März 1975

Unabhängig, aber partnerschaftlich kooperieren

 

Interview mit der „Herder Korrespondenz"

HK: Herr Dr. Kohl, Bundeskanzler Schmidt hat in seiner, wie man hört, von Kirchenmännern vieldiskutierten Rede zum letzten Reformationstag in St. Jacobi in Hamburg gleich eingangs festgestellt, das Verhältnis von Kirche und Staat sei kein „tatsächlich aktuelles Thema". Wie aktuell ist das Thema für den Vorsitzenden der CDU?

KOHL: Liest man den Wortlaut der von Ihnen erwähnten Äußerung des Bundeskanzlers genau nach, so zeigt sich eine kleine, aber - wie ich meine - wichtige Nuance. Helmut Schmidt hat, nach eigenen Worten „als Christ", der natürlich nicht von dem Staatsamt absehen könne, das er verwalte, gesagt, das Thema „Staat und Kirche" erscheine ihm „nicht als ein tatsächlich aktuelles Thema", weil das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat nach seiner Meinung „deutlich besser und deutlich freiheitlicher beschaffen" sei „als in den allermeisten Phasen und Abschnitten der deutschen Geschichte". Vor allem dieser letzten Aussage von Helmut Schmidt stimme ich grundsätzlich zu. Allerdings füge ich hinzu, dass dieses Wort natürlich im Zusammenhang der damals aktuellen innenpolitischen Diskussion im Anschluss an die FDP-Thesen über „Freie Kirchen im freien Staat", das sogenannte Kirchenpapier der FDP, zu sehen ist. Erst dadurch wurde diese Meinung Schmidts beachtenswert.

HK: Welche Bedeutung hat das Thema für Sie und Ihre Partei?

KOHL: Als Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands muss ich sagen, dass das Verhältnis von Kirchen und Staat für mich und auch für meine Partei immer ein aktuelles Thema ist, weil beide in dem Beziehungsverhältnis gegenseitiger Einwirkung stehen. Das Verhältnis von Kirchen und Staat sollte kein erlesenes Thema für Jahrhundertfeiern und Sonntagsreden sein. Für die CDU ist es nicht zuletzt deswegen ein ständiges Thema, weil es geradezu exemplarische Bedeutung für das Verhältnis von Staat und pluraler Gesellschaft hat und weil wir viele und die wichtigsten unserer politischen Zielsetzungen an christlichen Maßstäben messen und somit auf den Dialog mit den Kirchen angewiesen sind. Die CDU hat in zahlreichen programmatischen Aussagen den besonderen Stellenwert dieses Themas betont. Aktuell ist das Thema derzeit allerdings insofern überhaupt nicht, als ich in einer radikalen Veränderung des bewährten Verhältnisses von Staat und Kirchen auf absehbare Zeit keinen Sinn und beiderseitigen Nutzen sehe.

HK: Wenn die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat nicht in dem Sinne aktuell ist, dass in der Bundesrepublik unmittelbar mit einem Bruch zu rechnen wäre oder ein solcher bevorstünde, so fehlt es doch nicht an Reibungspunkten, und man hat insgesamt den Eindruck, das Verhältnis Kirche-Staat sei in modernen Demokratien nicht viel weniger schwierig als in den Rivalitätskämpfen zwischen Päpsten und Kaisern im Mittelalter. Kommt dies daher, dass die Kirche noch nicht zu ihrer Rolle im demokratischen Staat gefunden hat, oder wissen die den Staat tragenden gesellschaftlichen Kräfte die Kirchen nicht sachgemäß einzuordnen?

KOHL: Ich halte den Vergleich mit den Rivalitätskämpfen zwischen Päpsten und Kaisern im Mittelalter mit den heutigen Schwierigkeiten zwischen Kirchen und Staat für absurd...

HK: Der Vergleich mit der Rivalität mag wenigstens für unsere Breiten absurd sein, der Hinweis auf den Schwierigkeitsgrad ist es wohl nicht...

KOHL: Wir haben heute im Verhältnis von Kirchen und Staat völlig andere Voraussetzungen. Nach meiner Überzeugung haben die Kirchen in ihrer langen und für sie auch nicht immer irrtums- und schmerzfreien Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland durchaus ihre adäquate Rolle im demokratischen Staat gefunden. Dagegen gibt es seit einiger Zeit in unserer Gesellschaft verschiedene Gruppen, die aus einer überholten Staats- und Gesellschaftsauffassung und aus einem antikirchlichen, ja antireligiösen Denken heraus die Kirchen soweit wie möglich aus der gesellschaftlichen Gleichberechtigung und Konkurrenz verdrängen möchten. Diesen Gruppen scheint viel daran zu liegen, das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Staat und Kirchen zu stören, wenn nicht gar zu zerstören. Die CDU widersetzt sich selbstverständlich solchen pluralitäts- und demokratiefeindlichen Bestrebungen.

HK: In einem Papier des politischen Beirats des ZDK zur Rolle der Kirchen im heutigen Verfassungsstaat wird der Grundauftrag der Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft bestimmt als Aufgabe, „den Transzendenzbezug öffentlich und speziell im Bereich der Verfassungsordnung zu repräsentieren". Ist aber eine Gesellschaft, die vornehmlich auf die Verwirklichung innerweltlicher Ziele - realistischer und utopischer - gerichtet ist, überhaupt in der Lage, sich eine solche Repräsentanz zu eigen zu machen, oder führt nicht schon allein die Säkularität der Gesellschaft in einem, wie man sagt, nachchristlichen Zeitalter langfristig - wenn Sie so wollen - von einer positiven zu einer negativen Neutralität des Staates gegenüber den Kirchen?

