Horst Möller
Nach dem Ausscheiden aus dem Amt des Bundeskanzlers im Oktober 1998 hat Helmut Kohl weiterhin in vielfältiger Weise politisch gewirkt. Ein besonderes Anliegen war es ihm, die jungen Menschen für die europäische Einigung zu begeistern. Im Dezember 1998 wurde ihm der Titel „Ehrenbürger Europas“ verliehen. Überschattet wurden diese Jahre durch die Parteispendenaffäre 1999/2000 und den Freitod seiner ersten Ehefrau Hannelore 2001.
Als Helmut Kohl 1998 die Bundestagswahl verlor, hatte er 16 Jahre amtiert – länger als jeder andere Bundeskanzler vor ihm, neun Jahre länger auch als sein unmittelbarer Nachfolger Gerhard Schröder. Wie den meisten bedeutenden Staatsmännern – von Otto von Bismarck bis zu Konrad Adenauer, von Winston Churchill bis zu Charles de Gaulle – fiel ihm der Abschied aus dem Amt schwer, doch vollzog er ihn stilvoll. Zunächst blieb er noch Bundestagsabgeordneter, gab jedoch nach 26 Jahren den Vorsitz der CDU auf. Wie alle ehemaligen Bundeskanzler nahm er vor allem als Redner und Ratgeber im In- und Ausland zahlreiche politische Termine wahr.
Den Umzug von Bundestag und Bundesregierung in die alte deutsche Hauptstadt, den er selbst vehement betrieben hatte, erlebte er also nicht mehr in dem von ihm in Auftrag gegebenen neuen Bundeskanzleramt, sondern in seinem Abgeordnetenbüro Unter den Linden.
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Auch als Bundeskanzler a. D. warb Helmut Kohl unermüdlich für die europäische Idee und die Integration Europas. Noch 2014 veröffentlichte er einen Appell „Aus Sorge um Europa“. Die Entstehung der Europäischen Union, zu deren Weiterentwicklung er selbst so viel beigetragen hatte, betrachtete Kohl zu Recht als herausragende staatsmännische Leistung. Überdies beurteilte er sie als eine der großen Lehren aus der verheerenden Geschichte des 20. Jahrhunderts: In zwei Weltkriegen hatten sich europäische Nachbarvölker buchstäblich zerfleischt. Europa zu einen, bedeutete deshalb für Helmut Kohl stets ein Friedensprojekt. In diesem Projekt sah er die große Chance, die von ihm bejahte gemeinsame christliche und kulturelle Prägung sowie die ihr zugrundeliegende Wertorientierung politisch zu realisieren.
Ein zentrales Arbeitsfeld von Helmut Kohl bildeten seine „Erinnerungen“. Die Grundlage bildeten Protokolle über Gespräche, die er über sein Leben und seinen politischen Weg geführt hatte. Diese Texte wurden dann destilliert und redigiert, bevor er sie selbst bearbeitete.
Schon 1996 hatte Helmut Kohl unter dem Titel „Ich wollte Deutschlands Einheit“ einen Gesprächsband mit Kai Dieckmann und Ralf Georg Reuth über die Wiedervereinigung 1989/90 veröffentlicht. Handelte es sich hier um ein historisches Quellenwerk, so besaß der 2000 publizierte Band „Mein Tagebuch 1998–2000“ einen aktuellen Anlass. Es ging um eine schon länger zurückliegende, nun bekannt gewordene Parteispendenaffäre. Im Vorwort bekannte Kohl: „Ja, ich habe 2,1 Millionen DM Spendengelder an den Rechenschaftsberichten vorbei direkt für die Parteiarbeit eingesetzt und damit gegen das Parteiengesetz verstoßen. Diesen Fehler bedauere ich, und es tut mir sehr leid, meiner Partei dadurch auch politisch geschadet zu haben.“
Diese Parteispenden wurden zum Anlass einer politischen und persönlichen Kampagne gegen den Altkanzler, die sein Ansehen und sein herausragendes staatsmännisches Lebenswerk verdunkelte. Zweifellos hatte sich Kohl nicht persönlich bereichert. Parteispenden sind keineswegs rechtswidrig. Allerdings mussten bei Spenden über 20000 DM die Namen der Spender angegeben werden, was Kohl unterlassen hatte. Auch nach Bekanntwerden der Spenden nannte er keine Namen. Seine Begründung lautete: Er habe den Spendern sein Ehrenwort gegeben. Darüber kam es zum Zerwürfnis mit der neuen CDU-Führung. Kohl legte daraufhin 2000 den Ehrenvorsitz der CDU nieder, sein Verhältnis zu seinen Nachfolgern als Parteivorsitzende – Wolfgang Schäuble und Angela Merkel – blieb zerrüttet.
