Christopher Beckmann
Hanns Jürgen Küsters
Der „Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands“ (Einigungsvertrag) wurde am 31. August 1990 im Kronprinzenpalais in Ost-Berlin von den Verhandlungsführern Wolfgang Schäuble für die Bundesregierung und Günther Krause für die DDR-Regierung unterzeichnet.
Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß Art. 23 GG am 3.10.1990 werden die fünf Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland.
Er umfasst annähernd 1000 Seiten, untergliedert in 9 Kapitel und 46 Artikel mit einer Fülle von Anlagen – der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der deutschen Einheit“, kurz „Einigungsvertrag“ genannt. Mit Unterzeichnung dieses schon vom bloßen Umfang her beeindruckenden Dokuments am 31. August 1990 waren die inneren Aspekte zur Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands geregelt.
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands war der am 18. Mai 1990 unterzeichnete und am 1. Juli in Kraft getretene erste Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Ein zweiter Staatsvertrag sollte die Fragen der Rechtsüberleitung klären und die Schaffung der inneren Ordnung für das nach Artikel 23 Grundgesetz beitretende Gebiet der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland regeln.
Doch hatte sich die innenpolitische Ausgangslage für die Bundesregierung nach der Niederlage der CDU bei der Landtagswahl am 13. Mai 1990 in Niedersachsen drastisch verändert. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP besaß im Bundesrat keine Stimmenmehrheit mehr. Zudem benötigte die Bundesregierung für den zweiten Staatsvertrag, der die Einigung besiegeln sollte und ohne Änderungen des Grundgesetzes nicht zu bewerkstelligen war, die Stimmen der SPD für eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag. Somit war die Regierungskoalition zu Arrangements mit den Sozialdemokraten gezwungen. Außerdem forderten die Länder ihre umfassende Beteiligung an den weiteren Verhandlungen mit der DDR. Die Ministerpräsidentenkonferenz betonte daher am 22. Juni die im Verhältnis zum Bund gleichgewichtige Mitverantwortung der Länder für den deutschen Einigungsprozess.
Schon in der zweiten Maihälfte ließ Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in seinem Hause eine erste Arbeitsskizze über die „Grundstrukturen eines Staatsvertrages zur Herstellung der Deutschen Einheit“ – bald Einigungsvertrag genannt – ausarbeiten, dem DDR-Unterhändler Günther Krause mit einem Fünf-Seiten-Papier begegnete, das stichpunktartig Grundgesetz, Wirtschaft, Finanzen, Innenpolitik, Außenpolitik, Rechtswesen und Schule/Universität als zu regelnde Probleme aufführte. Zunächst galt es allerdings, zwei grundsätzliche Fragen zu klären: den Zeitpunkt gesamtdeutscher Wahlen und die Modalitäten des Beitritts der DDR.
Um Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Parlament noch im Jahre 1990 zu ermöglichen, wurden drei Modelle diskutiert. Die erste Möglichkeit, erste gesamtdeutsche Wahlen zum Zeitpunkt der fälligen Bundestagswahl abzuhalten, setzte eine frühzeitige Beitrittserklärung der DDR voraus, um genügend Zeit zur Vorbereitung für die in der Zeit vom 2. Dezember 1990 bis 13. Januar 1991 geplanten Bundestagwahlen zu haben. Die zweite von Schäuble und dem DDR-Verhandlungsführer Krause befürwortete Möglichkeit, am selben Tage in beiden Teilen Deutschlands getrennte Wahlen abzuhalten, wobei in der Bundesrepublik die geplanten Bundestagswahlen stattfinden und in der DDR Wahlen zu einem gesamtdeutschen Parlament abgehalten würden, verhieß, gesamtdeutsche Wahlen und Wiedervereinigung zu vereinbaren. Dazu bedurfte es aber eines Wahlgesetzes durch das Gesetzgebungsverfahren in der DDR. Zudem existierten dort noch keine Länder, in denen die Parteien ihrerseits Wahllisten aufstellen konnten. Auch mussten wiederum Regionen festgelegt sein. Weiterhin war ein Bundesgesetz notwendig, das die Übernahme der Abgeordneten der DDR in den Deutschen Bundestag bestimmen würde. Die dritte Variante sah den Abschluss eines Wahlvertrages vor. Der Wahlmodus müsste sich nach dem Bundestagswahlrecht richten. Mit Abschluss der Wahl oder kurze Zeit danach würde der Beitritt dann wirksam. Ein Problem stellte die Fünf-Prozent-Sperrklausel dar. Im Falle getrennter Wahlen würden zwei verschiedene Wahlsysteme über die Zusammensetzung der Parteien und der Abgeordneten des Deutschen Bundestages entscheiden.