KOHL: Das Gerede vom sogenannten nachchristlichen Zeitalter ist eine Formel, die vorzugsweise von jenen Gruppen, von denen ich eben sprach, in Umlauf gesetzt wird, um ihren Absichten den Anschein einer Begründung zu geben. Wie oft hieß es schon in den letzten 150Jahren, das Christentum sei am Ende und die Kirchen seien ein fossiles Gebilde. Am Ende waren dann früher oder später jene Philosophen, Ideologen oder Demagogen selbst angelangt, die meinten, mit ihnen beginne das neue Zeitalter. Die Aufgabe, die der Politische Beirat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken den Religionsgemeinschaften in Staat und Gesellschaft in Bezug auf unsere Verfassungsordnung zuschreibt, ist nach meiner Überzeugung unverzichtbar, wenn der Staat freiheitlich sein und bleiben soll. Wo die transzendente Dimension, wie immer sie der einzelne persönlich verstehen mag, unterentwickelt ist oder gar unterdrückt wird, da setzt sich der Staat absolut und wird zum Instrument der totalitären Unterdrückung. Ohne Transzendenz gäbe es ja keine unabdingbaren Richtwerte, von denen aus Maßstäbe eingebracht werden könnten, die Verfassung, Staat und Gesellschaft unbedingt vorgegeben sind. Ohne Transzendenz gibt es auch keine wirklich stichhaltige Begründung für die Achtung vor der Menschenwürde, die Achtung vor der Unverfügbarkeit des Mitmenschen, die Achtung vor dem Leben. Transzendenz befähigt den einzelnen, die staatliche Ordnung unabhängig mit gestalten und kritisieren zu können. Sie gibt ihm Rückendeckung gegenüber den Ansprüchen des Staates und den Mächten der Gesellschaft, die nicht gerechtfertigt sind.

HK: Aber ist die institutionelle Verkörperung dieses Bezugs von der Gesellschaft her gesehen nicht sehr schwierig?

KOHL: Der Transzendenzbezug muss auch institutionell repräsentiert werden. Das geschieht in unserem Kulturkreis vor allem durch die christlichen Kirchen. Der säkulare Staat, das heißt der Staat, der selbst weltanschaulich und religiös neutral ist, ist wohl zur Distanz gegenüber den Kirchen und ihren Repräsentanten verpflichtet. Er kann aber den transzendentalen Werten gegenüber, die sie repräsentieren, nicht indifferent sein.

HK: Sie haben, wie Ihre Partei insgesamt, seinerzeit die Forderungen der von Ihnen vorhin zitierten FDP-Thesen über „Freie Kirche im freien Staat", die auf eine weitgehende Privatisierung von Kirche und Religion hinauslaufen, als „unzeitgemäßen Rückfall in frühliberales Gedankengut" abgelehnt. Sie haben jedoch zugleich zu erkennen gegeben, es gebe Fragen im Verhältnis von Kirche und Staat, über die man sprechen solle, und wo Änderungen angebracht seien. Was hatten Sie dabei konkret im Auge?

KOHL: Nun, der einzelne und die Gemeinschaft wandeln sich wie die Bedingungen, unter denen sie leben. Deshalb gibt es ständig Fragen, die zwischen Kirchen und Staat diskutiert und verhandelt werden müssen. Das liegt auch ganz einfach daran, dass diese beiden Institutionen, die jeweils mit einem spezifischen Auftrag und Anspruch ausgestattet sind, es mit denselben Menschen zu tun haben und dass sich ihre Ansprüche in vielen Bereichen begegnen und überschneiden. Zum Beispiel zeigen die zahlreichen Konkordatsänderungen, die in den vergangenen Jahren nach Verhandlungen im gegenseitigen Einvernehmen vorgenommen wurden, dass hier ein ständiger Dialog im Gange ist. Bereiche, in denen Änderungen angebracht sein könnten, sind etwa die Beibehaltung oder Abschaffung bischöflicher Eide auf die Verfassung und die Überlegung, ob Theologiestudenten weiterhin generell vom Wehrdienst oder einem anderen sozialen Dienst freigestellt werden sollen.

HK: Was halten Sie von dem Vorschlag beziehungsweise von der Forderung der FDP, für die Kirchen und die anderen Großverbände ein eigenes Verbandsrecht „oberhalb der Vereinsebene", wie es hieß, zu schaffen?

KOHL: Bisher gibt es nicht einmal ansatzweise eine Vorstellung, wie ein solches Verbandsrecht aussehen könnte. Im übrigen ist nicht ausreichend begründet worden, warum die Kirchen einen anderen Rechtsstatus erhalten sollen. Sie haben einen Status, der sich bewährt hat, der der Verfassungsordnung entspricht und deren Verwirklichung fördert. In einer bestimmten Weise gehören natürlich auch die Kirchen zu den gesellschaftlichen Großgruppen. Aber diese Seite ihres Wesens ist nicht die eigentlich entscheidende. Auch der weltanschaulich neutrale Staat -ja selbst ein militant antikirchlicher Staat - muss erkennen, dass die Kirchen im letzten Aufgaben zu erfüllen haben, die mit denen etwa einer Gewerkschaft, einer Partei, einer sozialen oder kulturellen Vereinigung nicht verglichen werden können.

HK: Ein Paradethema in allen Gesprächen über Kirche und Staat ist die Kirchensteuer. Es gibt Strömungen, verkörpert unter anderem durch die FDP-Thesen, die den staatlichen Kirchensteuereinzug für ein dem Gleichheitsgrundsatz und der Unabhängigkeit von Kirche und Staat widersprechendes Privileg halten. Es gibt Stimmen aus dem politischen Raum, die sich entschieden gegen die Abschaffung wenden, weil eine finanzielle Schwächung der Kirchen nicht nur nicht im Sinne einer größeren Unabhängigkeit der Kirchen, sondern auch nicht im Sinne der öffentlichen Hände sei. Manche, auch in den Kirchen selbst, aber fragen sich, ob es der Kirche gut bekommt, wenn sie sich zu einem Gutteil von Menschen finanzieren lässt, die zwar Kirchensteuer zahlen, die aber sonst kaum einen Bezug zu ihrer Kirche haben. Wie stellt sich für Sie das Problem Kirchensteuer?

KOHL: Unser Staat lebt davon, dass die einzelnen Bürger und die gesellschaftlichen Gruppen ihren Beitrag zum Wohl des Ganzen leisten können und auch tatsächlich leisten. Die Kirchen haben in dieser Hinsicht besondere Aufgaben. Sie vermitteln Wahrheiten, Wertauffassungen und Sinngebungen, die für ein Gemeinschaftsleben fundamental sind. Darauf beruhen zu erheblichen Teilen Geschichte und Kultur unseres Volkes. Darüber hinaus haben sich die Kirchen von ihrem Auftrag und ihrem Bild des Menschen her verpflichtet gefühlt, den Menschen nicht nur Orientierung zu vermitteln, sondern in Not geratenen Mitbürgern konkret zu helfen. Dabei geht es nicht nur um Leistungen, die theoretisch vielleicht heute von staatlichen Institutionen übernommen werden könnten, sondern nach wie vor um Hilfen, bei denen die personale Begegnung und die geistige Einstellung unabdingbare Voraussetzung erfolgreichen Wirkens sind. - Es wäre eine Verarmung unseres öffentlichen Lebens, wenn ausgerechnet die Kirchen ihren karitativen und weitgehend selbstlosen Beitrag einstellen oder stark zurückschrauben müssten, weil die für ihre öffentliche Wirksamkeit in Erziehung, Bildung, Sozialarbeit und auch Wissenschaft erforderlichen Mittel heute fehlen. Wer sich daher angeblich um die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes und der Unabhängigkeit von Kirchen und Staat sorgt, aber diese Zusammenhänge nicht sieht, beweist damit nur ideologische Voreingenommenheit.

