Deutsch-Israelische Beziehungen - die Rolle von Helmut Kohl

Michael Borchard

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„Helmut Kohl ist der Politische Enkel Konrad Adenauers“ – wer auch immer diese Zuschreibung zuerst ins Leben gerufen haben mag und welchen Anteil der „Enkel“ selbst an diesem Ehrentitel haben mag, es darf so oder so als gesicherte Tatsache gelten, dass er sich gegen diesen Satz nicht wirklich gewehrt hat. Wenn die Bezeichnung als Enkel zum Ausdruck bringen soll, dass es ebenso wichtige wie auffällige Konstanten gibt, die sich vom „Großvater“ Adenauer zum „Enkel“ Kohl ziehen, dann gilt das ganz sicher für die Israel-Politik der beiden Kanzler.

Aufgeschlossenheit gegenüber dem Judentum von Kindheit an

Für beide – die als überragende Realpolitiker mit dem untrüglichen Gespür für den richtigen politischen Moment galten – ist zunächst zu beobachten, dass für sie die Aussöhnung mit Israel nicht nur elementarer Bestandteil Ihres Bekenntnisses zur Westbindung der Bundesrepublik Deutschland war, sondern immer auch eine emotionale und moralische Komponente in sich trug, bei der auch die Beziehung zum Judentum eine wichtige und hervorstechende Rolle gespielt hat. Diese Beziehung begann bei beiden bereits in ihrer Kindheit, wobei hier auch der erste augenfällige Unterschied zutage tritt. In Adenauers Fall war es seine für damalige Verhältnisse aufgeschlossene katholische Schule, im Fall von Helmut Kohl war es das Elternhaus, oder um es noch konkreter zu fassen, die Mutter von Helmut Kohl, die den Grundstein für eine sehr positive Beziehung zu den Jüdinnen und Juden gelegt hat. Der Kohl- und Adenauer-Biograph Hans-Peter Schwarz bescheinigt ihr: „In den zwölf Jahren des Dritten Reiches hat diese unerschrockene Frau innerhalb ihrer Familie (…) wohl die ausgeprägteste Resistenz begründet.“

Als Helmut Kohl 1996 mit der Goldmedaille von B’nai B’rith International für humanitäre Verdienste ausgezeichnet worden ist, legte er diesen Einfluss in seiner Rede in sehr persönlicher Weise dar: „Als die kleine Synagoge in meiner Heimatstadt Ludwigshafen brannte, da war ich acht Jahre alt. Wir Kinder haben damals natürlich nicht verstanden, was das wirklich bedeutete – aber es ist mir doch gegenwärtig als erste Erinnerung an das, was an Furchtbarem geschah. Ich denke […] vor allem an meine Mutter. Sie war eine fromme katholische Frau, und sie erzog mich zur Achtung vor dem Judentum – in einer Zeit, in der an Schulen etwas ganz anderes gelehrt wurde. Mir ihr habe ich das erste Mal den Wormser Judenfriedhof besucht; von weitem haben wir die zerstörte Synagoge gesehen. Nach dem Krieg – als ich Martin Buber kennenlernte – habe ich begriffen, welch wunderbares Geschenk es ist, dass deutsche Juden auch nach der Katastrophe bereit waren, den Traum einer gemeinsamen Zukunft von Juden und Christen in diesem Land zu träumen.“ Mit einer Anekdote hat Salomon Korn nach dem Tod Kohls unter Beweis gestellt, dass diese Selbstbeschreibungen von Kohl alles andere als ein „geschönter Rückblick“ in eigener Sache war: Bei seinem Besuch 1984 habe den Kanzler im Diaspora-Museum in Tel Aviv ein ihm unbekannter israelischer General angesprochen und ihm gesagt: „Ich kenne ihre Mutter, und Sie kenne ich auch.“ Wie sich im Verlaufe des Gesprächs dann herausstellte, hatte Kohls Mutter auch nach dem nationalsozialistischen Boykottaufruf gegen Geschäfte mit jüdischen Eigentümern mit großer Konsequenz und einigem Mut weiterhin beim Bäcker ihres Wohnortes, einem Juden, eingekauft und dabei ihren kleinen Sohn Helmut mitgenommen. Der jetzt vor Kohl stehende General war der Sohn jenes Bäckers gewesen, der beide des Öfteren bedient hatte.