Bei Überlegungen zu den Beitrittsmodalitäten spielte als Vorbild der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar 1958 eine wichtige Rolle. Zwei grundsätzliche Fragen standen im Vordergrund: ob ein Staatsvertrag oder ein Überleitungsgesetz als Instrumentarium für den Beitritt der DDR dienen sollte, und in welchem Umfang das Grundgesetz geändert werden müsste. Denn aufgrund des Beitritts nach Artikel 23 Grundgesetz würde Bundesrecht nicht automatisch in der DDR in Kraft gesetzt. Politisch günstiger schien es dem Bundesinnenministerium, einen Staatsvertrag auszuhandeln. Dann wüsste die DDR, „wohin die Reise geht“, die zeitliche Konkordanz von Beitritt und Rechtsangleichung wäre gegeben, alle Änderungen und Anpassungswünsche könnten in einem gesetzgeberischen Akt gebündelt werden; zudem würden endlose Debatten über die Überleitungsgesetzgebung vermieden. Mit der Überleitung von Bundesrecht auf die DDR könnten zwei Ziele sichergestellt werden: die umfassende und schnelle Verwirklichung der Rechtseinheit und die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland.
Auch die Regierung de Maizière wollte unbedingt einen Staatsvertrag abschließen. Sie trat dabei als gleichberechtigter Verhandlungspartner auf, was psychologisch eine wichtige Rolle spielte. Außerdem eröffnete der Staatsvertrag die Möglichkeit detaillierter Regelungen. Übereinstimmung herrschte, das Ausmaß der Grundgesetzänderungen auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Doch welche Änderungen noch erforderlich wären, darüber gingen die Meinungen unter den Bundesministerien weit auseinander. Auf keinen Fall wollte die Bundesregierung eine allgemeine Diskussion um eine Verfassungsnovellierung in Gang setzen. Schäuble beabsichtigte, in den zweiten Staatsvertrag lediglich diejenigen rechtstechnischen Anpassungen aufzunehmen, die für die Herstellung der staatlichen Einheit erforderlich wären. Diese Minimallösung intendierte, nur die Präambel zu ändern und Artikel 23 Grundgesetz, der als Ermächtigungsnorm für das Überleitungsrecht gebraucht würde, eventuell ersatzlos zu streichen. Hinsichtlich der Präambel des Grundgesetzes war jedoch fraglich, ob der Gedanke der Vollendung der deutschen Einheit ausdrücklich enthalten sein sollte. Artikel 29 Grundgesetz über die Neugliederung des Bundesgebietes sollte eine völlige Neufassung mit dem Ziel erfahren, die künftige Länderneugliederung zu erleichtern.
Die vollständige Überleitung des Grundgesetzes wurde nicht zuletzt wegen der Wehrverfassung - insbesondere Artikel 12a Wehr- und Dienstpflicht, Artikel 87a Aufstellung und Einsatz der Streitkräfte und Artikel 115a-l Verteidigungsfall - im Zusammenhang mit der Frage des Oberbefehls über die Nationale Volksarmee und der Durchführung des Lastenausgleichs nach Artikel 120a Grundgesetz als problematisch angesehen. Das Bundesministerium der Verteidigung sprach sich für die vollständige Übertragung der Wehrverfassung aus, eventuell mit Abstrichen, um sich somit Möglichkeiten der Konzessionen bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu bewahren. Das Auswärtige Amt erkannte darin eine unnötige Belastung der Verhandlungen. Das Bundeskanzleramt sprach sich dafür aus, zumindest partiell die sofortige Überleitung anzustreben.