HK: Dennoch gibt es Bedenken - in der evangelischen Kirche, aber auch bei Katholiken - gegen eine „Fremdfinanzierung" durch Mitglieder, die der Kirche ökonomisch eine Basis schaffen, die sie personell und geistig möglicherweise nur unzureichend ausfüllen kann... KOHL: Ich verstehe nicht, warum es den Kirchen schaden sollte, wenn sie für Leistungen, die der Allgemeinheit zugute kommen, Kirchensteuer auch von denen erhalten, die ihnen fernstehen. Wir leben in einem Staat, in dem niemand in Organisationen oder Parteien hineingezwängt wird. Umgekehrt besagt diese Freiheit auch, dass man die Konsequenzen ziehen kann, wenn man die Folgen der Mitgliedschaft nicht mehr tragen will.

HK: Wird die Tatsache, dass nach der Steuerreform vom 1.1. 1975 über ein Viertel aller Berufstätigen aufgrund der steuerlichen Entlastung der unteren Gehälter überhaupt keine Kirchensteuer mehr zahlen, nicht zu einem zusätzlichen Argument gegen den staatlichen Einzug beziehungsweise gegen die Bindung an staatliche Steuersätze?

KOHL: Das ist ein Problem der Kirchen, nicht des Staates. - Man kann den Standpunkt vertreten, dass die Kurve der Einkommensbesteuerung in etwa dem Prinzip der Gerechtigkeit der Besteuerung entspricht. Zwischen den zuständigen staatlichen Stellen und den beiden großen Kirchen ist vereinbart worden, dass die Situation der Familie bei der Berechnung der Kirchensteuer berücksichtigt wird. Nach der Neuregelung der Einkommensteuer spielt die Zahl der Kinder bei der zu zahlenden Einkommen- und Lohnsteuer keine Rolle mehr. Der Familienlastenausgleich wird nun über direktes Kindergeld verwirklicht. Folglich musste eine für die Familien mit Kindern negative Regelung bei der Kirchensteuer vermieden werden. Die daher mit den Kirchen getroffenen Vereinbarungen sind für die Familien günstig. Auf Kosten der Kirchen und mit ihrem Einverständnis geht dieser familienpolitische Effekt weit über das hinaus, was die sogenannte Steuerreform zur Verbesserung des Familienlastenausgleichs bewirkt hat. - Beide Auswirkungen, die zu der von Ihnen genannten Entlastung beziehungsweise Befreiung von der Kirchensteuerzahlung führen, beruhen nicht auf ungerechten Regelungen. Nur in diesem Fall könnte ich darin ein Argument gegen die Bindung der Höhe der Kirchensteuer an staatliche Steuersätze sehen.

HK: Sie definierten das Verhältnis zwischen staatlichen und freien Trägern im Sozialbereich einmal als „Kooperation in Freiheit und Vielfalt", bei der niemand einen Ausschließlichkeitsanspruch zu stellen habe. Gilt für Sie das Subsidiaritätsprinzip beziehungsweise seine Anwendung auf staatliche beziehungsweise kommunale und auf freie Träger noch in der bisherigen Form, oder plädieren Sie - wie auch manche Vertreter in der evangelischen Kirche - für eine Umkehrung in dem Sinn, dass der Staat zunächst für den unkonditionierten Zugang aller zu den diversen Bildungs- und Wohlfahrt Seinrichtungen zu sorgen hat und den freien Trägern nur innerhalb dieses Rahmens Chancen bleiben?

KOHL: Hier konstruieren Sie einen Scheingegensatz. Das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre bedeutet nicht: Immer und zuerst haben freie Träger den Vorrang, und erst wenn sie ihren Aufgaben nicht gewachsen sind, dann springt helfend und ausgleichend der Staat ein. Der Staat hat unbestritten die Verpflichtung zur allgemeinen Daseinsvorsorge. Er muss handeln und eventuell auch die Voraussetzungen schaffen, dass erforderliche Einrichtungen geschaffen werden können. Dabei soll er partnerschaftlich mit den freien Trägern kooperieren. Sie müssen aber auch selbst initiativ werden können.

HK: Es gibt im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen Hinweise auf Sachzwänge, die besagen, dass die Kirchen gar nicht mehr die nötigen personellen und Sachmittel aufbringen werden, um im bisherigen Maße präsent sein zu können. Es gibt - wie wir bereits andeuteten -Warnungen auch von innerhalb der Kirchen, das Konto der eigenen Kraft nicht zu überziehen, zum anderen aber auch die Forderung selbst von außerhalb der Kirchen, im diakonischen und im Bildungsbereich ja nicht abzubauen. Deshalb nochmals die Frage: Ist die Kirche in den Augen des Politikers gut beraten, wenn sie unabhängig von der Frage, wieweit die Bevölkerung vornehmlich nur den sozialen und nicht auch den religiösen Einsatz, das heißt die kirchliche Verkündigung, goutiert, ihren diakonischen Aufgaben nachkommt?

KOHL: Ich habe schon skizziert, wie ich die Mitwirkung der Kirchen in den Bereichen der Bildung, des Sozial- und des Gesundheitswesens sehe. Die Sachzwänge, die Sie ansprechen, wirken sich dort schwerwiegend aus, wo etwa der zunehmende Mangel an Ordensschwestern zur Schließung von Kliniken, Altersheimen, Gemeindestationen, Kindergär- ten führt und diese Lücken über den Arbeitsmarkt nicht mehr zu schließen sind beziehungsweise eine höhere Belastung durch Personalkosten zur Folge haben. Dann wird es notwendig, dass andere - in der Regel kommunale Einrichtungen - diese sozialen Aufgaben übernehmen oder ersetzen. Das bedeutet zusätzliche Kosten, neue Planung und Verwaltung. Angesichts der angespannten Finanz- und Personallage wird ein Politiker immer dafür sein, dass die Kirchen so lange und so weitreichend wie möglich „die Stellung halten".

