vollendung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 bereits ein gutes Stück vorangekommen. In jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen, dass in wichtigen Wirtschaftsbereichen die Talfahrt allmählich zu Ende geht und der Aufschwung bevorsteht.

Das Münchener IFO-Institut fasst die vielen positiven Mosaiksteine in seiner jüngsten Konjunkturanalyse wie folgt zusammen: „Die Talsohle dürfte bei der Industrieproduktion inzwischen erreicht sein. Von dem gegenwärtig niedrigen Niveau aus könnte es in der zweiten Jahreshälfte zu einer Belebung kommen, die sich im nächsten Jahr fortsetzen wird. Bei kräftig steigender Bauproduktion, einer Zunahme im Dienstleistungsbereich und leichten Erholungstendenzen bei der Industrieproduktion wird auch die gesamtwirtschaftliche Produktion wieder zunehmen."

Diese verbesserten Aussichten haben bereits seit dem Frühjahr zu einer anhaltenden Aufhellung der Geschäftserwartungen in den neuen Bundesländern geführt. Insbesondere werden die Exportaussichten zunehmend optimistisch eingeschätzt. Dazu dürften unsere Erfolge bei der Stabilisierung von Exporten in die Sowjetunion erheblich beigetragen haben. Die Sowjetunion hat ein Vertragsvolumen von 12 Mrd. DM in Aussicht gestellt. Derzeit sind schon Aufträge im Wert von über 9 Mrd. DM unter Dach und Fach. Insgesamt wurden bisher für zirka 6 Mrd. DM Finanzierungsvereinbarungen abgeschlossen. Damit sind die Voraussetzungen für die Lieferung geschaffen. [...]

Erhebliche wirtschaftliche Impulse für die neuen Bundesländer gehen von unserem „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" aus. Dem Kabinett hat gerade eine Zwischenbilanz vorgelegen, wonach die für 1991 vorgesehenen Mittel bereits zu über 50 Prozent in konkrete Aufträge geflossen sind. Insbesondere die kommunale Investitionspauschale hat große Resonanz gefunden und zu vielen Aufträgen an die örtliche Wirtschaft - an das Handwerk sowie an kleine und mittlere Gewerbebetriebe - geführt.

Auch beim Aufbau einer modernen leistungsfähigen Infrastruktur gibt es spürbare Fortschritte. Die Kommunikationsmöglichkeiten haben sich bereits verbessert und werden zügig ausgebaut. Die Verkehrsinvestitionen werden in den Jahren 1992 bis 1995 um 30 Mrd. DM gegenüber den bisherigen Ansätzen erhöht. Die Hälfte davon fließt in die neuen Bundesländer.

Mit welchem Elan wir an den Aufbau moderner Verkehrswege gehen, zeigt sich auch daran, dass wir zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 31. Juli 1991 bereits 10 Mrd. DM für Investitionen ausgegeben haben - mit einem Schwerpunkt bei der Bahn. Wir müssen aber auch unkonventionelle Wege gehen, um schneller die Infrastruktur in den neuen Bundesländern zu verbessern. Dazu gehört, verstärkt die Privatwirtschaft an Planung, Finanzierung, Bau und Betrieb von Infrastrukturprojekten zu beteiligen. Angesichts der knappen finanziellen Mittel und der noch bestehenden Engpässe in den Verwaltungen können gerade auch die neuen Länder und Gemeinden diesen Weg stärker als bisher beschreiten.

III.

Die Treuhandanstalt kommt bei ihrer schwierigen Aufgabe der Privatisierung und Sanierung der Betriebe immer besser voran. Nach meinem Eindruck wird in der Öffentlichkeit viel zu wenig wahrgenommen, in welch hohem Umfang die Treuhandanstalt zum Neuaufbau in den neuen Bundesländern beiträgt.

Natürlich werden die großen spektakulären Privatisierungen besonders aufmerksam registriert. Daneben sollten aber die vielen Verkäufe kleiner und mittlerer Betriebe nicht übersehen werden. Viele werden erfolgreich aus den ehemaligen Staatskombinaten ausgegliedert. Auch in die Sanierung von Unternehmen werden von der Treuhandanstalt - von vielen unbemerkt oder nicht zur Kenntnis genommen - Milliarden investiert.

Als schwierig erweist sich nach wie vor der Verwaltungsaufbau in den neuen Ländern. Dies gilt besonders für die Ämter für offene Vermögensfragen und die Grundbuchämter. Sie dürfen nicht zum Investitions- und Eigentumshemmnis werden. Mit der Vorfahrtsregelung für Investitionen haben wir zwar für Entlastung gesorgt. Gleichwohl bleibt aber im Verwaltungsbereich der Länder noch vieles zu tun, um die Bearbeitungszeiten drastisch zu senken. Ich möchte hier insbesondere auch die Ministerpräsidenten um aktive Unterstützung bitten.

Diese Bitte gilt auch für die Verkürzung von Genehmigungsverfahren bei Bauvorhaben und Industrieanlagen. Ich weiß, in einigen Ländern wird sehr zügig genehmigt. Aber anderswo dauert es länger, als es die Dringlichkeit arbeitsplatzschaffender Investitionen zulässt. Wir dürfen jedenfalls nicht in eine Situation geraten, in der Geld und Arbeitskräfte vorhanden sind, sich aber Investitionen verzögern oder gar unterbleiben, weil Genehmigungen nicht rechtzeitig erteilt werden.

Wie Sie wissen, bereitet die Bundesregierung ihrerseits eine Entschädigungsregelung für Grundstücke und ehemalige Privatbetriebe vor. Diese wird ebenfalls die Klärung offener Vermögensfragen weiter erleichtern und beschleunigen.