Bei Artikel 116 Grundgesetz trat die Frage auf, ob es nach Wiederherstellung der Einheit noch Deutsche ohne deutsche Staatsangehörigkeit geben würde. Von Interesse war die Frage vornehmlich für das Ausland. Das Bundeskanzleramt befürchtete, die Beibehaltung könnte ein falsches Signal geben, in dem Sinne, die Deutschen seien noch nicht „saturiert“. Ein weiteres Problem stellte sich mit einer neuen Regelung des § 218 StGB. Überlegt wurden Möglichkeiten, unterschiedliche Modalitäten für eine Übergangszeit beizubehalten.
Zudem strebte die DDR-Regierung vor Ratifizierung des Staatsvertrages die Veröffentlichung einer Gemeinsamen Erklärung mit der Bundesregierung zu den offenen Vermögensfragen an. Von der ersten Entwurfsfassung war die Regierung de Maizière jedoch abgerückt, weil darin die politische Endgültigkeit der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 ohne Entschädigung festgestellt wurde. Es sollte nur eine Entschädigung und keine Erbbaurechtsregelung geben, geschweige denn eine Rückübertragung für Enterbte. Dies war für die Bundesregierung nicht akzeptabel. Das Bundesjustizministerium zielte nun darauf, einen sozialverträglichen Ausgleich zwischen den Westeigentümern und den Bürgern in der DDR im Sinne einer gleichrangigen Entschädigungsregelung zu erreichen. Dies bedeutete ein Entgegenkommen gegenüber der DDR, denn die Restitution sollte zwingend Vorrang vor einer Entschädigung haben. Außerdem sollte eine Veränderungssperre gelten. Die DDR allerdings beharrte darauf, dass Enteignungen endgültig sein und nicht rückgängig gemacht werden sollten, und die Bundesregierung nahm dies zur Kenntnis. In der Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni wurden schließlich Eckwerte festgelegt, die eine grundsätzliche Rückübertragung des enteigneten Vermögens vorsahen.
In dem Papier „Eckpunkte für die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland“ vom 5. Juli formulierten die westdeutschen Länder ihre Forderungen im Einigungsprozess: keine Neuordnung des Finanzausgleichs vor 1994/95, Einsetzung einer Enquete-Kommission für Verfassungsreformen, eventuell Neufassung des Artikels 24 Grundgesetz hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, stärkere Mitsprache bei der Festlegung deutscher Positionen zur europäischen Integrationspolitik und eine neue Stimmenverteilung im Bundesrat. Berlin erhob Anspruch auf die Hauptstadtrolle und hielt sich die Türe für eine Zusammenlegung der entstehenden Länder Berlin und Brandenburg offen. Nordrhein-Westfalen und Hessen wollten dagegen die Hauptstadtfrage nicht im Staatsvertrag regeln, sondern die Entscheidung dem gesamtdeutschen Parlament vorbehalten. Schäubles Schachzug, alle notwendigen Prüfungen für den Beitritt soweit vorbereiten und anschließend nur noch über das sprechen, was die DDR-Regierung als verhandlungsnotwendig erachten würde, sollte verhindern, dass die SPD notwendige Grundgesetzänderungen zum Hebel einer weiterreichenden Verfassungsrevision machte.