HK: Unter finanzpolitischen Gesichtspunkten sicher...

KOHL: Das nüchterne, finanzpolitische Argument hat auch sein Gewicht. Viel wichtiger ist aber, dass es hierbei nicht um Tätigkeiten geht, die von irgendwelchen anderen Trägern gleichwertig ausgeführt werden können. Überall dort, wo sozialer und erzieherischer Dienst auch zugleich Bekenntnis, Zeugnis für eine Lebensanschauung, für Werte bedeutet und diese Werte das Handeln prägen und daher die besondere Art der Begegnung von Menschen zum entscheidenden Moment wird, ist Diakonie unmittelbares christliches Handeln. Deshalb würde ich es als Christ bedauern, wenn diese Aufgaben ohne Not aufgegeben würden. Im übrigen kann ich Ihrer Unterscheidung von sozialem und religiösem Einsatz nicht ganz folgen. Das diakonische Zeugnis ist immer auch in irgendeiner Weise Verkündigung.

HK: Schon, nur kann eine solche Verkündigung möglicherweise problematisch werden, wenn die Herkunft aus einer christlichen Motivation gar nicht mehr sichtbar wird. Aber nochmals zur sozialpolitischen Seite kirchlicher Diakonie. Bahnen sich in diesem Bereich nicht Konfliktstoffe an, in denen sich alle Parteien mit den Kirchen schwertun, wie etwa seinerzeit bei der Ablösung der Konfessionsschulen durch Privatschulgesetze, als mancher CDU-Kulturpolitiker klagte, er habe von der Kirche Tadel bezogen, während SPD-Politiker in Nachbarländern für vergleichbares Verhalten Dank entgegennehmen durften? Wenn das soziale Wirken der Kirche oder ihre Chancen eingegrenzt oder freien Trägern restriktive Auflagen gemacht werden - wir denken zum Beispiel an die kirchlichen Proteste bei der Verabschiedung des neuen Krankenhausgesetzes in Rheinland-Pfalz -, werden Konflikte auch mit CDU-Landesregierungen oder einer künftigen CDU-Bundesregierung nicht ausbleiben ...

KOHL: Im öffentlichen Handeln kommen natürlicherweise auch bei Partnern, die sich wohlwollend und freundlich gegenüberstehen, gelegentlich unterschiedliche Auffassungen und Beurteilungen einer gegebenen Situation vor. Als Politiker gehe ich davon aus, dass es sich dabei um Diskussionen über den zweckmäßigen Weg handelt. Unüberbrückbare Gegensätze werden dann gewiss keine ausschlaggebende Rolle spielen, wenn es um die Aufgabe geht, den Menschen so schnell und wirksam wie nur möglich zu helfen, die beispielsweise auch durch geringer werdende kirchliche Möglichkeiten in Not geraten. Ich will nicht verschweigen, dass auch kirchliche Institutionen nicht davor gesichert sind, ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten finanziell wie personell zu überschätzen. Wenn die tatsächlichen Verhältnisse anzeigen, dass der Staat sich betätigen muss, würde ich in dem einen oder anderen Fall auch einen Konflikt nicht scheuen. Dann muss man schnell eine Einigung suchen, ohne dass die Partnerschaft Schaden nimmt. Partnerschaft bedeutet nicht nur harmonische Idylle, sondern kann auch Konflikte bedeuten. Konflikt heißt aber nicht rücksichtsloser Kampf ohne Kompromissbereitschaft, sondern Auseinandersetzung um die beste, schnellste und wirksamste Art der Hilfe für die Menschen, die diese Hilfe brauchen.

HK: Die Bundesrepublik besitzt in ihrem Grundgesetz eine stark wertbezogene Verfassung. Aber plurale Gesellschaffen, deren Bürger vor allem auch weltanschaulich gegensätzlich denken, leben in der Regel ohne festen ethischen Wertkonsens. Die Reform des Abtreibungsstrafrechts hat gezeigt, dass sich dies auch in der Bundesrepublik nicht anders verhält. Sie haben in diesem Zusammenhang selbst einmal von einem Vakuum gesprochen, in das radikale Ideologien hineinstoßen können. Trauen Sie den Kirchen, speziell der katholischen Kirche, genügend moralische Kraft zu, um dieses Vakuum auszufüllen?

KOHL: Ich traue der katholischen Kirche - ebenso wie der evangelischen - grundsätzlich genügend moralische Kraft zu, zur gemeinsamen Aufgabe der Abwehr radikaler Ideologien einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Andererseits verkenne ich nicht die gegenwärtige Situation, in der sich die Kirchen immer noch befinden, wenn auch in letzter Zeit die Anzeichen dafür wachsen, dass sich mittel- bis langfristig Änderungen vollziehen. In den vergangenen Jahren waren nach meinen Eindrücken entscheidende Kräfte in den Kirchen viel zu sehr auf ihre eigenen Probleme fixiert. Das hat mit dazu beigetragen, dass sie ein Stück Vakuum nicht ausreichend ausfüllen konnten. Die Kirchen müssen einfach wieder die Kraft finden, über sich und ihren durchaus nicht einfachen inneren Problemen zu stehen. Sie müssen in vielfältigem konkretem Kontakt mit Staat und Gesellschaft bleiben. In ihnen können die Kirchen nur dann wirksam sein, wenn sie in den entscheidenden Fragen möglichst mit Autorität geschlossen und konsequent auftreten und nicht den Eindruck erwecken, als seien sie sich ihrer Sache und ihres Auftrags nicht mehr sicher.