„[E]ine besondere Verantwortung für den Staat Israel und die Israelis“

Mit dieser Prägung betrachtete Helmut Kohl als Schüler und Student auch die Bemühungen Adenauers um eine Annäherung an Israel. In den Reparationen an den israelischen Staat sah er eine moralische Verpflichtung und Verantwortung. Den Nationalökonomen Franz Böhm, der sich schon vor der Machtergreifung für Jüdinnen und Juden eingesetzt hatte und der nun im Auftrag Adenauers als Delegationsleiter die Verhandlungen im niederländischen Wassenaar mit Israel und den Vertretern der Claims Conference führte, hatte der Student Helmut Kohl in Vorlesungen gehört. Eine ebenso prägende Wirkung – auch das betonte er immer wieder – hatten die Schriften Martin Bubers und das Wirken Leo Baecks auf ihn. Ebenso hat ihn, wie er selbst deutlich machte, auch das große Israel-Ereignis zu Beginn der 1960er Jahre, der Prozess gegen Adolf Eichmann, alles andere als kalt gelassen und sein Bewusstsein für die Dimension der deutschen Verbrechen während der Frankfurter Auschwitzprozesse wachsen lassen, die er damals schon als Fraktionsvorsitzender im rheinland-pfälzischen Landtag erlebte. Er schildert in seinen Lebenserinnerungen nicht nur seine Beklemmung, sondern auch seine Überzeugung, dass „wir Deutsche nach den Massenmorden, für die Auschwitz steht, immer eine besondere Verantwortung für den Staat Israel und die Israelis haben.“

Bundeskanzler Helmut Kohl empfängt den israelischen Außenminister Yitzhak ...

Helmut Kohl trat dann als Bundeskanzler mit dieser Überzeugung in die herrschende Realität der deutsch-israelischen Beziehungen ein, als diese so wichtige Verbindung einen unvergleichbaren Tiefpunkt erreicht hatte. Schon zuvor war die Euphorie der unerwartet engen Zusammenarbeit zwischen Konrad Adenauer und David Ben-Gurion, die mit ihren Verhandlungen Standards für die Beziehungen der beiden Länder gesetzt haben, die bis heute fortwirken, einem gewissen Grad der Ernüchterung gewichen. Die Kanzlerschaft Willy Brandts, auf die zunächst große Hoffnungen gesetzt worden, die aber in Enttäuschung über die Ostpolitik und die mangelnde Solidarität der Bundesrepublik während des Yom Kippur-Krieges gemündet war, hat die Historikerin Carole Fink als Jahre der „brüchigen Stabilität“ bezeichnet. Brandts Nachfolger Helmut Schmidt, der sich für die Lieferung von Panzern an Saudi-Arabien ausgesprochen hatte, wurde von Menachem Begin im Zuge seines Wahlkampfes als „loyaler Offizier Hitlers“ diffamiert, verbunden mit der ungeheuerlichen Frage, dass Begin gerne wüsste, was Schmidt mit den Juden an der Ostfront getan hätte. Das beeinflusste Schmidts Israelpolitik, der nie in das Land reisen sollte, sehr. Bemerkenswert war, dass der Oppositionsführer Helmut Kohl den Kanzler vehement gegen diese Vorwürfe verteidigt hat.

Wenngleich auch die sozialliberalen Regierungen den Beziehungen zu Israel zweifelsohne einen wichtigen Rang eingeräumt hatten, so hat der britische Verleger Lord George Weidenfeld, einer der engsten Vertrauten des ersten israelischen Staatspräsidenten Chaim Weizmann, gerade den Einsatz von Helmut Kohl für Israel in einer Publikation 2005 rückblickend geradezu euphorisch charakterisiert und in die Tradition seiner christlich-demokratischen Amtsvorgänger gestellt: „Für das Verhältnis der Bundesrepublik zum Staate Israel bedeutete die Ära Kohl eine grundlegende Verbesserung. Konrad Adenauer tat den ersten großen Schritt auf deutscher Seite, um den schwierigen und langwierigen Versöhnungsprozess zwischen Deutschen und Juden, Deutschland und Israel einzuleiten. Ludwig Erhard beschleunigte diesen Prozess durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen […]. Helmut Kohl jedoch vertiefte das Verhältnis der beiden Länder. Sein nachdrückliches Engagement für gegenseitige Verständigung überzeugt durch Herzlichkeit und Ehrlichkeit. Sein aufrichtiges Gefühl der Sympathie geht weit über den Zusammenhang von Schuld und Sühne hinaus. Es entspringt einer ganz natürlichen Zuneigung zu Juden“.