IV.

Sorge bereitet uns in Ostdeutschland insbesondere der Arbeitsmarkt. Positiv ist, dass die Kurzarbeit von ihrem Höchststand im April, als 2 Millionen Beschäftigte betroffen waren, inzwischen um mehr als eine halbe Million auf 1,45 Millionen zurückgegangen ist. Die Arbeitslosigkeit hat im gleichen Zeitraum um 226 000 auf 1,06 Millionen zugenommen. Das heißt: Entgegen vielen Befürchtungen hat der deutliche Rückgang der Kurzarbeit nicht zu einem gleich hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt. Aber dies ist kein Grund zur Entwarnung, wohl aber ein erfreuliches Ergebnis unserer aktiven Arbeitsmarktpolitik.

Mit unserem Angebot an Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen haben wir die Zunahme der Arbeitslosigkeit erheblich gebremst. Zur Zeit sind über 260000 Beschäftigte in ABM und weit über 300000 in beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen. Die jüngste nochmalige Aufstockung der finanziellen Mittel zugunsten von zusätzlichen ABM-Stellen trägt der großen Bedeutung dieses Instrumentes in den neuen Bundesländern Rechnung.

Jeder muss aber wissen, dass wir damit jetzt an der Grenze des finanziell Möglichen angelangt sind. Das bedeutet: Wir wollen in einer Arbeitsgruppe der Koalition auch die ABM-Konditionen noch einmal überdenken - mit dem Ziel, möglichst vielen vorübergehend eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme anbieten zu können, nicht zuletzt in den Arbeitsförderungsgesellschaften.

Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden bekanntlich von der Wirtschaft gelegentlich argwöhnisch betrachtet. Wir haben daher von Anfang an klargemacht: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dürfen privaten Betrieben keine Konkurrenz machen und den Wettbewerb nicht verzerren. Die regionalen Aufbaustäbe sollen unter anderem dafür sorgen, dass Staat und Privatwirtschaft den Neuaufbau nicht gegeneinander, sondern miteinander voranbringen.

Ein besonders erfreuliches Ergebnis unserer gemeinsamen Anstrengungen ist aus meiner Sicht: Nach den bisher vorliegenden Zahlen und Informationen können wir im Herbst mit einer ausgeglichenen Bilanz von Lehrstellenangebot und -nachfrage in den neuen Bundesländern rechnen. Das ist angesichts der wirtschaftlichen Probleme in Ostdeutschland ein großer Erfolg.

Ich danke all denen, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Für mich ist dies eine Wiederholung unseres gemeinsamen Erfolgs in den achtziger Jahren in der alten Bundesrepublik. [...] Für mich hat es zentrale Bedeutung. Denn es ist ganz wichtig, dass junge Menschen, die den Schritt aus der Schule in die Welt des Erwachsenen tun, nicht auf der Straße stehen, sondern die Chance für eine bestmögliche Ausbildung erhalten. Ich bitte Sie, jetzt nicht nachzulassen, sondern weiterhin der Ausbildung von Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

V.

Wie schnell dem sich abzeichnenden wirtschaftlichen Aufschwung auch am Arbeitsmarkt die Wende zum Besseren folgt, hängt nicht zuletzt von der Tarifpolitik ab. Ich habe großes Verständnis für den Wunsch der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern, in der Einkommensentwicklung möglichst rasch Westniveau zu erreichen.

Aber ich erinnere daran, dass es eine Lohnpolitik mit Augenmaß und Voraussicht war, die uns im Westen den raschen Neuaufbau nach dem Krieg mit ermöglicht hat. Die Arbeitnehmer sind damit gut gefahren. Jetzt ist die gesamtwirtschaftliche Verantwortung der Tarifparteien, gerade auch im Blick auf die Stabilität der D-Mark, keineswegs geringer als in jenen Aufbaujahren. Zugleich muss die Tarifpolitik in Ost und West ihren zentralen Beitrag dazu leisten, dass Produktion und Beschäftigung in den neuen Ländern bald wieder steigen. Dies ist zugleich die beste Grundlage für höhere Einkommen.

Mit großer Sorge sehe ich aber, wie sehr sich in weiten Bereichen der Lohnkostenanstieg von der Leistungsfähigkeit der Betriebe in den neuen Bundesländern entfernt. Die Gefahr für bestehende und neue Arbeitsplätze kann und darf niemand ignorieren.

Mit großem Interesse verfolge ich deshalb die Überlegungen einiger Gewerkschaften und Arbeitgeber für neue Wege in der Tarifpolitik. Die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand ist hierbei gewiss ein wichtiges Element. Ich bin sicher: Bei gutem Willen aller Beteiligten ist es möglich, gerade in dieser für Arbeitnehmer und Investoren in den neuen Bundesländern so zentralen Frage mutige Zeichen für die Zukunft zu setzen.

VI.

Bei allen ernsten wirtschaftlichen und sozialen Problemen, die wir zu lösen haben, sollten wir nie vergessen, welch einmalige Chancen uns allen das Ende der kommunistischen Herrschaft in Mittel-, Ost- und Südosteuropa eröffnet. Ganz Europa hat den Weg zu Demokratie, Frieden und Zusammenarbeit gefunden.

Vor uns liegt eine Zeit außergewöhnlicher Chancen, aber auch großer Herausforderungen. Wir können mit berechtigter Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft blicken. Das, was wir in Deutschland beim Aufbau in den neuen Bundesländern tun und leisten, kann für andere Beispiel und Ermutigung sein. Ich wünsche mir, dass Sie in diesem Sinne mit uns gemeinsam weiterarbeiten.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 99 (13. September 1991).