Kohl hatte die gespendeten Gelder beispielsweise an CDU-Landesverbände weitergegeben, wenn aktueller Bedarf bestand. Die Gesamtsumme der Spenden, verteilt über einen längeren Zeitraum, machte im Übrigen nur einen Bruchteil des jährlichen Haushalts der CDU aus. Die vom Bundestagspräsidenten verhängte (hohe) Strafzahlung für seine Partei glich Kohl durch eigene Mittel und Geldspenden von Freunden und Bekannten wieder aus. Im Rückblick wirkt die damalige heftige Debatte stark übertrieben.
Schließlich muss dieser Verstoß gegen das Parteiengesetz im Kontext seiner singulären politischen Lebensleistung bewertet werden. Trotzdem hat die öffentliche Diskussion mit partiell persönlichen Diffamierungen eine gerechte Bewertung beeinträchtigt. Auf diese Erfahrungen antwortete sein „Tagebuch“.
Eine wirkliche Fundgrube für Historiker bilden seine dreibändigen „Erinnerungen“, die von der Kindheit bis 1994 reichen und zwischen 2004 und 2007 veröffentlicht wurden. Das gewaltige Opus umfasst etwa 2600 Seiten.
Memoiren sind stets durch die persönliche Perspektive des Autors auf seinen Lebens- und Berufsweg geprägt. Das ist bei Politikern nicht anders. Naturgemäß geht es ihnen nicht zuletzt darum, die eigenen Leistungen zu schildern. Trotzdem gibt es erhebliche Unterschiede im Quellenwert, in den inhaltlichen Schwerpunkten, schließlich der Darstellungsweise: Memoiren können literarisch gestaltet sein, Reflexionen politischer Erfahrungen und die aus ihnen zu ziehenden Lehren enthalten oder aber nüchterne historische Erzählung und Analyse bieten.
In seinen „Erinnerungen“ beschreibt und interpretiert Helmut Kohl vor allem Ereignisse, Entwicklungen, Entscheidungsgründe der Politik, an denen er beteiligt war. Außer bei der Schilderung und Bewertung seiner Lebenserfahrungen handelt es sich also um eine groß angelegte historische Darstellung.
Seine „Erinnerungen“ haben einen enormen historischen Quellenwert. Sie bieten zahllose Detailinformationen, begründen seine Motive und politischen Entscheidungen. Als studierter Historiker betrachtet er sie stets in einer weiten geschichtlichen Perspektive. Besonderes Interesse verdient auch sein Panorama in- und ausländischer Politiker und Staatsmänner, seine Urteile über Personen, ‚Parteifreunde‘ und politische Gegner: Solche Bewertungen müssen nicht gerecht sein, um Aufschluss über das Verhältnis handelnder Politiker untereinander zu geben. Vielmehr würde eine Glättung den Quellenwert vermindern.
Bedeutende Einsichten ergeben Helmut Kohls „Erinnerungen“ nicht nur über politischen Entwicklung der Bundesrepublik insgesamt sowie der europäischen Dimension. Ebenso informativ handelt er über die parteigeschichtliche Entwicklung sowie situative und atmosphärische Aspekte.