HK: Vorausgesetzt, die Kirchen haben genügend religiös-moralische Kraft, sich gesellschaftlich zur Wirkung zu bringen, welche gesellschafts-wirksamen Aufgaben hätten sie heute mit Vorrang wahrzunehmen? Wie müsste - im Blick auf die Gesamtgesellschaft und ihren Zivilisationszustand gesehen - Weltwirken und Seelsorge der Kirche heute aussehen? KOHL: Insgesamt werden die Kirchen große Anstrengungen unternehmen müssen, um den Wert, die Würde und die Bedeutung des Menschen in seinem Bezug auf Gott wieder neu und eindringlich in das Bewusstsein der Bürger zu stellen. Das ist keine dramatische Feststellung, sondern eher eine Folgerung aus der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Ich will nur Stichworte nennen, vor deren Hintergrund sich ein Teil der Diskussion unserer Tage vollzieht: Abtreibung, passive und aktive Sterbehilfe, zunehmende Gewalt und Brutalität im öffentlichen und zwischenmenschlichen Bereich, eine wachsende Zahl von Menschenrechtsverletzungen, aber auch Versuche, den Klassenkampf in unser Land zu tragen. Auch der Kampf gegen Hunger und Elend und die Hilfe für die Dritte Welt gehören in diesen Katalog. Hier haben die Kirchen humanitäre und politische Aufgaben. Sie müssen das Gemeinwohl über die immer ungehemmter werdende Interessendurchsetzung stellen, die über die berechtigten Anliegen machtloser Minderheiten in unserem Staat achtlos hinweggeht. Die Kirchen müssen dafür sorgen, dass der Staat seine Grenzen beachtet und nicht in alle Bereiche des menschlichen Lebens ausgreift. Und sie müssen sich konkret und tendenziell mit Ideologien auseinandersetzen, die den Menschen totalitär vereinnahmen wollen.

HK: Könnten nicht auch die Kirchen in Gefahr kommen - wir haben das vorhin schon einmal angedeutet -, ihr Terrain zu weit auszudehnen zum Schaden ihrer eigentlichen Aufgabe? Und ist umgekehrt vielleicht nicht gerade der christliche Politiker versucht, den Kirchen unpopuläre Aufgaben, etwa in dem von Ihnen bereits genannten Bereich Entwicklungshilfe, zuzumuten, die er selbst nicht gern aufgreift?

KOHL: Diese Gefahr ergibt sich selbstverständlich nicht nur für die Kirchen. Auch der Staat kann ihr unterliegen. Besonders der Politiker, der aus christlicher Verantwortung handelt, darf nicht von der bequemen Möglichkeit Gebrauch machen, der Kirche unpopuläre Aufgaben aufzubürden. Er muss selbst den Mut haben, das Notwendige zu tun. Das gilt gerade für den Bereich der deutschen Entwicklungshilfe. Der Grundkonsens in Fragen der Entwicklungshilfe zwischen dem Staat und den gesellschaftlichen Gruppen ist in Gefahr. Wir können nicht dulden, dass finanzielle und wirtschaftliche Schwierigkeiten zu Lasten der Schwachen und Schwächsten gelöst werden. Eine solche Politik entspricht nicht den Prioritäten, die sich für die CDU aus dem Verständnis einer ethisch begründeten Politik und der Auffassung unseres Staates als eines sozialen Rechtsstaates ergeben. Gerade die junge Generation, der die Solidarität mit den Schwachen und Unterdrückten unaufgebbare Grundlage ihres politischen Engagements ist, erwartet, ja fordert, dass die Politiker nicht nach billigen Auswegen suchen, die im Augenblick vielleicht aktuelle Schwierigkeiten beseitigen, aber langfristig für unser Volk und dessen Platz in der Völkergemeinschaft verhängnisvoll sind. Die Kirchen müssen gerade in einer solchen Situation unverblümt ihre Meinung sagen. Hier besteht nicht die Gefahr, dass sie ihr Terrain zu weit ausdehnen. Solange sich die Kirchen um Not kümmern, verfehlen sie nie ihre eigentliche Aufgabe.

HK: Gerhard Stoltenberg, Ihr Stellvertreter im Parteivorsitz, hat (ebenfalls in einer Rede am letzten Reformationstag in St. Jacobi in Hamburg) die Kirche vor der Beeinflussbarkeit durch modische Tagesströmungen gewarnt, sie aufgefordert, „in der zunehmenden Vielfalt sozialwissenschaftlicher Richtungen die Spreu vom Weizen zu unterscheiden" und die Theologen zur Versöhnung von christlicher Botschaft und naturwissenschaftlicher Erkenntnis im intensiveren Gespräch mit den Naturwissenschaftlern aufgerufen. Stellen sich im Blick auf eine mögliche Selbstgefährdung der Menschen durch Störung des ökologischen Gleichgewichts, durch Verplanung des Menschen im Massenstaat bis hin zur genetischen Manipulation hier den Kirchen und ihren Theologen und den verantwortlichen Politikern, im Blick auf Gesetzgebung und Moralverkündigung, nicht gleiche Probleme, wo beide gemeinsam nach Lösungen suchen müssten?

KOHL: Diese Frage beantworte ich mit einem klaren Ja. An den von Ihnen angesprochenen Themenbereichen, die heute geradezu von lebenswichtiger Bedeutung geworden sind, zeigt sich ein Feld dringend notwendiger Zusammenarbeit zwischen den Kirchen und ihren Theologen, den verantwortlichen Politikern und der Wissenschaft. Die Kirchen sollten die Aufforderung Gerhard Stoltenbergs auf jeden Fall ernster als bisher nehmen. Hier entstehen wirkliche Menschheitsbedrohungen, deren Abwendung nur in enger Zusammenarbeit möglich ist. Den Kirchen, den Theologen fällt dabei die Aufgabe zu, aus ihrem ureigenen Auftrag heraus und ausgehend von der Botschaft, die sie der Welt und den Menschen zu bringen haben, neue, der veränderten Situation angemessene Leitvorstellungen zu entwickeln, die vor allem ethische Gesichtspunkte in die Diskussion einbringen. Diese Leitvorstellungen müssen so klar und verständlich formuliert sein, dass sich die Politiker bei der Lösung der konkreten Fragen wirklich an ihnen orientieren können. Dazu sind Gespräche, dazu ist geistige Auseinandersetzung notwendig.

HK: Sehen Sie Ansätze dafür, solche Gespräche zu aktivieren?

KOHL: Ich glaube, dass die christlichen Kirchen gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland die von Ihnen angesprochenen Probleme heute deutlich sehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang dankbar daran erinnern, dass Kardinal Döpfner in seiner Eröffnungsansprache zur Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 1974 klar gesagt hat, dass die Kirchen vor dieser Herausforderung stehen und dass zum Beispiel katholische Wissenschaftler und Politiker, die kirchlichen Verbände und Akademien vor der konkreten und dringenden Aufgabe stehen, sich mit den genannten Themenbereichen intensiver auseinanderzusetzen. Das Bewusstsein dafür ist also vorhanden.