Bis zur Unterzeichnung des Vertrages fanden drei Verhandlungsrunden zwischen den Delegationen statt. In der ersten Verhandlungsrunde am 6. Juli forderte de Maizière Verständi¬gung über vier Punkte. Er schlug die Bezeichnung „Deutsche Bundesrepublik“ vor und eine neue gesamtdeutsche Hymne, deren „1. Strophe die – textlich an die Melodie von Haydn angepasste – DDR-Hymne und als 2. Strophe die 3. Strophe des Deutschlandliedes umfassen“ könnte. Schäuble dagegen sah keine Veranlassung, Fahne und Hymne der Bundesrepublik Deutschland zu ändern. Weiterhin wollte de Maizière die Hauptstadtfrage im Einigungsvertrag regeln, während Schäuble vorschlug, die Entscheidung dem gesamtdeutschen Gesetzgeber vorzubehalten. Ferner verlangte de Maizière, die Erträge der Treuhandanstalt sollten ausschließlich dem Gebiet der DDR zugute kommen. Was die Änderung des Grundgesetzes betraf, so stimmte die DDR-Delegation der Ansicht Schäubles zu, die Modifikationen auf das Notwendigste zu beschränken und nur die Präambel sowie die Artikel 23, 29 und 146 anzupassen. De Maizière intendierte die Konkretisierung der Staatszielbestimmungen und regte an, Artikel 23 zu streichen.
Es folgten in Bonn und Berlin umfangreiche Fachgespräche unter Beteiligung der Bundesländer. Auf der Grundlage der Ergebnisse wurde während der zweiten Delegationsrunde, die vom 1. bis 3. August in Ost-Berlin stattfand, weitgehendes Einvernehmen über die Struktur und wesentliche Formulierungen des Vertragstextes erzielt und ein erster Entwurf erstellt – trotz wachsender Differenzen auf bundesdeutscher Seite wie auch innerhalb der Koalitionsregierung in Ost-Berlin. Bis zur letzten Verhandlungsrunde, deren Beginn für den 27. August in Bonn vorgesehen war, dann aber wegen des steigenden Zeitdrucks vorgezogen wurde, hatten die Ressorts nun die Aufgabe, anhand von Leitfäden die Formulierung der Anlagen zum Einigungsvertrag vorzunehmen. Bei der dritten und Verhandlungsrunde, die vom 20. bis 24. August im Bonner Verkehrsministerium stattfand, wurden die vorliegenden Entwürfe Punkt für Punkt durchgegangen und auf strittige Punkte und notwendige Ergänzungen oder Änderungen abgeklopft. Zwischen dem 26. und dem 30. August konnten in vier Spitzengesprächen, in denen auch noch die bundesdeutsche FDP Änderungswünsche vorbrachte, Kompromisslösungen gefunden werde.
Die eigentliche „Schlachtfront“ in den weiteren Verhandlungen verlief jedoch weniger zwischen der Bundesregierung und der DDR-Regierung. Vielmehr traten nun erhebliche Spannungen zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern, nicht zuletzt den SPD-geführten Ländern unter Vorsitz Nordrhein-Westfalens, auf, das die Forderungen der Opposition einbrachte. Im Wesentlichen konzentrierten sich die Beratungen auf die beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes, die Haushalts- und Finanzhilfen und auf Fragen der Überleitung des Bundesrechts und der öffentlichen Verwaltungen.
In der Präambel wollte der Bund lediglich die Vollendung der Einheit zum Ausdruck bringen, der sich die DDR-Delegation weitgehend anschloss, während die SPD-geführten Landesregierungen den Gedanken der Verantwortung für unterentwickelte Gebiete der Erde, den Umweltschutz, das Recht auf Arbeit, Wohnen, soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung und Kultur als Staatsziele berücksichtigt sehen wollten. Zu den weitergehenden Forderungen der Länder nach Änderungen des Grundgesetzes gehörte die Neufassung von Artikel 72 Grundgesetz mit der Absicht, eine Einschränkung der Befugnisse des Bundes zur Gesetzgebung im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung vorzusehen und die Erweiterung der Zustimmungsbedürftigkeit nach Artikel 83 durch Hinzufügung eines zweiten Absatzes. Ferner schlug Nordrhein-Westfalen vor, einen Artikel 146a in das Grundgesetz einzufügen, mit dem Bundestag und Bundesrat zur Einberufung eines Verfassungsrates ermächtigt würden, der binnen zwei Jahren auf der Basis des Grundgesetzes eine neue Verfassung auszuarbeiten hätte. Dieser sollte mit Zweidrittel-Stimmenmehrheit über die neue Verfassung beschließen, die durch Volksentscheid von der Mehrheit der Wahlberechtigten zu bestätigen wäre. Umstritten war zudem die Verteilung des Länderanteils, insbesondere der neuen Bundesländer und deren Gemeinden, an der Umsatzsteuer. Der Bund beabsichtigte die Aufteilung in einen West- und einen Ost-Anteil nach Einwohnerzahl. Die Länder lehnten dies ab, da aus ihrer Sicht ihre Finanzbeteiligung durch den Fonds Deutsche Einheit geregelt war.