Natürlich ersetzen „Erinnerungen“ keine geschichtswissenschaftlichen Werke, können für diese jedoch eine unentbehrliche Quelle sein: Dies gilt zweifellos für die ‚Erinnerungen‘ Helmut Kohls.
Die letzten Lebensjahre Helmut Kohls waren von bitteren Erfahrungen in seinem privaten und politischen Leben geprägt. Der Tod seiner ersten Frau Hannelore 2001 traf ihn schwer, einige Jahre später führte ein Sturz zu schwersten Behinderungen. Der stets präsente „Oggersheimer Riese“ blieb bis zu seinem Lebensende an den Rollstuhl gefesselt, musste mehrere Operationen und lange Krankenhausaufenthalte über sich ergehen lassen. Gegen die unberechtigten, zum Teil infamen Schmähungen seines Lebenswerks konnte er sich nicht mehr machtvoll zur Wehr setzen, wie er es sein Leben lang gewohnt war – selbst nicht zimperlich, aber stets durchsetzungsstark für seine politischen Überzeugungen und seine Positionen kämpfend. Von seltenen mühsamen öffentlichen Auftritten abgesehen, lebte er in seinem Oggersheimer Haus. Er gab noch kürzere Stellungnahmen ab und veröffentlichte den einen oder anderen Text, meist zur Europapolitik. Den vierten Band seiner „Erinnerungen“ konnte er leider nicht mehr fertigstellen.
Hinzu kam eine unerquickliche juristische Auseinandersetzung über die erwähnten Gesprächsprotokolle: Der Journalist Heribert Schwan, mit dem Helmut Kohl einen Vertrag über die Redaktion der Gespräche und Protokolle abgeschlossen hatte, veröffentlichte ohne Genehmigung Kohls ein Buch mit Texten und Passagen aus den Protokollen. Zweifellos ein massiver Verstoß gegen das Urheberrecht und ein Vertrauensbruch. Schwan weigerte sich im Übrigen, die Mitschriften von Kohls Gesprächen herauszugeben.
Helmut Kohls zweite Frau (seit 2008), Dr. Maike Kohl-Richter, war ihm in diesen schweren Jahren bis zu seinem Tod in jeder Hinsicht eine unentbehrliche Unterstützung. Helmut Kohl starb im Alter von 87 Jahren am 16. Juni 2017. Er wurde auf dem Alten Friedhof neben dem von ihm so bewunderten Dom zu Speyer am 1. Juli 2017 beigesetzt.
In einer feierlichen Zeremonie in Straßburg würdigten unter anderen Bundeskanzlerin Angela Merkel, Staatspräsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionpräsident Jean-Claude Junker Helmut Kohl als herausragenden europäischen Staatsmann. Ohne jeden Zweifel hat Helmut Kohl das heutige Europa durch den Dreiklang von Wiedervereinigung 1989/90, die europäische Integration und die friedliche Neuordnung Europas in den 1990er Jahren maßgeblich mitgestaltet.
Am 2. Dezember 1976 gab Helmut Kohl sein Amt als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz auf und trat als Oppositionsführer an die Spitze der stärksten Fraktion im Deutschen Bundestag. Nicht nur harte Auseinandersetzungen mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, sondern auch Machtkämpfe zwischen den beiden Schwesterparteien CDU und CSU bestimmten die kommenden Jahre.
Helmut Kohl hat in seinen Regierungsjahren von 1982 bis 1998 die Bundesrepublik Deutschland so nachhaltig verändert wie vor ihm nur Konrad Adenauer. Standen in den 1980er Jahren die Sanierung der Staatsfinanzen und innenpolitische Reformen im Mittelpunkt, konzentrierte sich die Regierungsarbeit nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 auf die Vollendung der Deutschen Einheit und den „Aufbau Ost“.