Kohls erster Israel-Besuch 1984 und die „Gnade der späten Geburt“

Bundeskanzler Helmut Kohl besucht die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. ...
Bundeskanzler Helmut Kohl wird von Präsident Chaim Herzog in dessen ...

Der erste Besuch des Kanzlers in Israel ist trotz dieser positiven Zuschreibung auch bis in die Gegenwart vielfach als problematisch, manchmal gar als ein „Fehlschlag“ betrachtet worden. Das lag an jener Formulierung, die wie kaum ein anderes Bonmot Kohls ambivalent gezeichnet, aber auch missinterpretiert worden ist: An der „Gnade der späten Geburt“. Schon Äußerungen Kohls vor der Abreise nach Israel zeigen, dass es Helmut Kohl niemals um einen Schlussstrich ging: Man könne Schlimmes, was „in Auschwitz und Treblinka geschehen ist, nicht wiedergutmachen, Blut Tränen, Not, Elend und viel Leid. Aber wir können mit unseren schwachen Mitteln einen neuen Anfang wagen“. Nicht nur, dass der Journalist Günter Gaus Kohl später wegen angeblichen Plagiats vor den Kadi zerren wollte, obgleich nachweisbar ist, dass Helmut Kohl diese Redewendung schon lange vor ihm genutzt hat, sondern die Äußerung  Kohls in Jerusalem löste noch während des Besuches eine ausschließlich negative Berichterstattung in der Bundesrepublik aus.  

Der Kohl-Biograph Henning Köhler, der Kohl in seinem Buch nicht kritiklos betrachtet, nimmt Kohl gegen den Vorwurf, der Besuch 1984 sei gescheitert, sehr eindeutig in Schutz unter Nennung der „Verdächtigen“: Die Journalisten seien vornehmlich darauf erpicht gewesen, über vermeintliche „Pannen und Peinlichkeiten des Kanzlers zu berichten“. Er nennt den Ausspruch Kohls eine „Formel der Bescheidenheit“. Mit Selbstgewissheit habe das nichts zu tun gehabt. Die Journalisten hingegen hätten erst gar nicht versucht, „die Positionen des Kanzlers darzustellen und seine Politik verständlich zu machen, sondern es wird ein Bild montiert, das Kohl als Gegner Israels, schlimmer noch als Verharmloser der NS-Verbrechen und als revisionistischen Politiker zeigt, der den Deutschen die Schuldgefühle nehmen wolle.“ Diese Lesart seiner Äußerungen zur „späten Geburt“ in Israel werden damals und bis heute in die Nähe des „sekundären Antisemitismus“ gerückt, zunächst von Peter Glotz, der Kohl vorwarf, er habe das Kainsmal tilgen wollen und damit einen Bann gebrochen. Vor wenigen Jahren hat der Historiker Jacob S. Eder mit Bezügen auf den angeblichen Versuch der Kohl-Regierung, Einfluss auf die Konzeption des United States Holocaust Memorial Museum zu gewinnen, in diesem Sinne die Behauptung aufgestellt: „Das Bekenntnis zu Israel werde zur Ersatzhandlung, die das Sprechen über den Holocaust überflüssig machen solle“. Diese Äußerung steht in einem krassen Gegensatz zu den Einschätzungen des renommierten Historikers Andreas Wirsching, der in Aufsätzen herausgearbeitet hat, wie wichtig Kohl eben dieses Sprechen über den Holocaust war. Zeitlebens war Kohl „zu starker Empathie für die Holocaust-Opfer fähig und häufig fand er hierfür eindrucksvolle Worte“ Seine Haltung zu Israel habe das massiv beeinflusst.