HK: Von der ethischen noch einmal zur politischen Seite des kirchlichen Öffentlichkeitswirkens. Wo liegen für Sie die Grenzen kirchlichen Sprechens und Einwirkens auf die politische Öffentlichkeit einschließlich des Gesetzgebers? Sind Wahlhirtenbriefe wie der der bayerischen Bischöfe vom letzten Herbst oder der Januarhirtenbrief zu den Betriebsratswahlen hilfreiche politische Diakonie oder unzulässige Parteinahme?

KOHL: Ich möchte daran erinnern, dass die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über „Die Kirche in der Welt von heute" nachdrücklich auf die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der weltlichen Sachbereiche hinweist. Ich verstehe diese Aussage als einen Fortschritt gegenüber früheren kirchlichen Auffassungen. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Zuständigkeiten muss bestehen bleiben. Folgerichtig spricht das Konzilsdokument auch davon, dass es verschiedene konkrete politische Lösungen auf der Basis des Glaubens geben könne, und weist darauf hin, dass für keine dieser Lösungen die kirchliche Autorität allein in Anspruch genommen werden dürfe. Wer daraus allerdings die Folgerung ableitet, dass sich die Kirchen deswegen aus der Welt und in den kultischen Raum zurückziehen sollten, der unterliegt einem Fehlschluss. Die Kirchen dürfen nicht neben den Entwicklungen in Staat und Gesellschaft verharren. Das würde ihrem Auftrag widersprechen. Als Christ weiß ich andererseits aber auch, dass sich die Kirchen trotz aller notwendigen Auseinandersetzungen mit Staat und Gesellschaft immer auch auf ihre eigene, nie untergehende Sendung besinnen müssen. Denn nur so können sie für Staat und Gesellschaft das notwendige Korrektiv bedeuten.

HK: Was heißt das konkret im Blick auf die Grenzen kirchlichen Sprechens?

KOHL: Das heißt konkret im Blick auf Ihre Frage: Die Grenzen kirchlichen Sprechens und Einwirkens auf die politische Öffentlichkeit liegen dort, wo der Bereich der eigengesetzlichen und sachorientierten Lösung politischer Fragen beginnt. Die Kirchen sind nicht der Staat, und sie können auch keine politische Partei ersetzen. Die Überzeugungskraft ihrer Aussagen liegt im Hinweis auf das Jenseitige und Überzeitliche, während eine Partei oder ein Verband immer nur Diesseitsbezogenes sagen und entscheiden kann. Die Kirchen sollten nicht auf die Möglichkeit verzichten, zu Wahlen den Parteien und Staatsbürgern Fragen zu den Parteiprogrammen vorzulegen oder auch Hinweise zu geben. Sie nehmen hier eine wichtige Aufgabe wahr, die ich durchaus als hilfreich verstehe. Über einzelne Formulierungen oder die Frage, ob tatsächlich unzulässige Parteinahme vorliegt, kann man streiten. Eine Partei sollte niemals erwarten oder wollen, dass die Kirchen für sie Wahlpropaganda betreiben.

HK: Wenn Sie sagen, über Formulierungen oder tatsächlich zulässige Parteinahme könne man streiten, ist dann für Sie die Frage der Wählbarkeit oder Nichtwählbarkeit einer Partei im Falle eines grundlegenden Wertkonfliktes, wie er zum Beispiel bei der Reform des §218 gegeben ist, noch ein möglicher Gegenstand kirchlicher Verkündigung beziehungsweise autoritativer Erklärungen von Bischöfen und kirchlichen Gremien?

KOHL: Im Falle eines grundlegenden Wertkonfliktes kann die Frage der Wählbarkeit und Nichtwählbarkeit einer Partei durchaus Gegenstand einer konkreten kirchlichen Erklärung sein, wenn die Glaubensgemeinschaft in dieser Frage einer Meinung ist. Ich sage: kann; es muss aber nicht so sein. Die Entscheidung darüber liegt bei der Kirche, den Bischöfen und den kirchlichen Gremien. Die Neufassung des §218 deutet einen solchen Wertkonflikt an. Warum sollten die Kirchen nicht aus ihrer Verantwortung heraus auch etwas zu einer konkreten politischen Frage sagen, die direkt im Bereich eines grundlegenden Wertes, wie dem des Lebens, angesiedelt ist? Im übrigen hat der Kardinal von Köln, an den Sie vermutlich bei Ihrer Frage gedacht haben...

HK: An den Kardinal von Köln, aber auch an Äußerungen von Katholikenausschüssen ,..

KOHL: Kardinal Höffner hat bei seiner vielumstrittenen Erklärung nicht von Parteien, sondern von Abgeordneten gesprochen. Das ist doch ein wesentlicher Unterschied. Die grundsätzliche Freiheit zu solchen Erklärungen gestehe ich Vertretern oder Gruppen der Kirchen durchaus zu.

HK: Aber lassen sich sittliche Forderungen der Kirche überhaupt noch parteipolitisch umsetzen?

KOHL: Ich bin der Meinung, dass sittliche Forderungen der Kirchen über Parteien politisch vertreten werden können. Ob sie sich durchsetzen lassen, ist eine andere Frage. In einer Partei wie der CDU/CSU besteht eine selbstverständliche Identität zu den sittlichen Grundforderungen des Christentums. Solche Forderungen dürfen allerdings der Gesamtgesellschaft nicht aufgezwungen werden. Je glaubwürdiger sie vom Fordernden vorgelebt werden, desto überzeugender sind sie.

HK: Herr Dr. Kohl, Sie gelten nicht nur als Liberaler in Ihrer Partei, sondern galten, bereits bevor Sie den Parteivorsitz übernahmen, als derjenige CDU-Politiker, der das „C" in der Partei besonders herausstellt. Welchen konkreten Inhalt geben Sie dem „C"?