Am 18. Juli unterbreitete das Bundesministerium des Innern Überlegungen zur Grundstruktur des Einigungsvertrages und trieb damit die Verhandlungen voran. Darüber hinaus lagen ein Entwurf des Bundesinnenministeriums und ein Vorschlag der DDR für die Präambel des Einigungsvertrages vor. Hinsichtlich der Änderung der Präambel des Grundgesetzes waren sich alle Beteiligten einig, die Forderung von jüdischer Seite nach Erwähnung des Holocaust in der Präambel des gesamtdeutschen Staates nicht aufzunehmen.
Immer lauter werdende Stimmen in der DDR nach sofortigem Beitritt brachten die Volkskammer am 22. Juli dazu, die Bundesregierung zum Abschluss eines Wahlvertrages mit der DDR aufzufordern. Das schloss getrennte Wahlen aus. Schäuble und Krause, lange Anhänger dieses Modells, mussten jenen Kräften bei den verschiedenen Parteigruppierungen Tribut zollen, für die neben dem Wahltermin auch die Frage der Sperrklausel bei der Ausgestaltung des Wahlrechts von entscheidendem Interesse war. Desto heftiger entbrannte nun der Streit um die Fünf-Prozent-Sperrklausel. Die Bundesregierung wollte die PDS nach Möglichkeit aus dem gesamtdeutschen Parlament heraushalten. Diese Möglichkeit bestand nur, wenn sich die Fünf-Prozent-Sperrklausel auf das gesamte Wahlgebiet der Bundesrepublik, der DDR und Berlins bezöge. Dazu würde die PDS auf dem Gebiet der DDR, wo sie vermutlich nur ein größeres Wählerpotential ansprechen konnte, über 23 Prozent der Stimmen erringen müssen, um im gesamten Wahlgebiet über die Fünf-Prozent-Hürde zu gelangen. Von dieser Regelung war aber ebenso die der CSU nahestehende DSU betroffen. Schäuble plädierte deshalb für die getrennte Anwendung der Klausel nach dem Wahlgebiet der bisherigen Bundesrepublik und der DDR, was ihm prompt von Seiten der SPD und des Koalitionspartners FDP den Vorwurf einbrachte, CDU/CSU wollten nur die DSU politisch am Leben erhalten.
In einem Koalitionsgespräch am 26. Juli verständigten sich CDU/CSU und FDP als Erstes auf den 2. Dezember als endgültigen Wahltermin. Der Lösungsansatz lag darin, im Wahlvertrag die Fünf-Prozent-Sperrklausel festzuschreiben und für die erste gesamtdeutsche Wahl Listenverbindungen zwischen Parteien und politischen Gruppierungen zuzulassen, die nicht in einem Land nebeneinander kandidieren. Jeder Partei stünden drei Optionen offen: die Ausdehnung auf das gesamte Wahlgebiet, die Fusion mit einer anderen Partei im jeweiligen anderen Teil Deutschlands oder die Vereinbarung einer Listenverbindung. Damit war den Interessen von SPD und FDP genauso gedient wie der CSU und der DSU, die gemeinsam die Fünf-Prozent-Hürde nehmen könnten, da sie nicht in einem Bundesland nebeneinander kandidierten. Das Bundesverfassungsgericht machte allerdings diesen Kompromiss am 29. September mit seiner Entscheidung wieder hinfällig. Demnach durfte bei der ersten Wahl des gesamtdeutschen Parlaments die Fünf-Prozent-Klausel nur auf die beiden bisherigen Wahlgebiete der Bundesrepublik und der DDR bezogen angewandt werden.