Wenngleich auch in israelischen Zeitungen ebenfalls kritisch auf die „Gnade der späten Geburt“ geschaut worden ist, so hat doch die Israelis ganz andere Sachverhalte umgetrieben. Zum einen war man unglücklich über die Tatsache, dass Helmut Kohl nicht, wie ursprünglich geplant, zunächst 1983 Israel und dann von dort kommend die arabischen Staaten besucht hatte, sondern umgekehrt vorgegangen war. Das hatte freilich mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Begin zu tun, der drei Tage vor dem ursprünglich geplanten Eintreffen des Kanzlers im August 1983 sein Amt niedergelegt hatte. Hingegen rechnete man es dem neuen Kanzler hoch an, – anders als sein Vorgänger – überhaupt und zu einem so frühen Zeitpunkt seiner Amtszeit nach Israel zu kommen. Ganz besondere Sorge aber rief nicht die Verschiebung des Besuches hervor, sondern die Bereitschaft der Bundesregierung, mit Saudi-Arabien den Verkauf von deutschen Rüstungsgütern zu erörtern. Kohl hatte zwar den anvisierten Verkauf von Leopard II-Panzern an Saudi-Arabien abgelehnt, war aber bereit, zumindest über defensive Waffen mit den arabischen Politikern zu sprechen. Auch dass sich Kohl ganz in der Kontinuität von Helmut Schmidt kritisch über das Abkommen von „Camp David“ geäußert hatte, stieß in Israel auf Kritik, weil man befürchtete, dass ein Neuanfang der Beziehungen ausbleiben würde.

Der israelische Historiker Amir Bar-On konstatiert hingegen, dass schon der erste Besuch Kohls dabei geholfen habe, „das Verständnis der beiden Länder von der empfindlichen, emotionsgeladenen Ebene unter Begin und Schmidt auf eine pragmatische Ebene zu führen.“ In der Tat hat dann in den folgenden Jahren nach dem Besuch die Israelpolitik von Helmut Kohl in mehrfacher Hinsicht konkrete pragmatische Akzente gesetzt, die nicht nur an die Politik Adenauers angeknüpft, sondern seine Ansätze, vor allem im Bereich der wissenschaftlichen und militärischen Kooperation, auch in neue Dimensionen geführt hat. Da ist erstens die konsequente Heranführung Israels an die Europäische Union, die sich in keinem Feld so intensiv ausgewirkt hat wie im Bereich der wissenschaftlichen Kooperation. Dass das kleine Flächenland Israel heute eine Forschungs- und Wissenschaftsgroßmacht ist, das wäre ohne die durchaus außergewöhnliche Tatsache, dass das Land Anteil an den Horizon-Programmen der EU hat, nur schwer vorstellbar.

Skepsis in Teilen der israelischen Regierung und Öffentlichkeit gegenüber der Deutschen Einheit

Helmut Kohl mit Shimon Peres, 23. Oktober 1985.

Von noch profunderer Bedeutung ist die Entscheidung Kohls, die militärische Zusammenarbeit in einer nicht dagewesenen Form zu intensivieren und damit einen entscheidenden Beitrag zur Sicherheit Israels zu leisten. Bereits im Jahr 1989 wurde ein trilateraler Vertrag zwischen den USA, Deutschland und Israel über den Bau eines hochmodernen U-Bootes der „Dolphin-Klasse“ unterzeichnet, aus dem die USA aber wieder ausstiegen. Während des zweiten Golfkrieges, als der Irak Scud-Raketen auf Israel richtete und abfeuerte, sagte die Regierung Kohl den Bau zweier weiterer U-Boote zu. Die ersten beiden Boote wurden zu 85 Prozent durch Deutschland finanziert, das dritte U-Boot zu 50 Prozent. Zwar hatte Deutschland sich schon zuvor unter der sozialdemokratischen Regierung an der Finanzierung von britischen U-Booten beteiligt, die für Israel gebaut wurden, aber diese Waffenhilfe hatte eine völlig neue Qualität. Auch die beiden unmittelbaren Nachfolger von Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel, setzten diese Politik mit dem Bau von insgesamt drei weiteren U-Booten fort. Dieser Schritt war deswegen bedeutsam und nicht ohne erhebliches politisches Risiko, weil offensichtlich war, dass die U-Boote trotz aller Beteuerungen Israels, nicht über Atomwaffen zu verfügen, Teil der nuklearen Abschreckung des Landes gegenüber einem vernichtenden Erstschlag waren.