KOHL: Ich bin seit jeher dafür eingetreten, dass das „C" zum Parteinamen gehört und dass wir, im Blick auf unseren Ursprung und auf unsere Geschichte, nicht davon absehen können und werden. Wenn Politik von Wertvorstellungen ausgeht, so muss für eine Partei wie die CDU/CSU in der Bindung an die christliche Grundhaltung ein besonderer Maßstab liegen. Für mich ist es deshalb selbstverständlich, dass die CDU die Frage nach den Werten, die sie im politischen Bereich für verbindlich und tragfähig hält, mit dem Hinweis auf das „C" beantworten muss. Das „C" bedeutet für meine Partei keinen dogmatischen Ausschließlichkeitsanspruch. Selbstverständlich können Christen auch in anderen demokratischen Parteien ihre politische Heimat finden. Es ist für uns der Maßstab, der Anspruch, an dem wir unser eigenes politisches Handeln messen lassen müssen. Er verweist auf unsere Motivation: Wir betreiben Politik aus christlicher Verantwortung. Zwar lassen sich aus der christlichen Lehre nicht einfach Lösungsvorschläge für konkrete politische Aufgaben ableiten: Es handelt sich dabei ja nicht um einen Handlungskatalog für Politiker, es gilt das Gebot der Sachgerechtigkeit. Aber das „C" grenzt deutlich ab.

HK: Gibt es gegenwärtig politische Positionen, die damit eindeutig nicht zu vereinbaren sind?

KOHL: Aber zweifellos gibt es solche Positionen. Um nur einige Beispiele zu nennen: die Verkündigung und Ausübung von revolutionärer Gewalt, der Grundsatz von der Selbsterlösung des Menschen durch Politik, die Überführung der politischen Gegnerschaft in Feindschaft und auch der Versuch, den einzelnen Menschen totalitär zu vereinnahmen.

HK: Und wer interpretiert das „C" für den politischen Bereich?

KOHL: Bürger, die sich entschließen, aus christlicher Überzeugung heraus als Partei Politik zu gestalten, sehen sich Verpflichtungen aus zwei Lebensbereichen gegenüber: denen der Kirchen und denen der Politik. Die Spannung, die zwischen beiden liegt, wird nur dann erträglich und fruchtbar, wenn die Kirchen nicht durch die Partei regieren wollen und die Politik die Kirchen nicht für ihre Zwecke missbraucht. Das heißt konkret: Die Interpretation des „C" hinsichtlich der politischen Konsequenzen kann weder allein noch willkürlich durch die Partei erfolgen.

HK: Kurt Biedenkopf hat in zwei Interviews sehr pointiert erklärt, ihn interessiere im Blick auf seine Partei weniger das Verhältnis zur Kirche, sondern das Verhältnis zu den Grundlagen des christlichen Glaubens, so die Umsetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in praktische Politik, die den einzelnen vor der Auslieferung an das Kollektiv schützt. Das klingt für Christen, denen es weniger um Kirchenstrukturen als um Glauben zu tun ist, erfreulich plausibel. Aber es riecht zugleich nach dem Versuch, einem neoliberalen Ordo-Gebäude eine christliche Rechtfertigung unterzulegen. Wie bringen Sie den christlichen Anspruch und das liberale Prinzip in Einklang?

KOHL: Dies ist eine schwierige und nicht mit wenigen Sätzen zu beantwortende Frage, weil ihre Beantwortung einen Rückgriff auf die Ideengeschichte der letzten hundert Jahre mit ihren sehr vielschichtigen Entwicklungsgängen notwendig macht. Ich sehe zwar nicht unbedingt einen unüberwindlichen Konflikt zwischen dem christlichen Anspruch und dem sogenannten liberalen Prinzip, aber doch einen wesentlichen und bemerkenswerten Unterschied in den Voraussetzungen. Die katholische Soziallehre ist bestimmt vom Begriff des Menschen als einer Person, die aber als Person schon Mitglied einer überpersonalen, umfassenderen sozialen Gemeinschaft ist. Der klassische Liberalismus geht mehr von der Autonomie und Eigenständigkeit des einzelnen Individuums aus und betont den sozialen Charakter nicht deutlich, ja es hat sich im Laufe der Zeit eher eine individualistische Komponente heraus- gebildet. Sie scheint im heutigen politischen Liberalismus allerdings wieder umstritten und unausgegoren zu sein.

HK: Wie würden Sie im Falle einer solchen Spannung, die ja auch einmal zu einem Grundsatzkonflikt in der Union selbst führen kann, reagieren wollen?

KOHL: Ich bin erstens der Meinung, dass Grundwertkonflikte gerade auch in der eigenen Partei ernsthaft und gründlich ausgetragen werden sollten. Zweitens: Zeigt sich dabei der beschriebene Unterschied und damit die Notwendigkeit der Unterscheidung und Abgrenzung, dann stelle ich mich auf die Seite des christlichen Anspruchs. Nicht nur weil die CDU das Wagnis einer Politik aus christlicher Verantwortung unternimmt, sondern weil ich unter anderem auch persönlich davon überzeugt bin, dass der christliche Anspruch der realistischere und umfassendere ist. Dabei ist mir selbstverständlich bewusst, dass die CDU neben der christlich-sozialen auch die liberale und die konservative Komponente seit ihrer Gründung deutlich zum Ausdruck gebracht hat und das auch heute tut...

HK:... aber die Realisierung dessen, was Sie eben sagten, am konkreten Objekt ist gerade im Blick auf die Kirche vermutlich schwierig. Nehmen wir als Beispiel die Reform des Abtreibungsstrafrechts. Diese führte, von der katholischen Kirche aus gesehen, nicht nur zu einem akuten Konflikt zwischen Kirche und Regierungsparteien, sondern auch (um es vorsichtig auszudrücken) zu Verstimmungen zwischen Kirche und Unionsparteien. Der CDU wurde vorgeworfen, sie habe überhaupt erst viel zu spät Position bezogen. Die Partei ihrerseits wollte (oder konnte) Maximalerwartungen beziehungsweise -forderungen der Kirche mit dem Indikationsmodell ihrer Fraktionsmehrheit nicht entsprechen. So hat man den Eindruck, die Reform des Abtreibungsstrafrechts sei auch für das Verhältnis Kirche-Unionsparteien alles eher als ein Modell kritischer Partnerschaft zwischen moralischer Autorität und politischer Verantwortung gewesen. Welche Konsequenzen würden Sie für vergleichbare Fälle daraus ziehen (beispielsweise wenn einmal eine Parlamentsdebatte über Euthanasie ins Haus stünde)?