In der ersten Augusthälfte spitzte sich die Koalitionskrise der Regierung de Maizière zu. Sie führte am 15. August zur Entlassung der SPD-Minister und erhöhte allseits den Verhandlungsdruck. Zunächst kam es im Bund-Länder-Verhältnis auf die Klärung der hauptsächlich noch strittigen Punkte an: Verteilung der Umsatzsteuer, Änderungswünsche der SPD-regierten Länder bei den offenen Vermögensfragen, Bund/Länder-Verteilung bei dem Verwaltungs- und Finanzvermögen und der Treuhandanstalt, Regelung für den öffentlichen Dienst der DDR, Staatszielbestimmungen, Änderungen des § 218 StGB und die Stimmrechtverteilung im Bundesrat. Noch bevor der Einigungsvertrag fertig ausgehandelt war, drängte die DSU jedoch auf einen Beitrittsbeschluss, dem die überwiegende Mehrheit der Volkskammer in der Nacht zum 23. August zustimmte.
Genaugenommen war nun der Abschluss des Einigungsvertrages nicht mehr erforderlich. Bundesrecht hätte auch durch ein Überleitungsgesetz in der DDR in Kraft gesetzt werden können. Das aber wollte die Bundesregierung wegen der negativen politischen Wirkungen nicht. Ihr kam es darauf an, dennoch den Einigungsvertrag abzuschließen. Obwohl in den Augen Wolfgang Schäubles die Einigung „auf gutem Weg“ war, musste der Bundeskanzler sich auf der „Zielgeraden“ selbst in die Gespräche einschalten, da die West-SPD damit drohte, ihre Zustimmung zu verweigern, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden und ein Spitzengespräch der Parteiführungen verlangte. Die Sozialdemokraten forderten in vielen Bereichen „Nachbesserungen“ in ihrem Sinne, etwa beim Problem der offenen Vermögensfragen und den Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch, sowie eine bessere Finanzausstattung der Länder und Gemeinden. Doch letztlich konnte es sich keine Seite leisten, den Vertrag zu diesem Zeitpunkt noch scheitern zu lassen.
Zu klären blieb insbesondere die vorgesehene Regelung des § 218 StGB, die Hauptstadtfrage und die Finanzverteilung. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle gelang es letztlich, konsensuale Lösungen zu finden. Hinsichtlich der erforderlichen Rechtsangleichung wurde entschieden, das bundesdeutsche Recht durch eine Generalklausel auf das Gebiet der DDR zu übertragen. Die angesichts des enormen Regelungsbedarfs große Zahl der Ausnahmefälle, in denen für einen Übergangszeitraum weiter DDR-Recht gelten sollte, wurde in den Anlagen zum Vertrag festgehalten. In den Fragen, in denen volles Einvernehmen einstweilen nicht erzielt werden konnte, versuchte man, zu einer Übergangslösung zu kommen und die endgültige gesetzliche Regelung dem gesamtdeutschen Parlament zu überlassen.
In der Frage des Schwangerschaftsabbruchs lief alles auf eine zweigeteilte Rechtssituation in Deutschland hinaus. In der DDR, wo die Fristenlösung galt, gab es gegensätzliche Positionen nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch zwischen CDU-West und CDU-Ost. Da eine Harmonisierung vorerst nicht zu erreichen war, entschied man sich dafür, für eine Übergangszeit von zwei Jahren eine zweigeteilte Rechtssituation in Deutschland hinzunehmen, während der in der DDR die alte Regelung fortbestand, während für die westlichen Länder das bisher in der Bundesrepublik geltende Indikationsmodell in Kraft blieb. Dem gesamtdeutschen Gesetzgeber wurde aufgegeben, bis zum Ende dieser Übergangsfrist eine Neuregelung des § 218 zu finden.