Diese politischen Schritte untermauerten das Bild von Helmut Kohl, das der Journalist Jürgen Leinemann – halb bewundernd, halb spöttisch – die „verkörperte Entwarnung“ genannt hat. Dass Kohl in Israel schnell nach seinem Besuch von 1984 als verlässlich, glaubwürdig und vertrauenswürdig galt, half jene Sorgen zu zerstreuen, die mit der deutschen Wiedervereinigung massiv geäußert wurden und in einem Interview von Ministerpräsident Jitzhak Schamir in einer Form zum Ausdruck gebracht worden ist, die nicht allein von Kohl mit Befremden aufgenommen worden ist. Schamir hatte auf Nachfrage etwas ungelenk, aber doch eindeutig gesagt: „Wir alle erinnern uns an das, was das deutsche Volk, an was die Deutschen uns angetan haben, als sie vereint und stark, militärisch stark waren, und das deutsche Volk, die Mehrheit des deutschen Volkes, entschieden hat, Millionen des jüdischen Volkes zu töten. Und ein jeder von uns könnte meinen, dass, wenn sie wieder die Gelegenheit hätten und sie das stärkste Land in Europa, und vielleicht sogar in der ganzen Welt sein werden, sie es wieder zu machen versuchen werden.“ Damit brachte er zum Ausdruck, was die breite Öffentlichkeit in Israel bewegte: Wie wird sich Deutschland als wieder deutlich stärkere Zentralmacht im Herzen Europas verhalten? Bestand eine Rückfallgefahr in alte Muster? Schon im Februar 1990 hielt der israelische „Falke“, Außenminister Moshe Arens, die Wiedervereinigung zwar für unabänderlich, aber keineswegs für bedrohlich für den Rest der Welt, was auch damit zu tun hatte, dass man mit Kohl an Kontinuität glaubte und keine Brüche zu befürchten hatte.

Begegnung mit Jitzhak Rabin und zweiter Israel-Besuch im Jahr 1995

Premierminister Yitzhak Rabin und Bundeskanzler Helmut Kohl geben eine ...
Nahost-Friedensgespräche in Bonn mit ...
Bundeskanzler Helmut Kohl empfängt den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu im...

Spuren hinterlassen hat die Politik Kohls und die Verlässlichkeit seiner Regierung aber auch im Bereich der Friedensdiplomatie. Aktenfunde und Zeitzeugengespräche zeigen, dass Helmut Kohl die Annäherung zwischen Jordanien und Israel und den Friedensvertrag zwischen den beiden Ländern massiv unterstützt hat. Von nicht geringer Bedeutung war auch die Unterstützung, die die Regierung von Helmut Kohl bei den Verhandlungsbemühungen um die Freigabe des Piloten Ron Arad geleistet hat, der nach dem Absturz seines Kampfflugzeuges im Libanon vermutlich im Iran festgehalten worden ist. Dabei hat ein Missverständnis, wie der damalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor zu berichten weiß, in besonderer Weise zur guten Beziehung zwischen Helmut Kohl und Ytzhak Rabin beigetragen. Rabin hatte damals der Bundesregierung vorgeworfen, sie instrumentalisiere diese Unterstützung, um auf diesem Wege die Beziehungen zum Iran zu intensivieren. Das empörte Kohl, der gar erwogen habe, seinen für 1995 geplanten Besuch in Israel abzusagen. Rabin habe damals seinen Fehler eingesehen und sich für eine Geste entschieden, die bei Kohl tiefen Eindruck hinterlassen habe. Er sei spontan nach Bonn geflogen und habe sich dort mit ihm in Bonn im Kanzlerbungalow zum Abendessen getroffen. „Dieser Abend“, so Avi Primor, „hat eine ungeahnte Freundschaft zwischen Rabin und Kohl entfacht. Das Eis war gebrochen - und zwar ganz unverhofft. Leider nur für eine kurze Zeit, weil Rabin Ende 1995 ermordet wurde.“ Tatsächlich hat Kohl gegenüber Avi Primor in einem Gespräch deutlich gemacht, was diese personelle Konstellation für ihn bedeutete: „Jitzhak Rabin ist der erste israelische Premierminister, vor dem ich überhaupt keine Hemmungen habe.“ Diese positive Stimmung prägte den zweiten offiziellen Staatsbesuch Kohls in Israel im Jahr 1995. Dieser Besuch war anders als der erste des Jahres 1984 von einer außergewöhnlichen Herzlichkeit und von einer Atmosphäre geprägt, die der mitreisende Präsident des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, als „bemerkenswert“ charakterisiert hat.