KOHL: Die CDU/CSU hat nach meiner Auffassung in erheblichem Umfang die Argumente der christlichen Kirchen in die politische Auseinandersetzung um die Reform des Abtreibungsstrafrechts eingebracht. Die Frauenvereinigung der CDU, verschiedene Landesverbände, prominente Mitglieder der Partei und auch der Bundesausschuss der CDU haben sich eindeutig gegen die von Abgeordneten der SPD und FDP eingebrachte Fristenlösung ausgesprochen. Der Bundesvorstand der CDU hat schon im Dezember 1971 eine abgegrenzte Indikationslösung befürwortet. Die CDU steht deshalb in dieser Frage nicht im Gegensatz zu kirchlichen Aussagen. - Dass die CDU nicht, gar von oben herab, eine „Parteimeinung" zu dieser Frage formuliert und durchgesetzt hat, lässt sich auf ihren Respekt vor der Gewissensentscheidung des einzelnen zurückführen. Ein solcher Stil wäre in unserer Partei weder möglich noch nötig. Dennoch können politische Absprachen und kann politischer Meinungsaustausch zwischen den Kirchen und der Union intensiver gestaltet werden. Damit haben wir in letzter Zeit begonnen.

HK: Trotz solcher an Einzelproblemen auftauchenden Spannungen raten heute manche der Kirche (nicht nur den Katholiken), wieder nachdrücklicher in der Union ihre politische Heimat und Stütze zu suchen. Möglichst gleiche Distanz zu allen Parteien sei in einer Phase weltanschaulicher Polarisierung nicht praktikabel; da es um Grundwerte wie um das Recht auf Leben oder eine menschengerechte Bildung geht, bedürfe es eines klaren und geschlossenen Durchsetzungswillens. Kann daran der Volkspartei CDU gelegen sein, die eine parlamentarische Mehrheit sucht und dazu auch jene Wähler ansprechen will und muss, die zum Christentum ein mehr oder weniger tolerantes, zur Kirche aber oft gar ein negatives Verhältnis haben? Ist der parlamentarischen Demokratie und den Kirchen selbst nicht besser mit Parteien gedient, die keine Weltanschauungs-, sondern Integrationsparteien sind?

KOHL: Natürlich ist es gut und erstrebenswert, Parteien zu haben, die auf der Grundlage politischer Sachziele Staatsbürger integrieren und sich nicht als Instrumente zur Durchsetzung von Weltanschauungen oder sogar als Religions- und Kirchenersatz verstehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Parteipolitik reiner Pragmatismus ohne jede Wertorientierung sein sollte. In Deutschland haben sich im vorigen Jahrhundert Parteien entwickelt, die sich ganz bewusst auch als Träger neuer Weltanschauungen verstanden. Das hatte beispielsweise zur Folge, dass Liberale und Katholiken, die beide für mehr Freiheit im Staat angetreten waren und noch um 1848 in mannigfacher Weise zusammengearbeitet hatten, in den darauffolgenden Jahrzehnten getrennte parteipolitische Wege gingen, weil der Liberalismus immer mehr religions- und kirchenfeindliche Züge annahm. Ein Christ aber, der es mit seinem Bekenntnis wirklich ernst meint, kann nicht eine Partei unterstützen, die Ziele verfolgt, die gegen Religion und Kirche gerichtet sind. Will er dennoch die öffentlichen Entscheidungen mit gestalten - wie es ihm ja sein christlicher Auftrag gebietet -, so muss er sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen.

HK: Sind die geschichtlich-weltanschaulichen Belastungen trotz aller feststellbarer Re-Ideologisierung im deutschen Parteiwesen nicht geringer geworden? Und ist der Kirche deshalb, wenn schon nicht Äquidistanz so doch kritische Nähe und Distanz zu den Parteien insgesamt zu empfehlen?

KOHL: Manche ideologischen Fehlentwicklungen und Belastungen im deutschen Parteiensystem sind in den letzten zwei Jahrzehnten tatsächlich schrittweise überwunden worden. Aber es gibt noch immer eine Reihe von kontroversen Punkten in Wertfragen. Die Debatte um das Grundrecht auf Leben, die Auseinandersetzungen um Bildungsinhalte und Lernziele in manchen Bundesländern, die sehr unterschiedliche Bewertung des Ranges von Ehe und Familie und nicht zuletzt die antikirchlichen Beschlüsse der FDP haben deutlich gemacht, dass eine sogenannte Äquidistanz der Kirchen zu allen vorhandenen Parteien überhaupt nicht möglich ist, es sei denn um den Preis ihrer eigenen theologischen und sozialethischen Profile. Das heißt nun nicht, da gebe ich Ihnen recht, dass die Kirchen in allen politischen Fragen nur die CDU als Gesprächspartner hätten, und es heißt auch nicht, dass die CDU eine Kirchenpartei sein müsse. Die CDU hat einen anderen Auftrag als die Vertretung kirchlicher Interessen. Ich kann mir allerdings auch nicht vorstellen, dass sie sich bewusst in Gegensatz zur christlichen Wertordnung und zu den Kirchen setzt.

HK: Der CDU (und vielleicht noch mehr der CSU) wird gerade von wohlwollenden Kritikern vorgeworfen, sie habe sich kaum Rechenschaft gegeben über die Wandlungen, die in den Kirchen in den letzten Jahren, in der katholischen seit dem Zweiten Vatikanum, vor sich gegangen sind. Ist man noch nicht bereit, sich als kritische Partner auf unterschiedlichen Ebenen zu akzeptieren?

KOHL: Meine bisherigen Äußerungen aus früherer Zeit und auch in diesem Gespräch zeigen doch unmissverständlich, dass die CDU als Partei bereit ist, die Kirchen als kritische Partner zu akzeptieren. Darüber hinaus zeigen zahlreiche Aussagen, Stellungnahmen und das politische Handeln der ganzen Union diese Bereitschaft an. Ich räume ohne weiteres ein: Der Kontakt zwischen der CDU und den Kirchen hatte in den letzten Jahren noch enger sein können. Wir haben sicher manches als zu selbstverständlich angesehen, was längst nicht mehr selbstverständlich war und ist. Die Wandlungen innerhalb der Kirchen sind manchem bei uns erst recht spät ins Bewusstsein getreten. Wir haben es in der Vergangenheit auch oft versäumt, wie Richard von Weizsäcker vor einiger Zeit sagte, Anforderungen und Fragen an die Kirchen zu stellen. Für die CDU als Partei, die Politik aus christlicher Verantwortung begründet, ist es gegenwärtig und in der Zukunft dringend erforderlich, häufiger grundsätzliche Fragen mit den Kirchen zu erörtern und dabei zur politischen Gemeinsamkeit von evangelischen und katholischen Christen beizutragen.

Quelle: Herder-Korrespondenz, Freiburg, 29. Jg. (1975), S. 122-130.