In der Frage der Hauptstadt stand für die Regierung der DDR außer Frage, dass Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz im Einigungsvertrag festgeschrieben werden solle. Jedoch waren die Meinungen auf bundesdeutscher Seite geteilt. Während die Länder fast geschlossen gegen Berlin als Sitz von Parlament und Regierung standen, gingen die Positionen pro oder contra die alte Reichshauptstadt quer durch alle Fraktionen des Deutschen Bundestages. SPD-Verhandlungsführer Wolfgang Clement forderte im Interesse Nordrhein-Westfalens, wenn Berlin schon Hauptstadt werde, müsse aber die Entscheidung über die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung dem gesamtdeutschen Gesetzgeber überlassen werden. Letztlich folgte man dem Kompromissvorschlag Schäubles, im Einigungsvertrag Berlin als Hauptstadt festzulegen und die Frage des Parlaments- und Regierungssitzes später zu entscheiden. Auch die DDR-Seite stimmte dieser Regelung, wenngleich widerstrebend, zu.
In der Frage der Finanzverfassung wollten die westdeutschen Länder ihren Status quo wahren und wiesen überzogene Forderungen der DDR zurück. Diese verlangten ihrerseits die sofortige Einbeziehung in den Bund-Länder-Finanzausgleich, was Schäuble mit Blick auf den eigens geschaffenen Fonds Deutsche Einheit ablehnte. Die Länderfinanzminister machten ihre Zustimmung zur Umsatzsteuerverteilung unter den neuen Ländern von detaillierten Bedingungen abhängig.
Bei den offenen Vermögensfragen erfolgte die Verständigung, in Anlage II des Einigungsvertrages die Gesetzestexte über besondere Investitionen in der DDR und die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni zur Regelung der offenen Vermögensfragen aufzunehmen, die am 12. September in einem gemeinsamen Schreiben der beiden deutschen Außenminister an die Vier Mächte bestätigt wurde. Zu den offenen Vermögensfragen zählten ca. 40-50% der gewerblichen Anlagen und 50-60% der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der DDR. Die Frage, inwieweit die Alteigentümer entschädigt oder sie ihr früheres Eigentum zurückerhalten sollten, bildete einen zentralen Diskussionspunkt in den deutsch-deutschen Gesprächen, aber auch zwischen den verschiedenen Akteuren auf bundesdeutscher Seite. Zudem gab die Sowjetunion wiederholt deutlich zu verstehen, dass die zwischen 1945 und 1949 unter ihrer Federführung erfolgte Änderung der Eigentumsverhältnisse bestehen bleiben müsse. Eine Haltung, die derjenigen der Regierung de Maizière sowie der Stimmung in der DDR-Bevölkerung entsprach. Letztlich sah auch die Bundesregierung keine Möglichkeit, die auf besatzungsrechtlicher Grundlage erfolgten Enteignungen rückgängig zu machen. Stattdessen sollte das gesamtdeutsche Parlament über entsprechende Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen entscheiden. Für die nach 1949 unter dem SED-Regime erfolgten Enteignungen wünschte die Bundesregierung unter Berufung auf den Schutz des Eigentums im Grundgesetz eine Regelung nach dem Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“. Seitens der SPD wurde in der Endphase der Verhandlungen hingegen gefordert, auch das nach 1949 enteignete Vermögen nicht zurückzugeben und die früheren Eigentümer stattdessen mit der Zubilligung von Entschädigungsansprüchen abzufinden – eine Forderung, die seitens der DDR-Unterhändler übernommen wurde. Auf der anderen Seite gab es Kritik aus den Reihen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die wiederum den generellen Verzicht auf Restitution der unter sowjetischer Besatzungsherrschaft erfolgten Enteignungen als inakzeptabel betrachtete. Die Bundesregierung stand vor dem Dilemma, einerseits Rechtsbrüche aus 45 Jahren kommunistischer Herrschaft wiedergutmachen, andererseits aber denjenigen, die in dieser Zeit aus gutem Glauben Nutzungs- und Eigentumsrechte erworben haben, nicht neues Unrecht zufügen zu wollen. Man einigte sich schließlich darauf, für nach 1949 enteigneten Besitz grundsätzlich am Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ festzuhalten, zugleich aber beim Vorliegen eines Investitionszweckes auch Ausnahmeregelungen zuzulassen. Näheres sollte ein später zu beschließendes Gesetz regeln.