Auch wenn sich die Beziehungen unter Benjamin Netanjahu, der durch ein Misstrauensvotum gegen den Rabin-Nachfolger Shimon Peres im Juni 1996 an die Macht kam, trotz Bemühungen von Seiten Kohls nicht einfacher gestaltet haben, machte er für den Rest seiner Amtszeit aus seiner Begeisterung für Israel und seiner Verbundenheit mit dem Land keinen Hehl. In den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft maß er diesen Beziehungen hohes Gewicht zu.

Nach seiner Abwahl besuchte Kohl 1999 Jerusalem und ähnlich wie beim Besuch Adenauers 1966 wurde er wie ein Staatsgast empfangen. Seit mehr als 25 Jahren existiert an der Hebräischen Universität in Jerusalem ein Helmut-Kohl-Institut – eine noch immer nicht ganz alltägliche Ehrung, die ungewöhnlicherweise noch in seiner Amtszeit ausgesprochen wurde und die ein augenscheinliches Beispiel dafür ist, dass der Beitrag Kohls zu den bilateralen Beziehungen sehr hoch eingeschätzt wird.

Helmut Kohl: Erinnerungen 1930-1982, München 2004.

Helmut Kohl: Dankesrede anlässlich der Verleihung der „Goldmedaille für humanitäre Verdienste“ des B’nai B’rith International am 25. Januar 1996 (25. Januar 1996 (bundeskanzler-helmut-kohl.de).

Avi Primor: Nichts ist jemals vollendet. Die Autobiographie, Köln 2015.

Avi Primor: „…mit Ausnahme Deutschlands“. Als Botschafter Israels in Bonn, Berlin 1997. 

Amir Bar-on: Israel und Deutschland, Deutschland und Israel 1982-1998. Interessen, Einstellungen und Politik, Frankfurt/Main 2008.

Michael Borchard: „Die Gnade der späten Geburt“ – ein missinterpretierter Satz und das Geschichtsbild von Helmut Kohl, in: HPM 27 (2020), S. 299-314.

Michael Borchard: Eine unmögliche Freundschaft. David Ben-Gurion und Konrad Adenauer, Freiburg 2019.

Carole Fink: West Germany and Israel. Foreign Relations, Domestic Politics, and the Cold War, 1965-1974, Cambridge 2019.

Niels Hansen: Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion. Ein dokumentierter Bericht. Mit einem Geleitwort von Shimon Peres, 2. Auflage,  Düsseldorf 2004 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 38).

Jenny Hestermann: Inszenierte Versöhnung. Reisediplomatie und die deutsch-israelischen Beziehungen von 1957 bis 1984, Frankfurt a. M./New York 2016 (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 28).

Henning Köhler: Helmut Kohl. Ein Leben für die Politik. Die Biografie, Köln 2014.

Mordechay Lewy: Helmut Kohl und die deutsch-israelischen Beziehungen aus israelischer Perspektive, in: HPM 23 (2016), S. 229-240.

Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012.

Lord George Weidenfeld: Dialog mit dem europäischen und internationalen Judentum, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): Ein Leben für Deutschland und Europa. Helmut Kohl - Stationen eines politischen Lebens, Düsseldorf 2005, S. 55-61.

Markus A. Weingardt: Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949, Frankfurt a. M./New York 2002. 

Andreas Wirsching: Helmut Kohls Israelbild - Historisches Erbe, politische Verpflichtung, in: HPM 23 (2016), S. 215-228.

Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1990, München 2006 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 6).