In den frühen Morgenstunden des 31. August konnte schließlich der Einigungsvertrag paraphiert und nach Zustimmung durch das Bundeskabinett und den Ministerrat um 13:00 Uhr von Wolfgang Schäuble und Günther Krause im Kronprinzenpalais in Berlin unterschrieben werden. Nach einigen Nachverhandlungen, die u. a. die Problematik der Stasi-Akten betrafen, stimmten der Deutsche Bundestag und die Volkskammer am 20. September und am nächsten Tag auch der Bundesrat dem Einigungsvertrag zu. Er trat am 29. September in Kraft. Damit war das Ende der DDR besiegelt. Die Regierung der DDR unterrichtete die Bundesregierung darüber offiziell in einer Note vom 1. Oktober. Durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hatten sich mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 „beide deutschen Staaten zu einem souveränen Staat vereinigt“.
Zwei grundverschiedene Phasen kennzeichnen die Sozialpolitik der Ära Kohl. 1982 bis 1990 stehen die Konsolidierung der Sozialfinanzen und Ansätze institutioneller Reformen im Zentrum. 1990 bis 1998 dominieren die Wiedervereinigung, Fragen des Wirtschafts- und Euro-Standorts Deutschland und die Einführung der Pflegeversicherung die Sozialpolitik. Die Lehre der reformpolitischen Gelegenheiten und die Theorie des „Mittleren Weges“ erklären einen Gutteil der Sozialpolitik in der Ära Kohl.
Die deutsch-französischen Beziehungen gestalteten sich während der Ära Kohl nicht immer einfach. Vor allem während der deutschen Wiedervereinigung liefen Bonn und Paris nicht im gleichen Takt. Das Vertrauensverhältnis, das Kohl zu den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac aufbaute, war hingegen Grundlage dafür, dass das deutsch-französische Tandem den europäischen Integrationsprozess wiederbeleben und vorantreiben konnte.
25 Jahre lang prägte Helmut Kohl als Vorsitzender die CDU. Als Vertreter einer neuen Politikergeneration gestaltete er den Wandel von der Honoratioren- zur Mitgliederpartei. Dabei war seine Amtszeit von sehr verschiedenen politischen Konstellationen geprägt.
Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl zerfällt in zwei Phasen: Die Zeit zwischen 1982 und 1989/90 war nach der erfolgreichen Haushaltskonsolidierung durch moderate Reformen gekennzeichnet. Nach der Wiedervereinigung begegnete die Bundesregierung den teilweise gravierenden wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Problemen mit weitreichenden Maßnahmen.
Helmut Kohl war sich der Bedeutung der Vereinigten Staaten für die Sicherheit der Bundesrepublik stets bewusst. Umso mehr war er bemüht, ein belastbares Vertrauensverhältnis zu den Präsidenten Ronald Reagan, George H. W. Bush und Bill Clinton aufzubauen, was ihm auch gelang. Damit schuf Kohl die Grundlage für die Unterstützung der Amerikaner im deutschen Wiedervereinigungsprozess.
Mit Beginn der Ära Kohl entwickelte sich die Bundesrepublik zu einem Vorreiter in der Umweltpolitik. Nach 1990 stand hingegen die Bewältigung der Folgen der Deutschen Einheit im Fokus und die nationale Umweltpolitik verlor an Dynamik.